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Die ausgeworfenen Patronenhülsen tanzten um Albins Schuhe. Sein Gehör war dumpf. Er schaute auf die davonlaufenden und schreienden Menschen, fokussierte dann auf Lazar, der mit seinem Rucksack in der Masse verschwand, die vom Platz fortdrängte.
Erst einige Sekunden später nahm er die Polizisten wahr, die auf ihn zielten.
»Leclerc?!«
Albin blickte nach rechts, wo ein Uniformierter stand und seine Pistole auf ihn richtete.
»Leclerc? Sie sind doch Leclerc?«
Albin erkannte den Mann.
»Das bin ich«, sagte Albin und nahm das Gewehr runter, streckte sich etwas und suchte nach Lazar. Er hörte, wie der Polizist rief, dass der Mann mit dem Gewehr Albin Leclerc war, woraufhin nicht mehr auf ihn gezielt wurde. Man hatte ihn als Clubmitglied identifiziert.
»Sind Sie verrückt?!«, blaffte der Polizist. »Wir haben gehört, dass Sie hier sind! Aber Sie haben eine Massenpanik ausgelöst, verdammt!«
Ja, dachte Albin, das hatte er. Das musste man ihm nicht noch extra erklären. Es war seiner Meinung nach der einzige Weg gewesen, um die Menschen von den Angreifern zu trennen und die Sicherheitskräfte auf Lazar und seinen Sektenbruder aufmerksam zu machen. Das kleinere Übel sozusagen.
Albin ignorierte den Uniformierten. Auch die anderen Sicherheitskräfte. Er starrte auf die flüchtenden Menschen. Versuchte, Lazar zu erkennen, konnte ihn aber nicht mehr ausmachen. Dann lief er einfach los und kümmerte sich nicht um die Kollegen, die seinen Namen riefen und versuchten, ihn festzuhalten. Sollten sie ihm doch folgen. Ja, am besten sollten sie das. Je mehr ihm auf den Fersen waren, umso besser – denn dann waren sie auch Lazar hinterher.
Albin lief den Platz entlang, drängte sich zwischen Hütten, Menschen und den umgestürzten Figuren der Straßentheatergruppen hindurch. Er sprang über den zu Boden gefallenen Kopf des blauen Drachen – und stoppte erst an der Kreuzung, um sich zu orientieren. Menschen starrten ihn und sein Gewehr an, liefen schreiend davon.
»Albin?«
Eine Stimme machte ihn aufmerksam. Er sah nach rechts. Sein Herz gefror. An einer Mauer direkt neben ihm hockten Veronique und Manon auf dem Boden, zwischen ihnen die weinende Clara. Alle starrten hoch zu Albin. Er kniete sich sofort zu ihnen, stellte die Kalaschnikow neben sich auf den Schaft.
»Alles okay?«, fragte er Clara und blickte auch Manon und Veronique an.
»Um Himmels willen, Albin!« Veronique schluchzte. Clara drängte sich zu Albin, um ihn zu umarmen. »Albin! Was geschieht hier?«
Albin hielt Clara fest, die in seine Halsbeuge schluchzte. »Lauft fort«, sagte er. »Lauft in die entgegengesetzte Richtung, weg von hier. Nicht zu den Parkplätzen. Lauft in irgendein Geschäft.«
»Papa!«, rief Manon. »Papa, was tust du hier? Was machst du mit dem Gewehr?«
Albin wollte antworten. Veronique rief dazwischen: »Was geschieht hier?!«
»Terroristen. Völlig Verrückte. Ihr müsst weg hier!«
»Du musst mit uns kommen! Albin …« Veronique starrte ungläubig auf das Gewehr. »Hast du … hast du eben geschossen?«
»Ja. Ich muss den Mann aufhalten, der einen Anschlag verüben will.«
»Albin …«
»Ich muss hinterher. Er hat Giftgas, Veronique.«
»Albin, oh Gott … Giftgas?«
Albin nickte. »Er wollte euch töten. Euch und die vielen anderen Menschen. Jetzt flieht er – und muss aufgehalten werden, bevor er doch noch zuschlagen kann.«
»Opa! Opa, ich habe Angst«, schluchzte Clara.
»Manon«, sagte er. »Nimm Clara.«
Was Manon dann auch tat. Sie musste einige Kraft aufbringen, um ihre Tochter von Albins Hals zu lösen. Sie redete beruhigend auf sie ein.
