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Albin lief los,
den Flur zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Er bog nach links ab und hastete durch die Kellertür die Treppe hinab, denn er nahm nicht an, dass sie dorthin gehen würden, um zum Beispiel etwas von dem Wein zu holen, den er eben angeliefert hatte. Nein, die hatten etwas anderes vor.
Am Ende der Treppe blieb er stehen, lauschte. Er hörte Schritte auf dem Flur, die sich näherten. Er musste unbedingt Castel anrufen, dachte er. Sobald es möglich wäre, müsste er Alarm schlagen und …
Jetzt hörte er, wie die Tür sich öffnete. Verflucht, die kamen doch in den Keller! Albin überlegte hastig, wo er sich hier am besten verstecken könnte. Quer durchs Gewölbe zum Ausgang hin konnte er nicht mehr laufen.
Ihm fiel nur eine brauchbare Möglichkeit ein.
Mit drei großen Schritten gelangte er in den Raum mit den Kanistern und den Feuerlöschern, zog die Tür rasch wieder zu. Er bewegte sich in die Mitte des Kellers, hob die Bodenklappe an, ging die drei Stufen hinab. Dann schloss er die Klappe so leise wie möglich über sich und kauerte sich auf den Boden. Sein Herz raste.
Mit dem Pulsschlag wurde es kein Stück besser, als sich die Schritte näherten. Die Tür zu dem Kellerraum wurde geöffnet, und er hörte Stimmen nun direkt über sich. Licht fiel durch die Schlitze im Holz. Es gab ein dumpfes Geräusch, als sich jemand genau auf die Bodenklappe stellte. Sie bog sich leicht durch, Staub rieselte herab.
Jetzt war Albin gefangen wie eine Ratte.
Er erkannte Lazars Stimme. »Warum war die Tür schon wieder offen?«
»Ich weiß nicht«, sagte eine andere Stimme.
Albin hörte Ratschen, Metall auf Stein. Schwere Gegenstände wurden aus dem Regal genommen und abgestellt.
»Verdammt!«, bellte Lazar. »Ich begreife es einfach nicht.
Warum war die Tür geöffnet? War jemand hier drin, um etwas zu holen? Wozu und wer?«
»Ich weiß es nicht, Großmeister«, sagte eine dritte Stimme.
»Irgendwer muss doch …« Lazar keuchte. Er klang gestresst. Außer sich.
»Vielleicht das Küchenpersonal?«
»Die haben keinen Schlüssel«, knurrte Lazar. »Genau vier Personen haben einen Schlüssel! Und ich habe angewiesen, dass die Tür stets abgeschlossen ist, nachdem dieses Wäschereimädchen hier hereinmarschiert ist und gesehen hat, was sie nicht sehen durfte! Wegen ihr ist fast alles aus dem Ruder gelaufen, verdammt, und deswegen, weil Florin sich wie ein Trottel benommen und mit der Leiche verrückte Dinge angestellt hat, statt zu tun, was ich ihm aufgetragen habe!«
Albin hörte zu. Einige Zahnräder in seinem Kopf rasteten ein. Der Staub kitzelte ihm in der Nase.
Lazar schimpfte weiter. »Und das alles nur, weil diese Tür offen stand. Weil ihr, meine Erzengel, genau ihr, die verdammte Tür offen gelassen habt, als ihr zum Testlauf im Wald bei La Roque aufgebrochen seid. Deswegen konnte das Mädchen hier herein – und musste aus dem Weg geschafft werden, damit sie nicht redet. Es lag an euch, und wir können von Glück sagen, dass die Untersuchungen an den toten Kühen und den toten Vögeln nicht sehr genau ausfielen.«
»Die Vögel sind einfach vom Himmel gefallen«, sagte eine tiefe Männerstimme. »Die Kühe waren ein Kollateralschaden. Der Wind …«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte Lazar.
»Und Florin?«, fragte eine weibliche Stimme.
Wieder Lazars Stimme, angestrengt, als ob er etwas hochhob: »Er wurde auserwählt, als Erster die Transgression anzutreten und unser Wegbereiter in der höheren Sphäre zu sein. Er hätte niemals einem Polizeiverhör standgehalten und Dinge ausgeplaudert, die den heiligen Plan gefährdet hätten. Er hat einen Bekennerbrief geschrieben, und die Polizei hat sich damit zufrieden gezeigt.«
Deswegen, dachte Albin. Meine Güte, deswegen war Stéphanie Kaufmann umgebracht worden? Weil sie in diesem Raum zufällig
gesehen hatte, was Albin ebenfalls gesehen hatte? Deswegen war dieser Florin auf sie angesetzt worden, um sie umzubringen? Auf Lazars Geheiß? Damit sie nicht erzählen konnte, was sie hier gefunden hat? Und dieser Florin – mit dem ging es dann durch – und sein Selbstmord war fingiert, um auch ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Von Versuchen im Wald war die Rede … im Wald von La Roque, wo die auf unerklärliche Weise verendeten Tiere gefunden worden waren?
