42
Die Tür am Ende der Treppe, die in einen Flur mündete, war zum Glück nicht verschlossen. Albin öffnete sie leise und schlich über den Flur, folgte den Geräuschen und Stimmen. Sie wurden mit jedem Schritt deutlicher. Er blickte sich immer wieder um, versicherte sich, dass er allein war. Falls jemand kommen würde, wäre er geliefert.
Schließlich sah er eine Flügeltür. Sie war verschlossen. Dahinter schien sich ein Saal zu befinden, in dem eine Versammlung stattfand. Und im Gegensatz zu vorher war es jetzt relativ still geworden.
Albin trat näher an die Tür heran. Sie war alt, etwas verzogen. Licht fiel durch einen Schlitz. Er trat noch näher heran, schob den Kopf nach vorne. Der Schlitz war etwa so breit wie sein kleiner Finger. Er konnte hindurchschauen. Was er dann auch tat.
Hinter der Flügeltür befand sich ein großer Saal. Er war mit rotem Teppich ausgelegt. In der Mitte standen zwei lange Tafeln, die mit Tellern und Gläsern bestückt waren. Aber niemand saß am Tisch. Alle standen hinter ihren Stühlen, sicherlich an die fünfzig Personen. Albin traute seinen Augen kaum: Alle trugen weiße Kutten mit roten Kreuzen auf der Brust. Sie wirkten wie die Überwürfe, die Kreuzritter über ihren Rüstungen anhatten. Vor der Tafel standen sechs Personen mit Schwertern in der Hand. Einer von ihnen war Dr. Ion Lazar, kein Zweifel.
Er trat nun vor. Lazar fing an zu reden, sprach weihevoll, aber kräftig. Alle im Raum schienen an seinen Lippen zu hängen, als sei er gerade von einem Berg herabgestiegen und würde die Zehn Gebote verkünden.
»Die Pauperes commilitones Christi templique Salomonici«, sagte Lazar mit vor Ergriffenheit bebender Stimme, »die arme Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels, sind zum Zwecke neu geschaffen worden, um den Interessen aller Völker Europas zu dienen und gemeinsam gegen den europäischen Dschihad zu kämpfen. Wir alle wissen, dass dieser Dschihad seit vielen Jahrhunderten andauert, mal stärker, mal weniger ausgeprägt, doch stets vorhanden ist. Die Templer haben zu allen Zeiten die Gläubigen vor dem Islam geschützt und sind gegen ihn zu Felde gezogen – als ein Orden, der die Ideale des adligen Rittertums mit denen des Mönchtums vereinte, zweier Stände, die bis dahin streng getrennt waren. Und genauso werden wir gegen den Dschihad kämpfen – als Ritter und als geistige Führer – jedoch unter anderen Vorzeichen. Wir kämpfen dieses Mal nicht gegen den Islam. Wir kämpfen für den Schutz aller Menschen. Doch dazu müssen wir ein Weltenfeuer entfachen, den Heiligen Krieg neu entzünden und die alten Fronten aufeinanderschleudern, um sie ein für alle Mal zu vernichten und aufzulösen. Wir werden einen Flächenbrand entfachen, aus dem ein neues Europa entstehen kann, das frei sein wird von allem Machtstreben, das allen Schutz bietet, die ihn benötigen – doch dazu muss das Alte ausradiert werden.«
Meine Güte, dachte Albin. Was redete der für ein wirres Zeug? Und es protestierte niemand. Im Gegenteil. Gerade hoben alle die Hände, die rechte zur Faust geballt. »So sei es«, riefen sie mit einer Stimme.
Lazar fuhr fort.
