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Albin inspizierte das Gewölbe, das nach seiner Einschätzung etwa zehn Meter lang und fünf Meter breit war. Das Licht vom Handy reichte nicht aus, um den kompletten Raum zu erleuchten. Aber es war besser als nichts.
Es roch nach einer Mischung aus Keller und Waschmitteln, die Luft war feucht. Albin bewegte sich in das Gewölbe hinein und ließ den Lichtstrahl die Wände und Regale abtasten, auch den Fußboden. Er hatte es gerade bis zur Mitte geschafft, als er ein Geräusch hörte. Stimmen von draußen, Schritte – und dann das metallische Knirschen eines Schlüssels, der die Tür von außen verriegelte. Die Köchin … Verdammt, jetzt war er hier drinnen eingeschlossen!
Er verhielt sich mucksmäuschenstill, verharrte ein paar Minuten in der Bewegung, die Taschenlampen-App hatte er ausgeschaltet. Seine Sinne passten sich an die Umgebung an. Auch in der Dunkelheit konnte er dunkelgraue Schatten erkennen – ein wenig Licht fiel durch den Türschlitz von draußen und weiteres Licht aus Richtung der Treppe, über die man ins obere Stockwerk gelangen würde. Er hörte sich selbst atmen. Seinen eigenen Herzschlag. Das Rascheln seiner Kleidung. Und … war da nicht ein gedämpftes Murmeln von oben zu hören? Stimmen? Schließlich leise das Geräusch von Motoren. Autos verließen den Hof – sicherlich die Angestellten, die jetzt Schluss machten.
Albin verharrte eine weitere Minute, bis er keine Geräusche mehr von draußen vernahm. Dann stellte er die Taschenlampe wieder ein.
Die Regale und Wäschewagen gaben nichts her – was hatte er auch erwartet? Er betrat den Weinkeller, suchte hier alles ab. Ihm fiel nichts auf, das er nicht zuvor schon gesehen hatte. Dann ging er quer durch das Gewölbe hin zu der neuen, massiven Tür. Albin ruckte am Griff. Natürlich tat sich nichts. Also nahm er seinen Schlüsselbund aus der Jacke, an dem sich ein kleines Multifunktionswerkzeug befand: ein Dietrich.
Als Polizist durfte man natürlich keine Türen einfach so öffnen. Man musste einen Schlüsseldienst kommen lassen und alle möglichen Papiere ausfüllen und Anträge stellen. Aber manchmal musste es eben doch sein und außerdem schnell gehen, weswegen Albin den Dietrich immer bei sich trug. Seit vielen Jahren schon. Etienne Gaspard, der Einbrecherkönig, hatte Albin in die Feinheiten des Knackens von Schlössern eingeweiht. Einerseits, weil er ein Angeber war, andererseits hatte er sich wohl Hafterleichterung versprochen.
So hatte Albin alles Wichtige über die unterschiedlichen Schlosstypen erfahren und wie man sie am besten anging. Eine Weile hatte Albin es sich zum Zeitvertreib gemacht, Schlösser zu knacken. Er hatte immer welche in der Schreibtischschublade liegen, und wenn er nachdenken musste oder lange telefonieren, klemmte er sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr, holte ein Schloss heraus und setzte den Dietrich an – so, wie andere Leute beim Telefonieren die Schreibtischunterlage vollkritzelten. In seinen besten Zeiten brauchte er für ein Schloss zwei Minuten. Der Dietrich war ihm häufig zupassgekommen – das letzte Mal war gar nicht lange her, erst ein paar Monate.
Albin steckte das Smartphone in die Brusttasche seiner Daunenjacke, so dass die Lampe das Licht auf das Schloss warf. Er bückte sich etwas, inspizierte es und setzte schließlich den Dietrich an. Er stocherte eine Weile in der Schlossöffnung herum, spürte Widerstände in der Mechanik, begriff Schritt für Schritt den Aufbau des Schlosses. Er setzte erneut an, dieses Mal gezielter – und dann sprang das Schloss auf. Etwa vier Minuten, schätzte er. Gar nicht schlecht.
