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Clara saß vor dem Weihnachtsbaum
und las Leon aus einem Bilderbuch vor. Leon war fünf Jahre alt, schien im Moment aber mehr am Schmuck der Nordmanntanne interessiert zu sein, die Albin gestern beim Weihnachtsbaumverkäufer auf dem Parkplatz vom Intermarché erstanden hatte. Für einen exzellenten Preis, das musste man sagen, und der Baum war ein wahres Prachtstück. Kaum zu glauben, dass man so kurz vor Weihnachten noch ein derartiges Exemplar bekommen konnte.
Der Händler hatte Albin erklärt, dass der Baum aus einer Nachlieferung stammte. Glück gehabt.
Jedenfalls war dieser Prachtbaum voller bunter Kugeln. Unmöglich, sie alle zu zählen. Leon war vor allem von einer goldenen fasziniert. Vielleicht, weil er sich selbst darin spiegelte und seine Grimassen noch lustiger aussahen, wenn sie verzerrt wurden.
Neben ihm lag die kleine Yvette in ihrem Maxi-Cosi und schlief. Der Schnuller in ihrem Mund bewegte sich kaum. Das Mädchen war sechs Monate alt und bekam nichts um sich herum mit – absolut beneidenswert, über einen solchen Schlaf zu verfügen.
Zwischen den Kindern lag Tyson unterm Weihnachtsbaum, blickte mal zu dem einen, dann wieder zu dem anderen und schien sich durchaus wohlzufühlen – trotz der Lautstärke und dem Stimmengwirr im Wohnzimmer, das von der Musik einer CD
untermalt wurde: »Swingende Weihnachten«, zum Glück ohne »Last Christmas«. Gerade sang Dean Martin »Let it snow«. Aber darauf würde man wohl auch in diesem Jahr wieder warten müssen: Es schneite sehr selten in der Provence, wenngleich die lang angekündigte Kaltfront endlich über das Land zog und es nachts sogar Minusgrade geben sollte.
Leon war das Kind von Veroniques jüngster Tochter Charlotte, Yvette die Tochter von Veroniques anderer Tochter Nicole. Sie
lebten in Bordeaux und Narbonne, saßen mit ihrer Mutter und Manon am immer noch randvoll gedeckten Tisch und lachten laut. Ihre beiden Männer, Serge und Claude, lachten mit und gossen sich noch etwas Wein ein.
Charlotte und Nicole hätten Zwillinge sein können, aber es lagen vier Jahre zwischen ihnen. Sie sahen ihrer Mutter sehr ähnlich, und Albin konnte sich gut vorstellen, was für ein heißer Feger Veronique mit Mitte dreißig gewesen sein musste. Na ja, mit fast Mitte sechzig war sie ja immer noch ein ziemlicher Hingucker. Manon saß dazwischen und lachte mit. Vier bildhübsche Frauen an meinem Esstisch, dachte Albin, was bin ich für ein verdammter Glückspilz.
Doch für einen kurzen Moment verspürte Albin einen Stich im Herzen, weil Manon keinen Mann an ihrer Seite hatte. Hoffentlich, dachte Albin, würde sich das bald ändern und ihr Leben wieder in geraden Bahnen verlaufen. Nicht, dass sie zwingend einen Kerl brauchte, um über die Runden zu kommen. Aber jeder Vater wünschte sich nunmal eine Art Stellvertreter an der Seite seiner Tochter, der sich vernünftig um sie kümmerte. So war das eben. Die Gene. Da konnte man nichts dran machen.
Albin stand in der Küche, betrachtete die Festtafel, während er eine Flasche Champagner entkorkte, und fing einen strahlenden und fragenden Blick von Veronique auf. Sie war glücklich, keine Frage, das war nicht zu übersehen. Eine große Familie am Tisch, ihre Familie. Ein Patchwork, ja, aber genau das war ihr Ding: Kinder und Enkelkinder, alle beieinanderzuhaben.
