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Lazar sah sich auf dem Platz vor dem Hôtel-Dieu um. Er wollte sich gerade am Rucksack zu schaffen machen und Degand mit einem Nicken bedeuten, dasselbe zu tun – die Gasmaske aus der Fronttasche holen, aufsetzen, den Schlauch vom Feuerlöscher herausziehen und »Allah ist groß!« rufen. Aber da war etwas, das ihn in der Bewegung innehalten ließ.
Lazar erkannte weitere Polizisten und private Sicherheitskräfte. Mehr, als er angenommen hatte. Die alleinige Anzahl war es aber nicht, was ihn beunruhigte. Alle wirkten sehr aufgeregt. Manche telefonierten. Er sah zwei Polizisten auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die mit Megaphonen aus einem Polizeitransporter herüberkamen. Er sah außerdem ein mit Mikrophonen ausgestattetes Sprecherpult, an dem ein verrückt aussehender Dompteur mit Weihnachtsmannmütze stand. Daneben befanden sich ein Polizist und ein Mann in der Uniform des kommunalen Ordnungsdienstes. Sie redeten aufgeregt mit dem Dompteur, der sehr besorgt zu sein schien. Lazar blickte nach links, nach rechts, dann zu Degand. Degand blickte ebenfalls besorgt. Hier stimmte irgendetwas nicht.
Lazar wollte gerade zum Telefon greifen, als sein Handy bereits klingelte.
Charlotte Sautel war dran. Sie befand sich mit Denis Riquier auf dem Weg nach Aix-en-Provence zum dortigen Weihnachtsmarkt. Ihre Stimme beängstigte Lazar.
»Ion«, stammelte sie. »Ich glaube, wir werden von der Polizei verfolgt. Wir haben versucht, Thierry und Francis zu erreichen.« Thierry Rigaud und Francis Lion, die in Avignon sein sollten. »Wir haben keinen Kontakt mehr zu ihnen. Wir haben auch keinen Kontakt mehr zum Château. Ich habe angerufen, aber jemand anders ging dran. Die Stimme kannte ich nicht … Wir …« Charlotte rief: »Denis! Denis!«
Verflucht, dachte Lazar, was war da los? Kein Kontakt zu den anderen? Keinen zum Château? Polizei? Und warum schrie sie Denis’ Namen?
Lazar hörte quietschende Bremsen. Einen lauten Knall. Charlottes Stimme: »Sie haben … eine Straßensperre. Die Polizei, es ist die …«
Wieder knallte etwas. Dann nochmals. Charlotte stöhnte auf. Dann herrschte Totenstille.
»Charlotte? Charlotte!«
Lazar starrte das Handy an. Dann Degand. Er blickte zu den Polizisten, die an den Megaphonen hantierten. Zum Rednerpult, das gerade betreten wurde. Zu der Masse an Menschen.
»Jetzt. Sofort. Wir dürfen keine Sekunde verlieren«, sagte Lazar und griff an den Rucksack. Degand tat es ihm nach.
Im nächsten Moment geschahen mehrere Dinge fast gleichzeitig.
Eine Salve von Schüssen wurde in die Luft gefeuert. Menschen schrien. Kreischten. Liefen fort. Die Masse stob wie eine große Tierherde auseinander. Stolperte übereinander. Die Titanenfiguren fielen in sich zusammen.
Die Polizisten zogen ihre Waffen. Suchten Deckung. Lazar sah sich hektisch um, Degand ebenfalls. Mit einem Schlag standen sie fast allein auf dem Platz. Sie wichen zurück. Lazar wollte in der Masse untertauchen. Degand zog seine Pistole.
Nicht, wollte Lazar sagen. Nicht, um Himmels willen, nicht die Pistole!
Eine weitere Salve krachte. Und dann sah er den Mann. Er stand mit einem Schnellfeuergewehr am Rednerpult und schoss in die Luft, schreckte die Menschen auf. Die Polizisten an seiner Seite hockten auf dem Boden, zielten auf ihn. Er schien es zu ignorieren.
Lazar erkannte den Mann. Er wusste, wer das war.
»Ion Lazar!«, rief Albin Leclerc ins Mikrophon. »Ich sehe dich!«
Degand riss die Pistole hoch, um auf Leclerc zu zielen. Im nächsten Moment stürzten sich zwei Polizisten auf ihn. Er feuerte dennoch. Die Schüsse gingen ins Leere.
Weg, dachte Lazar. Ich muss weg. Sofort. Hier kann ich nichts mehr ausrichten. Aber mit dem Sarin im Kofferraum im Einkaufszentrum Auchan jede Menge.
»Ich sehe dich!«, hörte er erneut.
Und lief los, tauchte in der Menge unter, die kreischend davondrängte.