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Castel stand mitten
auf dem Weihnachtsmarkt in Aix-en-Provence auf dem Cours Mirabeau. Dort reihte sich Holzbude an Holzbude. Gerade wurden die Lichterketten eingeschaltet, die wie feine Spinnweben die kahlen Pappeln schmückten.
Sie starrte das Telefon an und versuchte zu verarbeiten, was Albin ihr gerade erzählt hatte. Ihr Handy pingte einige Male. Bilder gingen ein. Sie schaute sie an. Ihr Mund stand offen, und sie hörte sich selbst »Oh Gott!« sagen.
Castel hatte eigentlich ins Reisebüro gehen, ein paar Süßigkeiten kaufen und Jean dann aus dem Museum abholen wollen, denn sie hatte sich den Nachmittag freigenommen und gedacht, sie könnte ihn mit ein paar Angeboten für Barcelona oder Cádiz überraschen, aber …
Aber jetzt?
Sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Menschen drängten an ihr vorbei. Überall roch es nach Gebratenem. An einem Stand, wo es Thüringer Bratwurst aus Deutschland gab, drängten sich die Kunden in Trauben. Stimmen, Musik, Geräusche vom Verkehr, alles addierte sich zu einem Summen in Castels Kopf, die immer wieder von Passanten angestoßen wurde. Bald würde es hier noch voller werden – mit Einbruch der Dunkelheit.
Schließlich schnappte sie nach Luft, blinzelte – und war wieder voll da. Es hatte keinen Sinn, über das nachzugrübeln, was Leclerc am Telefon berichtet hatte. Würde Leclerc dummes Zeug erzählen oder übertreiben? Nein.
Es gab keinen Zweifel, dass es stimmen musste. Er hatte in der Vergangenheit stets richtiggelegen und war auch dieses Mal seiner Intuition gefolgt, vom geraden Weg der Ermittlungen abgewichen und auf etwas ganz und gar Außergewöhnliches gestoßen. Etwas außergewöhnlich Gefährliches.
Castel musste in den Handlungsmodus schalten. Und tat es.
Sie trat einige Schritte hinter die schier endlose Reihe von Holzhütten des Weihnachtsmarktes und rief bei der Polizei in Carpentras an. Sie gab alle Informationen von Albin durch, sendete die Bilder und rief ins Telefon: »Hört auf mit euren Fragen! Ich weiß es auch nicht! Ja, es basiert nur auf der Aussage eines Mannes! Aber wir gehen mal davon aus, dass Leclerc recht hat, okay? Um den Rest kümmern wir uns später. Macht einfach! Schickt ein Kommando zum Château du Soleil! Es ist Gefahr im Verzug – da könnt ihr auf Durchsuchungsbefehle verzichten! Gebt Fahndungen nach den Autos heraus! Ja, nach allen – wir wissen im Moment nicht, welche davon fehlen. Und treibt jemanden auf, der die Aufdrucke auf den Kanistern lesen kann!«
Dann rief sie bei Staatsanwalt Luc Bonnieux an, gab ihm ebenfalls eine Zusammenfassung und schickte die Bilder von Leclerc.
»Was, zum Teufel …«, hörte sie ihn sagen. »Ich sitze hier am Schreibtisch und kümmere mich darum, dass der Mordfall Stéphanie Kaufmann abgeschlossen werden kann – und dann kommen Sie mir mit so etwas?«
»Ja.«
»Was, zur Hölle, treibt Leclerc im Château? Wie kommt dieser Verrückte zu den ganzen Vermutungen? Und wo sind die Belege, dass …«
»Er hat alles mitangehört. Außerdem hat er eine Kiste voller russischer Schnellfeuergewehre fotografiert, und da sind weitere Kisten zu erkennen. Außerdem hat dieser Dr. Lazar eine zweifelhafte Vergangenheit. Insgesamt sind das ausreichend …«
Bonnieux war außer sich. Seine Stimme überschlug sich. »Verdammt! Leclerc behauptet, dass wir es mit einer bis an die Zähne bewaffneten apokalyptischen Sekte zu tun haben, die Anschläge plant – und wo sind die Beweise? Wie kommt er dazu, sich ins Château einzuschleichen und Hausfriedensbruch zu begehen und …«
Ein Telefonat ging ein. Das Hauptquartier in Carpentras. »Moment bitte«, sagte Castel und drückte den schimpfenden Staatsanwalt mitten im Satz in die Warteschleife, um das andere Gespräch anzunehmen. Es war Zahir.