Und ehrlich gesagt: Es war
ja auch schön. Ganz wunderbar, und zwar für den Moment. Kein Mensch würde es ertragen können, jeden Tag ein solches Spektakel um die Ohren zu haben. Außerdem machte es den Moment umso wertvoller, weil er rar war. Ein perfekter Moment, dachte Albin, köpfte direkt noch eine zweite Flasche Champagner und goss sieben Gläser ein, die er bereits auf einem Silbertablett bereitgestellt hatte. Veronique sah ihn immer noch fragend an. Ein Blick, der wissen wollte: Champagner? Jetzt? Vor
der Nachspeise?
Albin lächelte nur knapp, balancierte dann das volle Tablett zum Esstisch. Ihm schlug das Herz bis zum Hals, und seine Hände waren feucht. Er reichte jedem ein Glas, das vorletzte dann Veronique, die
ihn anstrahlte und endlich fragte: »Champagner? Jetzt?«
»Ja«, erwiderte Albin, nahm sich das letzte Glas und bestätigte: »Champagner. Jetzt.«
Er blieb neben Veronique stehen, streckte die freie Hand aus, um die Stereoanlage leiser zu drehen, räusperte sich dann, hob sein Glas und sagte: »Auf die Familie.«
Alle grinsten, hoben ebenfalls die Gläser, wiederholten Albins Trinkspruch und stießen miteinander an.
Veronique sah Albin immer noch fragend und mit leicht gerunzelter Stirn an. Sie wusste ganz genau, dass Albin etwas im Schilde führte. Sie kannte ihn so gut. Er war ein komplett offenes Buch für sie. Transparent wie ein Schluck Wasser im Kristallglas.
»Ein paar Worte«, sagte Albin und leckte sich über die Lippen. Er schwitzte, zitterte sogar leicht. »Ich bin kein großer Redner. Eigentlich habe ich auch nicht viel zu sagen. Das heißt: eigentlich schon. Ich weiß, dass ich eine Plage sein kann. Ein verrückter alter Kauz, der sich immer wieder einmischt und Dinge anstellt, von denen er besser die Finger lassen sollte. Doch so bin ich halt. Ich war nie anders. Ich wünschte«, sagte Albin mit einem Blick zu Manon, »ich wäre anders gewesen und hätte mir viel mehr Zeit für meine Familie genommen. Ich wünschte, ich könnte ruhig dasitzen wie andere Großväter und mir ein Hobby zulegen, wie Briefmarken sammeln – oder Golf spielen lernen. Mich auf ein Fahrrad schwingen und dreimal die Woche den Ventoux hinauffahren. Kann ich aber nicht. Es ist wie mit dieser Geschichte vom Frosch und dem Skorpion: Der Skorpion will über den Fluss und fragt den Frosch, ob er ihm hilft, und der Frosch sagt: ›Von wegen, du stichst mich tot, wenn ich dich übers Wasser trage‹, und der Skorpion sagt: ›Aber nein, dann ertrinke ich doch, ich verspreche, ich mache nichts‹ – und der Frosch schwimmt mit dem Skorpion über den Fluss, und in der Mitte sticht der Skorpion dann zu, und der Frosch sagt: ›Bist du verrückt, nun sterben wir doch beide, warum tust du das?‹, worauf der Skorpion sagt: ›Was soll ich machen? Ich bin halt ein Skorpion und tue, was ein Skorpion eben tut.‹ Tja, bei mir ist es auch ein bisschen so.«
Veronique lachte, nickte und griff Albins Hand, um sie zu drücken.
»Aber«, sagte sie, »ich würde dich niemals auf dem Rücken tragen. Du bist viel zu schwer.« Alle lachten. »Und stechen würdest du mich auch nicht.«
»Niemals«, sagte Albin. »Dennoch trägst du mich. Oder besser: erträgst mich. Und ich dachte mir, jetzt, wo die ganze Familie zusammen ist, da …«
Albin nippte am Champagnerglas und sah hinüber zu Tyson, der unterm Weihnachtsbaum die Ohren spitzte. Sein Kopf neigte sich schräg.