»Wie ihr wisst, ist die Volksgemeinschaft der Banater aus dem Kampf gegen den Islam und das Osmanische Reich entstanden. Die Siedler waren gekommen, um ein Bollwerk gegen die Türken zu errichten. Das Ziel hat sie zusammengeschweißt – und dieses neue Volk der Banater existiert weiter, bis heute, und verbreitet sich überall in Europa, nachdem ihm der ursprüngliche Raum genommen wurde. Das zeigt, dass ein Zusammenrücken in Europa möglich ist, sobald sich die Notwendigkeit ergibt. Und es zeigt, dass ein aus vielen Völkern neu entstandenes Volk die Kraft zum Überdauern hat. Ihr habt gesehen, wie schnell der Funke in der arabischen Welt übersprang, wie kraftvoll und mächtig der Islamische Staat in kürzester Zeit geworden ist, dass es einiger Großmächte bedurfte, um ihn zu bekämpfen. So wird es auch in Europa geschehen, wenn wir ihm neue Hoffnung und einen neuen Geist schenken.
Wir folgen einem göttlichen Auftrag. Gott hat uns als Ritter auserwählt, doch da wir zu wenige im Kampf gegen alle sind, werden wir das Zünglein an der Waage bilden, werden die Lunte an der Bombe entzünden, die das reinigende Feuer entfachen wird, aus dem wir als geistige Führer wie Phönix aus der Asche emporsteigen werden. Wir nutzen die großen Armeen dieser Welt als unsere eigene. Die Endzeit, meine Freunde, ist gekommen. Das Armageddon ist da. Wir werden gegen den Terror zu Felde ziehen, den Terror von links, den Terror von rechts, den Terror des Islam sowie den christlichen und jüdischen Terror. Wir werden ihn in noch größerem Terror ersticken, Feuer mit Feuer bekämpfen, auf den glühenden Trümmern wandeln und neues Leben säen! Wir betreten die höhere Sphäre unserer Großmeister Moses und Jesus und Josua, die aufgestiegen sind zum Sirius. Wir werden die sterblichen Hüllen zurücklassen, die Transformation und den Transit vollziehen und mit den Weisen zurückkehren, wie es in der Vorsehung bestimmt ist, um die neue Menschheit zu formen!«
Ach du Scheiße, dachte Albin.
Du liebe Zeit.
Die waren komplett durchgeknallt.
Und zwar völlig.
Allerdings waren Durchgeknallte mit einer Ideologie, einem Ziel, einem charismatischen Führer und jeder Menge Waffen stets eine außerordentlich ernstzunehmende Angelegenheit. Das, da war sich Albin sicher, lag hier nicht anders. Nach Lazars Worten war vollkommen klar, dass die Kuttenträger Terroranschläge planten, um ihre irren Ziele zu verfolgen. Und wenn Lazar von Dschihad redete und davon, die Fronten aufeinanderzuschleudern und einen Flächenbrand zu entfachen, konnte das nur bedeuten, dass sie die Anschläge dem jeweils anderen in die Schuhe schieben würden – zum Beispiel Anschläge gegen Moscheen irgendwelchen christlichen oder rechten Gruppierungen, oder sie würden für Anschläge gegen christliche Gruppen Islamisten verantwortlich machen.
Da Lazar genau jetzt zuschlagen wollte, Weihnachten ein christliches Fest und die ganze Zeit von Europa die Rede war, blieb eigentlich nur die letzte Variante übrig: Sie planten einen Anschlag, für den sie dann islamistische Terroristen verantwortlich machen würden. Und dann, dachte Albin, würden sich die Neotempler rund um Lazar vermutlich alle die Kugel geben – in der Annahme, anschließend auf dem Sirius herumzuwandeln.
Lazars Armee hatte ganz offensichtlich brandgefährliche Pläne, und er selbst war vom Größenwahn gepackt. Was auch immer er und seine Gruppe vorhatten, fest stand: Der Mann und seine Ritter mussten aufgehalten werden, und zwar so schnell und effektiv wie möglich, bevor irgendjemand zu Schaden kam.
»Möge es beginnen! Ihr werdet Augenzeugen sein und uns leiten!«, rief Lazar.
Und damit setzten sich die Schwertträger unter seiner Führung in Bewegung.
Verdammt, sie kamen direkt auf die Flügeltür zu, hinter der Albin sich versteckte.