»Albin.« Veronique sah ihn durchdringend an. »Komm mit uns. Du darfst dich nicht in Gefahr bringen.«
»Ich bin der Einzige hier, der weiß, wie der Mann aussieht. Ich muss ihm hinterher.«
»Aber Albin, bitte …«
»Er will viele Menschen töten. Er hätte auch euch umgebracht eben auf dem Platz, Veronique.«
»Du hast all die Menschen und uns gerettet! Das reicht!«
Albin schüttelte energisch den Kopf. »Es ist noch nicht vorbei.«
»Albin!«
»Jetzt lauft weg! In die andere Richtung. Lauft zurück zum Platz – und von dort aus weiter.«
Veronique nickte zögernd. Albin stand auf, half auch Manon und Veronique hoch, die beide Clara an die Hand nahmen und Albin aus weit aufgerissenen Augen anstarrten, als er das Gewehr wieder in Anschlag nahm.
»Ich muss los, Veronique«, sagte er. »Ich muss ihn aufhalten. Es ist das, was ich tue. Das bin ich.«
Veronique nickte. »Dann lauf«, flüsterte sie schniefend und nickte weiter, wie um sich selbst zu versichern, dass sie auch meinte, was sie sagte. »Schnapp dir das Schwein.«
Albin zog sie an sich, gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich liebe dich«, hörte er ihre Stimme im Ohr.
Dann spurtete er los, über die Kreuzung hinweg, drehte sich über die Schulter um und sah, wie Veronique und Manon mit Clara in die entgegengesetzte Richtung liefen. Gut so. Dann blickte er wieder nach vorn und rannte auf den Parkplatz unter den Platanen zu.
Drei Möglichkeiten, dachte er. Lazar und seine Erzengel waren mit Autos unterwegs. Ein Auto musste man irgendwo abstellen. Lazar würde es möglichst nahe an seinem Zielort geparkt haben, um nach dem Anschlag verschwinden zu können und weiteres Unheil anzurichten oder zu entkommen. Man konnte hinter dem Hôtel-Dieu parken oder den Wagen in einer Seitenstraße abstellen. Aber es wäre nicht verlässlich gewesen, dort einen Parkplatz zu finden. Blieb als dritte Möglichkeit das Areal unter den Platanen an der Avenue Jean Jaurès – der öffentliche Parkplatz. Der war sogar am unauffälligsten, weil man kaum annehmen würde, dass ein Terrorist sein Auto parken würde wie andere Menschen auch. Leider war das Areal recht groß und verfügte über diverse Zu- und Ausfahrten.
Albin lief dorthin. Die kalte Luft stach in seinen Atemwegen. Er begegnete einer Reihe von Flüchtenden und rief ihnen zu, dass er von der Polizei sei und sie umkehren und in die andere Richtung laufen sollten. Die meisten folgten seinen Anweisungen. Andere wiederum liefen über die Straße in die Innenstadt. Auch gut, dachte Albin. Hauptsache, fort von Lazar – falls Albin denn richtiglag und Lazar fliehen wollte und nicht, wie Albin in einer Schrecksekunde einfiel, in die Innenstadt entkommen war, um dort Unheil anzurichten.
Der Parkplatz war einige hundert Meter lang und recht schmal. Er verfügte über fünf Reihen, in denen Fahrzeuge abgestellt werden konnten, und über drei Fahrstreifen. Überall standen Platanen, die dem Parking des Platanes seinen Namen verliehen. Fast alle Haltebuchten waren besetzt.
Albin lief über die mittlere Fahrspur, blickte nach links und nach rechts. Er sah mit einem Blick über die Schulter, wie ihm drei oder vier Polizisten in einigem Abstand folgten und nahm wahr, dass sie ihm etwas zuriefen. Was genau, konnte er nicht verstehen. Es ging im Kreischen von Menschen sowie im Geheul von Polizeisirenen unter.
Albin bewegte sich im Laufschritt weiter voran, hielt Ausschau nach Lazar, sah ihn aber nirgends. Dann erregte ein laut aufheulendes Motorengeräusch seine Aufmerksamkeit. Eine Sekunde später sah Albin das Fahrzeug, zu dem es gehörte.
Verdammt, dachte Albin. Der Wagen raste mit Vollgas auf ihn zu.