Habe ich etwas nicht mitbekommen?
, fragte er. Was wird das? Hast du etwa ein Geheimnis vor mir?
»Jetzt warte es halt ab«, erwiderte Albin in Gedanken, räusperte sich und schob die schweißnasse Hand in die Hosentasche.
»Ich dachte«, sagte er und wendete sich zu Veronique, »also, irgendwie sind wir doch nicht mehr in dem Alter, in dem es angemessen ist, eine quasi wilde Ehe zu führen, und …« Albin zog ein Kästchen aus der Hosentasche. Es war klein und sah edel aus. Er ließ es aufschnappen. Darin befand sich ein Goldring, der in der Mitte mit einem dezenten Diamanten verziert war. Er hatte ihn vor zwei Tagen beim Juwelier abgeholt, nachdem er sich seit einigen Wochen bereits mit der Idee getragen hatte. Schließlich hatte er einen ihrer Ringe aus dem Badezimmer als Vorlage mitgehen lassen, von dem er wusste, das er ihr in jedem Fall passte, und dann diesen hier anfertigen lassen, der jetzt im Licht funkelte.
Veronique atmete scharf ein, die anderen ebenfalls. Sie traute ihren Augen kaum.
»Albin?«, rief sie und fasste sich ans Herz, blickte auf den Ring, dann zu Albin, blickte zu den Kindern, wieder zum Ring, zurück zu Albin. »Albin?«, wiederholte sie atemlos.
Er schluckte und sagte: »Du weißt, ich bin nicht gut in diesen Dingen. Als ich in deinen Blumenladen kam, um dich um ein Rendezvous zu bitten, da habe ich mich gefühlt wie ein Teenager.«
»Es war die schlechteste Bitte um ein Rendezvous aller Zeiten«, erwiderte Veronique und lachte.
»Also«, fuhr Albin fort, »um es auf den Punkt zu bringen: Ich dachte, wir sollten aus deiner und meiner Familie eine
Familie machen. Ich möchte dich bitten, meine Frau zu werden und – dass
wir heiraten. Dachte ich.«
Albin sah Veroniques feuchte Augen. Ihr Lächeln. In diesem Moment wusste er, dass er das absolut Richtige tat. Nicht, dass ihm das nicht schon vorher klar gewesen wäre. Aber gerade fühlte er es sehr intensiv. Und mit einem Blick in die Runde und zu Manon versicherte er sich, dass alle Kinder es ebenso sahen. Manons Augen glänzten. Sie lächelte breit und nickte ihrem Vater zu. Und grinste nicht sogar Tyson ein wenig?
»Das eine«, sagte Veronique sanft und hielt Albin die Hand hin, den Ringfinger etwas abgespreizt, »geht wohl schlecht ohne das andere, hm?«
»Ja«, sagte Albin, schluckte erneut und stammelte, »meine Frau werden, heiraten. Beides, also, war meine Idee. Gleichzeitig sozusagen.«
Er nahm den Ring aus dem Kästchen, steckte ihn auf ihren Finger. Er saß perfekt. Sie bewunderte ihn, streckte dann die Hände aus, um Albin zu sich herabzuziehen und zu küssen.
»Akzeptiert, Albin Leclerc, gute Idee«, sagte sie.
Anschließend wurde die nächste Flasche Champagner getrunken, dann eine weitere. Die dreizehn Köstlichkeiten wurden kredenzt, und es war bereits kurz vor Mitternacht, als Albin schließlich aufstand und sagte, dass er mit Tyson eine Runde um den Block gehen würde. Außerdem musste er dringend eine rauchen.
Tyson wusste sofort, was nun auf dem Programm stand, und schoss wie eine Silvesterrakete auf den Flur. Albin griff seine Jacke und zog sie an, band sich den Schal um und nahm seine Zigaretten. Tysons Leine ließ er – wie immer – weg. Schließlich öffnete er die Tür und ging mit dem Mops nach draußen.