Albin hatte keine Ahnung, was ihn in dem Raum erwarten würde. Und tatsächlich sah er dort nichts sonderlich Spektakuläres. Ein vollgestellter Kellerraum wie jeder andere auch. Hier schienen Gegenstände aus dem Château zu lagern, die man nicht mehr brauchte, sowie verschiedene Kanister, die wahrscheinlich Putzmittel oder Farben enthielten – was für den Betrieb und die Unterhaltung eines solchen Hauses eben nötig war. In der Mitte befand sich eine hölzerne Klappe im Boden, die wohl noch ein Stockwerk tiefer führen würde. Erneut glitt er mit der Handylampe über die Regale, sah am Boden fünf Feuerlöscher stehen, daneben einen Wäschekorb mit …
Albin sah genauer hin.
Bückte sich, griff mit der Hand hinein. Gasmasken? Vielleicht solche, die man sich als Atemschutz über das Gesicht zog, wenn man etwas lackierte? Nein, dachte er, das sah verdammt noch mal aus wie waschechte Gasmasken. Feuerlöscher und Gasmasken. Was, zum Teufel, sollte das bedeuten?, fragte sich Albin.
Er richtete sich wieder auf, sah sich nochmals die Regale und die Kanister an. Es waren große Kunststoffgefäße, die mindestens zehn Liter fassten – von was auch immer. Darauf befanden sich symbolische Warnaufdrucke. Aber Albin hatte keinen Schimmer, wofür und was sich genau in den Kanistern befand, denn sie waren mit ziemlich alt aussehenden kyrillischen Schriftzeichen bedruckt. Zur Sicherheit machte er ein paar Fotos mit dem Handy.
Albins Instinkt sagte ihm, dass hier in der Tat etwas ganz gewaltig nicht in Ordnung war. Er drehte sich um, betrachtete die Luke im Boden. Er ging dorthin und anschließend in die Hocke. Er umfasste einen rostigen Griff und zog die Luke nach oben. Sie öffnete sich mit einem schrillen Quietschen. Er sah eine kleine Holztreppe, die nach unten führte. Nur drei Stufen. Die Öffnung unter der Luke war flach, allenfalls eineinhalb Meter hoch. Schwer zu sagen, wofür der Raum früher gebraucht worden war, vielleicht zum Lagern von Kohlen. Jetzt allerdings war dort nichts dergleichen verstaut. Vielmehr schlug Albin ein ölig-metallischer Geruch entgegen. Er sah einige Holzkisten, die olivgrün gestrichen und wie die Kanister mit kyrillischer Schrift bedruckt waren.
Albin ging die drei Stufen hinab und duckte sich. Vor ihm befand sich eine ganze Reihe von Kisten. Etwa zehn mochten hier verstaut sein. Sein Unbehagen wuchs mit jedem Atemzug. Er beugte sich vor, öffnete die Schnappverschlüsse von einem der Behälter, klappte ihn auf und sah dickes Wachspapier. Er hob es an – und hatte keinen Zweifel an dem, was sich darunter befand.
Es handelte sich um Schnellfeuergewehre, der typischen Silhouette nach zu urteilen vom Typ Kalaschnikow und damit aus russischer oder ehemals sowjetischer Produktion.
»Verdammt«, flüsterte Albin atemlos.
Schnell machte er weitere Fotos, schließlich verriegelte er die Kiste wieder. Dann stieg er die Stufen hinauf, schloss die Bodenklappe vorsichtig und so leise wie möglich – und erstarrte in der Bewegung, als er von oben her sehr merkwürdige Geräusche hörte. Es klang, als scharrten hundert Füße auf einmal über den Boden, dann ertönten Gesänge, murmelnde Gebete, ekstatische Rufe.
Zum Teufel, was war da in dem Raum los, der sich direkt über ihm befinden musste?
Albin verließ den Keller. Er verzichtete darauf, mit dem Dietrich wieder abzuschließen, und bewegte sich durch das Gewölbe zur Treppe, die in das obere Stockwerk führte.
Und ging hinauf.