40
Der Tag war gekommen,
dachte Lazar.
Der Tag der Tage.
Die Großmeister und Ritter, die Chevaliers, und die Erzengel waren aus allen Teilen des Landes gekommen, um sich zu denen zu gesellen, die bereits hier waren. Das Château war nun gefüllt mit Männern und Frauen, die zum Kreuzzug aufbrechen würden, und er, Dr. Ion Lazar, würde sie darauf einschwören. Er hatte allen Angestellten freigegeben, damit nichts die Rituale stören konnte.
Keiner, dachte Lazar, würde ihn jetzt noch aufhalten.
Niemand.
Er trug eine weiße Kutte mit dem Aufdruck des roten Tatzenkreuzes der Templer. Es war mehr ein symbolisches Zeichen, denn er sah die Verbindung nicht in direkter Nachfolge jener Templerorden, die es bereits gegeben hatte oder anderswo gab. Er war nicht mit ihnen vernetzt. Nein, seine Gruppe, seine Armee war einzigartig und die Überzeugung und Religion, der sie folgte, eine Mischung aus dem Besten aller Strömungen. Lazar hatte einen vollkommen neuen Weg geformt – und rund fünfzig Menschen würden ihm und den anderen Auserwählten bedingungslos folgen. Dennoch hatte die Bewegung ein Symbol benötigt. Und da war das Tatzenkreuz einfach naheliegend gewesen.
Die fünf Großmeister standen neben ihm an dem runden Tisch im Tempelsaal, der dem Tisch der Tafelrunde von Artus nachempfunden war – zumindest so gestaltet, wie man sich einen solchen Tisch in Camelot vorstellen würde: aus feinstem Wurzelholz gefertigt und mit Intarsien versehen, die Symbole und Zeichen der Bruderschaft darstellten und im Zentrum den Tempelberg von Jerusalem. Fünf Schwerter lagen auf dem Tisch – jedes mit dem Griff zu den Großmeistern ausgerichtet, während Lazar seines in der Hand hielt, die Spitze zur Decke gerichtet. Bis auf die anderen
Großmeister war der Saal leer. Sie würden gleich von hier aus gemeinsam zum großen Saal gehen, wo der Rest der Armee auf sie wartete.
»Ihr«, sagte Lazar, »seid die Erzengel. Ihr werdet mit flammendem Schwert ausziehen und die Saat säen. Ihr werdet aufsteigen zu den großen Meistern der Vergangenheit und mit ihnen richten und neu gestalten.«
Die anderen schwiegen, blickten Lazar an. Alle trugen wie er weiße Kutten mit dem roten Tatzenkreuz. Im früheren Leben waren sie bedeutungsvolle Personen gewesen. Da war Marcel Degand, ein kleiner dunkelhaariger Mann mit Bart, der eine Privatbank geführt hatte, bis er sich aus der Teilhaberschaft kaufen ließ, um all sein Streben und Vermögen dem Orden und seinem persönlichen Aufstieg zum Großmeister zu widmen. Neben ihm stand Charlotte Sautel, die Professorin für Philosophie in Paris gewesen war, aber erst in dem Orden ihre wahre Bestimmung fand und fortan ihr Leben und Vermögen diesem widmete. Lazar direkt gegenüber stand Denis Riquier, ein schlanker Mann mit ernstem Blick und schütterem Haar. Er war Geschäftsführer einer großen Textilfirma gewesen und hatte auf der Suche nach den wahren Werten Lazars Orden entdeckt. Gleiches galt für Thierry Rigaud neben ihm – ein dunkelhäutiger Mann mittleren Alters, der drei Nobelhotels auf den französischen Karibikinseln geleitet hatte. Und schließlich, rechts neben Lazar, der frühere Staatssekretär im Innenministerium Francis Lion, der für Lazar einer der wichtigsten Großmeister war, weil er mit seinen politischen Verbindungen für wichtige Informationen sorgte und wusste, welche Strippen man ziehen musste, um Dinge zu erreichen und um andere Dinge im Geheimen zu belassen. Abgesehen davon war er sehr wohlhabend und unbedingt willens gewesen, sein Geld für den persönlichen Aufstieg in der Bruderschaft erfolgreich einzusetzen.
All diese Menschen aus der gehobenen Gesellschaft – sie waren wie Wachs in Lazars Händen. Er hatte sie geformt, und auch nach all den Jahren, das musste Lazar zugeben, war es immer noch ein großartiges Gefühl, über eine solche Macht zu verfügen. Denn die übrigen Ritter, die auf die Großmeister warteten, waren nicht minder bedeutende und wohlhabende Personen. Und ja, man
konnte durchaus sagen, dass diese Gefolgschaft Lazars Ego beflügelt hatte. Hatte er in den Anfangsjahren manchmal noch Zweifel an seiner eigenen Überzeugung und seiner Idee von dem Orden gehabt, so waren diese verflogen, je mehr Menschen ihm folgten und an ihn glaubten. Ihr Glaube stärkte Lazars eigenen Glauben – und nun war er unerschütterlich.
Der Gong einer Standuhr schlug. Das bedeutete, dass die Handvoll von Angestellten nun das Gebäude verlassen würde. Sie hatten sich in der Küche um die Vorbereitungen für das Festmahl gekümmert und alles zubereitet, was der Caterer angeliefert hatte. Das Mahl würde den großen Transit der Ritterschaft einleiten, während die Erzengel ausziehen würden, um ihre Pflicht zu erfüllen.
Lazar hatte keinen Zweifel daran, dass die Handvoll Küchenpersonal innerhalb kürzester Zeit verschwinden würde – die Leute wollten fraglos rasch ins lange Wochenende. Und schon hörte er von draußen, wie ein Motor gestartet wurde.
»Es ist Zeit«, sagte er und wandte sich zur Tür.
Die Großmeister ergriffen ihre Schwerter, um sie wie Lazar mit der Spitze Richtung Decke zu tragen. Sie reihten sich hinter ihm ein.
Schließlich setzten sich alle in einer Prozession in Bewegung, um zum großen Saal zu ziehen, wo die Gefolgschaft sie zum letzten Ritual in Empfang nehmen würde.