Albins Gedanken kreisten rasend schnell. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er bemühte sich, so flach wie möglich zu atmen. Wieder gab es dumpfe Erschütterungen über ihm, als die Leute auf der Bodenluke herumtrampelten. Wieder rieselte Staub herab, mitten in Albins Gesicht, und kitzelte noch viel kräftiger als zuvor in seiner Nase.
»Es ist mir unerklärlich«, sagte die Frauenstimme, »wie das mit der Tür geschehen konnte. Ich weiß nicht, wer hier unten war. Vielleicht war es Madeleine, deine Assistentin, Großmeister. Madeleine hat doch einen Schlüssel, oder?«
»Hat sie. Aber was sollte sie hier wollen? Spielt jetzt ohnehin keine Rolle mehr«, sagte Lazar und klang wieder ruhiger. »Was geschehen wird, wird so oder so geschehen, und zwar jetzt.«
Wieder wurde über Albin herumgeräumt. Der Staub in der Nase machte ihn fast wahnsinnig. Um Himmels willen, dachte Albin, bloß nicht niesen. Bloß nicht! Er kniff sich die Nase zu, die Augen ebenfalls, hielt erneut die Luft an.
Dann entfernten sich die Leute von der Bodenluke. Sie schienen irgendwelche Dinge aus dem Raum zu schleppen.
Albin wollte der Kopf platzen. Er dachte an alles Mögliche, um sich vom Niesen abzuhalten. Schlagartig wurde es wieder dunkel um ihn herum – kein Licht fiel mehr durch die Ritzen. Die Tür wurde geschlossen. Die Geräusche wurden leiser, entfernten sich. Schließlich wagte er wieder zu atmen. Es ging. Der Niesreiz ließ nach. Er gab sich noch einige Sekunden, nahm dann die Finger von der Nase und lauschte. Jetzt hörte er gar nichts mehr. Eine weitere Minute später beschloss er, dass er dieses Grab verlassen musste, um sich zu vergewissern, dass er nicht länger in Gefahr war.
Albin drückte die Luke vorsichtig an. Das metallische Geräusch der Scharniere erschien ihm überlaut. Er linste
durch den Spalt, sah aber nichts als Dunkelheit. Also presste er die Luke ganz nach oben. Als er wieder stand, nahm er das Handy und stellte die Taschenlampen-App ein. Sofort fiel ihm auf, dass einige der Kanister fehlten. Ebenfalls die Feuerlöscher und die Kiste mit den Masken.
Er bewegte sich zur Tür. Hoffentlich hatten Lazar und seine Irren sie nicht abgeschlossen. Albin hatte nichts dergleichen gehört, aber sicher konnte er nicht sein. Also probierte er, sie zu öffnen – und es gelang. Er schaute um die Ecke ins Gewölbe, wo er nichts sah außer einem Lichtschein, der von der nach oben zum Flur führenden Treppe fiel. Dann merkte er auf, als er meinte, die Geräusche von startenden Motoren zu hören. Autos fuhren vom Hof. Daraus schloss er, dass Lazar und seine Leute aufbrachen – aber wohin aufbrachen? Um was zu tun?
Nichts Gutes, so viel war klar.
Dann vernahm er wiederum Stimmengemurmel und das Scharren von Füßen aus dem Saal über sich. Die Leute dort schienen immer noch da zu sein. Was bedeutete, dass er sich nach wie vor mucksmäuschenstill verhalten musste, da er jederzeit entdeckt werden konnte.
Albin stellte die Taschenlampe aus. Er blieb in der offenen Tür stehen, ließ die Treppe zum Flur nicht aus den Augen. Sobald sich dort etwas bewegen würde, müsste er sich wieder verstecken. Aber es gab noch etwas, das er unbedingt tun musste.
Er rief Castels Nummer aus dem Telefonspeicher auf, wählte sie an und ließ es einige Male klingeln. Warum, zum Teufel, ging sie nicht dran? Er wollte gerade den Anruf beenden, um Therouxs Nummer zu wählen, da nahm sie das Gespräch schließlich doch entgegen.
»Castel«, flüsterte er. »Alarmstufe Rot.«
»Was? Wie? Albin? Wo stecken Sie, und warum flüstern Sie? Was …«
»Ich bin im Château du Soleil. Ich kann nicht lauter reden. Sperren Sie die Ohren auf.«
Und dann gab er ihr eine Zusammenfassung. Er erzählte von den Neotemplern, von der Versammlung und von dem, was er über Lazar erfahren hatte. Er ergänzte es, indem er von den
merkwürdigen Kanistern, den Feuerlöschern und den Gasmasken sowie den Kisten mit den Waffen erzählte.
