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Der schwarze
BMW
X
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mit dem mächtigen Kühlergrill raste auf Albin zu. Der Motor brüllte.
Albin konnte nach links oder rechts ausweichen. Aber er tat es nicht. Noch nicht. Stattdessen nahm er das Gewehr in Anschlag, presste den Kolben zwischen Schulter und Wange und zog den Abzug durch.
Das AK
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fühlte sich wie ein lebendiges Wesen an. Die Schüsse knallten ohrenbetäubend laut. Das Gewehr spie Hülsen zur Seite aus und Kugeln nach vorne. Sie durchschlugen den Motorraum, stanzten Löcher in die Windschutzscheibe, ließen die Scheinwerfer zersplittern.
Der BMW
zog mit einem Ruck zur Seite. Er krachte wenige Meter vor Albin in zwei parkende Autos. Das Heck bockte nach oben. Der Motor erstarb jaulend. Der Kühler fauchte und zischte.
Albin ging einige Schritte zurück, brachte mehr Abstand zwischen sich und den dampfenden Wagen, richtete nach wie vor das Gewehr auf den BMW
. Hinter sich hörte er die Polizisten, die nun endlich zu ihm aufgeschlossen hatten. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sie ebenfalls auf den dunklen SUV
zielten. Sie sagten etwas zu Albin. Aber er verstand sie nicht. Es klang, als ob er sich Watte in die Ohren gesteckt hatte – das Resultat der Kaskade von Schüssen, die er abgefeuert hatte.
Dann öffnete sich die Fahrertür des BMW
. Heraus kam Ion Lazar, der brüllte wie ein wildgewordener Stier. Er blutete an der Schulter und an der Stirn und schien ein Bein nachzuziehen. In der linken Hand hielt er den Feuerlöscher. In der rechten den dazugehörenden Schlauch, den er auf Albin und die Polizisten richtete, die Lazar etwas zuriefen.
»Weg damit!«
»Hände hoch!«
»Auf den Boden!«
Aber Lazar tat weder das eine noch das andere.
»Albin Leclerc! Sie verdammter …«
Albins Ohren wurden wieder besser. Er richtete den Lauf auf Lazar und sagte: »Es ist aus, Lazar. Weg mit dem Feuerlöscher.«
Er hoffte, dass die Polizisten nicht schießen würden. Sie könnten den Feuerlöscher treffen – und dann gute Nacht, Freunde.
»Sie! Haben! Alles! Zerstört!« Lazar spuckte die Worte regelrecht aus. »Die Welt! Wäre! Nicht mehr dieselbe gewesen! Fortschritt! Erneuerung! Für den Untergang Europas! Sind Sie! Verantwortlich! Ihre! Schuld!«
Albin sagte: »Schluss damit, Lazar. Sie reden dummes Zeug. Legen Sie den Feuerlöscher zu Boden. Dann sprechen wir in Ruhe über alles.«
Lazar tat nichts dergleichen. Aus seinem Gesicht sprach der pure Wahnsinn. Er stand inzwischen in einer Pfütze aus Blut. Er rief: »Die Zeit! Der Transformation!«
Dann steckte er sich den Schlauch in den Mund.
»Lazar! Nicht!«, rief Albin.
Lazar riss die Augen weit auf. Sie fielen ihm fast aus den Höhlen. Im nächsten Moment drückte er den Hebel. Es zischte. Sein Kopf verschwand in einer hellen Wolke, die wie Trockeneisnebel aussah und rasch zu Boden sank.
Genau wie Lazar.
Er fiel in sich zusammen wie eine Marionette, an der man die Fäden abgeschnitten hatte. Das Zischen erstarb. Dennoch breitete sich schlagartig ein intensiver Geruch nach Chlor aus.
»Weg hier!«, riefen die Polizisten neben Albin und hielten sich die Hände schützend vors Gesicht.
Albin ließ die Waffe fallen, zog sich den Schal vor den Mund und lief fort. Am Rande des Parkplatzes kam er zum Stehen, atmete tief ein und aus, prüfte seine Atemwege, spürte der kalten Luft in seinen Bronchien nach. Fühlte sich alles in Ordnung an, abgesehen von dem scharfen Geruch nach Hallenbad, der sich auf seiner Nasenschleimhaut ausgebreitet hatte. Glück gehabt, dachte Albin. Lazar hatte nur einmal kurz den Auslöser gedrückt, weswegen nur wenig Gas entwichen war, zumal in einem guten Abstand. Aber
ausreichend Gas, um sich selbst damit zum Sirius zu schicken.
Albin blickte auf, sah sich um. Alles war inzwischen voller Polizei und Rettungswagen. Eine Kakophonie aus Rufen, Sirenen, Motoren. Menschen liefen überall herum – in Uniform und Zivil. Seine kleine Stadt war eine Stadt im Ausnahmezustand. Wie im Krieg.
Er hörte eine Stimme neben sich.
»Albin?!«
Ein Klopfen auf seine Schulter. Ein Ruckeln an seinem Oberarm. Alain Theroux stand da, zupfte an Albin herum. Er war außer sich.
»Alles klar, Albin?«
Albin nickte.
»Kannst du atmen?«
»Ja.«
»Brennen in den Augen?« Theroux stand direkt vor Albin, musterte ihn panisch, klopfte ihm auf die Brust. »Irgendein Stechen hier?«
»Also!« Albin stieß Theroux von sich. »Theroux! Bist du mein Arzt, oder was?«
»Ich will nur …«
»Mit mir ist alles in Ordnung, verflucht!«
»Du hast ihn aufgehalten!«
»Scheint so.«
»Gott, diese Verrückten … Um Himmels willen … Sie hätten beinahe die vielen Menschen getötet …«
»Ja.« Albin nickte.
Er dachte an Clara, Manon und Veronique. Er musste nach ihnen sehen, drehte sich um und lief los.