Er sagte: »Ich wusste mir nicht schneller zu helfen. Ich habe meinen Schwager angerufen. Er stammt aus Tripolis. Er hat in Kiew Agrartechnologie studiert. Er sagt, dass die Aufschriften Russisch sind und dass es rumänische Stempel auf den Etiketten gibt sowie Warnsymbole. Er sagt, es handelt sich um Gas. Chlorgas und Sarin. Das sind Kampfstoffe.«
Castels Augen weiteten sich. Sie fühlte sich wie schockgefroren. »Giftgas?«
»Sarin und Chlorgas wurden im Ersten Weltkrieg eingesetzt und später immer wieder von vielen Despoten. Beides ist tödlich und verursacht außerdem schwerste Verletzungen. Die Aum-Sekte hat bei einem Anschlag in der Tokioter U-Bahn Sarin freigesetzt, und …«
Sekte.
Das Wort gellte in Castels Ohren. Castel drückte Zahir weg und holte Bonnieux zurück in die Leitung, der immer noch über Leclerc schimpfte und dazwischen Castels Namen rief.
»Sie drücken mich weg?«, fauchte er. »Sie drücken mich einfach so weg, um …«
Sie sagte: »Es ist Giftgas.«
»Was?« Wieder überschlug sich Bonnieuxs Stimme.
»Die Etiketten auf den Kanistern besagen, dass sich Sarin und Chlorgas darin befinden.«
»Gott! Und damit sind diese Leute aufgebrochen?«
»Ja«, erwiderte Castel. »Genau.«
Bonnieux schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Sie setzen alle Hebel in Bewegung. Ich ebenfalls.« Dann beendete er das Gespräch.
Castel schwitzte und fror gleichzeitig. Ihre Hand zitterte, als sie Therouxs Nummer wählte. Er hatte heute Nachmittag ebenfalls frei und wollte in Avignon Weihnachtsgeschenke kaufen. Sie erreichte ihn in einem Spielzeuggeschäft und erzählte ihm, was los war.
»Ich … ähm …«, stammelte er. »Ernsthaft?«
»Ernsthaft.«
»Woher soll das Zeug kommen? Und die Waffen? Und was soll das alles …«
»Theroux, ich weiß es nicht. Das Gas und die Waffen könnten aus russischen Beständen stammen. Lazar war bei der rumänischen Armee. Er hatte womöglich Zugang oder alte Kontakte, Netzwerke. Keine Ahnung. Leclerc hat
Gasmasken fotografiert. Er hat gehört, wie sie von Anschlägen sprachen und einem apokalyptischen Weltende.«
»Die wollen das in Feuerlöscher füllen und setzen sich Gasmasken auf – und dann?«
An die Feuerlöscher hatte Castel noch gar nicht gedacht. Vor ihrem geistigen Auge erschien das Bild von in Kreuzritterkutten Gewandeten, die Gasmasken trugen, um ihre Feuerlöscher wie Rohrbomben zu platzieren und anschließend hochgehen zu lassen. Oder sie wie Flammenwerfer einzusetzen und aus den Schläuchen Giftgas zu sprühen.
Sie sagte: »Alain, ich weiß nicht, was sie planen. Aber du solltest so schnell wie möglich ins Büro und alles stehen und liegen lassen. Ich werde jetzt umgehend zu den Kollegen in Aix gehen und Alarm schlagen.«
»Und Albin?«
»Ist noch im Château.«
»Und was treibt er dort?«
Castel war übel.
»Ich hoffe«, sagte sie mit bebender Stimme, »nichts Dummes.«