»Stéphanie Kaufmann muss zufällig gesehen haben, was ich auch gesehen habe, Castel. Deswegen musste sie sterben. Weil man Angst hatte, dass sie es erzählt und Lazar und seine Verrückten auffliegen.«
»Aber ihr Mörder hat ein Geständnis abgelegt.«
»Vergessen Sie das, Castel. Ich habe es in Lazars eigenen Worten gehört, dass er diesen Florin beauftragt hat, Stéphanie aus dem Weg zu räumen. Und dann habe er Dinge mit der Leiche angestellt, die nicht auf dem Programm standen. Weswegen er ebenfalls aus dem Weg geräumt werden musste. Sein Selbstmord war fingiert. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Wichtiger ist, was diese Leute planen und dass sie den Keller voller Sturmgewehre haben. Erinnern Sie sich an die toten Tiere im Wald bei La Roque?«
»Ich – ich habe gerade keine Ahnung, ich …«
»Castel, diese Templer haben im Wald irgendwelche Versuche gemacht, wodurch die Tiere verendet sind. Ich habe ein verflucht schlechtes Gefühl.«
»Sie …«
»Reden Sie mir nicht dauernd dazwischen!«
»Tue ich doch gar nicht! Albin, Sie müssen …«
»Nein, Sie
müssen, Castel. Sie müssen eins und eins zusammenzählen! Denken Sie an Waco, Texas, und die apokalyptische Sekte, die bis an die Zähne bewaffnet waren und sich eine Schlacht mit der Polizei geliefert haben, um sich am Ende alle umzubringen. Denken Sie an Jim Jones und den Massenselbstmord seiner Anhänger im Dschungel von Guyana und an die Sonnentempler der Neunziger in Frankreich und ihre Morde und Selbstmorde und …«
»Albin! Das sind zu viele verrückte Informationen auf einmal. Beim besten Willen, Sie glauben nicht im Ernst, dass …«
»Castel! Hören Sie mir zu! Ich glaube nicht, ich bin mir sicher, dass gerade sechs Irre in Ritterkutten, die sich für die Reiter der Apokalypse halten, irgendwohin aufgebrochen sind, und ich glaube, dass sich im Château vier bis fünf Dutzend nicht minder Verrückte aufhalten, die auf ein paar Kisten voller Waffen sitzen! Ich schicke
Ihnen jetzt gleich ein paar Fotos aufs Handy, die Ihnen die Waffen zeigen werden sowie diese Kanister mit den kyrillischen Aufdrucken. Sie müssen herausfinden, was das ist und was die Leute mit den Feuerlöschern vorhaben! Sie bekommen außerdem Bilder von einigen Autos, die hier parken. Ich habe keine Ahnung, mit welchen davon Lazar und seine Leute aufgebrochen sind, aber geben Sie nach allen eine Fahndung heraus samt der Warnung, dass sie wahrscheinlich bewaffnet sind. Auf den Bildern sollten sie die Kennzeichen erkennen können. Senden Sie mir eine Nachricht, wenn Sie wissen, was in den Kanistern ist – und schicken Sie mir außerdem die Kavallerie hierher ins Château. Die sollen aber bloß nicht mit großem Alarm anrücken und die Leute in Panik versetzen. Die sollen leise sein. Hier stehen fünfzig oder mehr gegen einen. Und der eine bin leider ich.«
»Albin! Sie machen nichts Dummes!«
»Niemals.« Damit beendete er das Gespräch und schnitt Castel den nächsten Satz ab.
Er stellte das Telefon auf lautlos und sendete die angekündigten Fotos. Schließlich überlegte er, was er nun tun sollte. Bis Verstärkung anrückte, könnte es noch eine Viertelstunde dauern, vielleicht sogar länger. In dieser Zeit konnte viel passieren.
Zum Beispiel könnte sich eine weitere Gruppe der Templer in Bewegung setzen, um in den Keller zu kommen und sich ein paar Gewehre zu schnappen. Und dabei Albin entdecken.
Albin drehte sich um. Er schaltete die App an. Jetzt sah er eindeutig, dass die Kanister mit den kyrillischen Aufdrucken aus den Regalen fehlten, während andere mit Putz- und Bleichmittel noch dastanden. Er blickte zur offen stehenden Luke und den Stauraum, der eben sein Versteck gewesen war. Er ging die drei Stufen herab, öffnete die Waffenkiste, in die er vorhin schon einen Blick geworfen hatte.
Die Gewehre waren allesamt mit Magazinen ausgestattet. Albin nahm eine Kalaschnikow heraus. Das Gewehr war nicht zu schwer, aber auch nicht sehr leicht und wirkte gut ausbalanciert, das musste man sagen. Er betrachtete die Waffe, bewegte einen Hebel, worauf das Magazin aus der Arretierung glitt. Albin nahm es und steckte es sich in die Seitentasche. Er legte das Gewehr zurück und nahm ein
weiteres heraus. Der identische Typ, doch in diesem ließ er das Magazin stecken. Er suchte den Hebel zum Entsichern und bewegte ihn. Dann hakte er den Zeigefinger in einen weiteren Hebel an der Seite, um die Waffe durchzuladen und schussbereit zu machen.
Bevor ihr zu mir kommt, dachte Albin, komme ich zu euch.