Die Nacht war eiskalt und klar. Atem dampfte vor Albins Mund, bevor er sich eine Zigarette anzündete, den Kopf in den Nacken legte, tief inhalierte, zum Mond hinaufblickte und den Rauch wieder ausstieß.
Schließlich setzte er sich in Bewegung. Tyson lief voran. Er kannte den Weg. Seine Pfoten machten leise klickende Geräusche.
Einige Minuten gingen sie schweigend durch die stillen Straßen der Stadt, bis die Häuser weniger wurden und der Weg durch die kahlen Weinfelder führte. Die Rebstöcke waren mit glitzerndem
Frost überzogen. Das war auch auf der Straße der Fall. Albin konnte es nicht lassen und probierte, auf der Straße zu schlittern. Immerhin klappte es ein wenig. Es war glatt, aber nicht zu glatt.
Tyson blieb an einer Kurve stehen und blickte sich um, sah dem Chef dabei zu, wie er mit zwischen die Lippen gekniffener Kippe wie ein kleiner Junge einige Schritte Anlauf nahm, um ein paar Meter über den Asphalt zu gleiten.
Brich dir nicht die Beine
, sagte er.
»Sei nicht so streng«, erwiderte Albin und nahm die Zigarette wieder zwischen die Finger. Sie war bereits bis zum Filterrand runtergeraucht.
Ich meine ja nur.
»Ich weiß«, erwiderte Albin, schloss zu Tyson auf und drückte die Kippe an einem Stein aus, nahm den Hundekotbeutel aus der Jackentasche und steckte sie hinein. Seitdem er in der Zeitung gelesen hatte, wie viel Unheil diese Filter in der Umwelt anrichteten, warf er sie nicht mehr einfach so in den Rinnstein.
Er steckte den Beutel zurück, sog die kalte Luft in die Lungen und warf einen Blick zum Mont Ventoux, dessen kahler, grauer Rücken im Mondlicht reflektierte. Er blickte über die Dächer seiner Stadt, die in dieser Nacht strahlte. Der Schein ihrer Lichter erhellte den Himmel und färbte ihn orange, bis er sich im Schwarz verlor, das bis zu den Sternen reichte.
Bist du zufrieden?
, fragte Tyson.
»Verdammt zufrieden«, sagte Albin. »Ich tue das Richtige. Veronique ist eine gute Frau.«
Du hast das hinter meinem Rücken abgezogen.
»Du hast keine Ahnung, was ich so alles hinter deinem Rücken abziehe, Tyson. Außerdem war es nicht geplant, ihr einen Antrag zu machen.«
Das wirkte auf mich aber anders.
»Es war eher spontan. Ich war unentschieden. Es kam mir etwas albern vor, das ausgerechnet an Weihnachten zu machen und vor der Familie. Dann wieder fand ich es genau richtig.«
Den Ausschlag gab …
»… der geplante Anschlag. Als ich Veronique mit Manon und Clara in der Stadt sah, wusste ich, dass ich Veronique auf keinen Fall
verlieren will. Wie sie sich um die beiden gekümmert hat … Sie hat mehr verdient, als nur meine Lebensgefährtin zu sein. Und mir wurde klar, dass ich ebenfalls mehr wollte.«
Und die Sache mit deiner Wucherung im Bauch …
»… tat ihr Übriges dazu. Es kann von heute auf morgen vorbei sein.« Albin schnippte mit den Fingern. »Einfach so. Zack – und du fällst um. Das war’s dann. Es kann eine Kugel sein, die dich erwischt, oder dich trifft der Schlag, du wirst schwer krank. Das gilt nicht nur für mich. Auch für sie. Ist besser, wenn man dann nicht allein ist. Aber was sage ich das einem Hund.«
Ich weiß genau, was du meinst.
Albin zog eine weitere Zigarette aus der Packung und steckte sie an. »Ach, übrigens, beim Thema allein sein …«
Tyson blickte auf.
»Castel und ihr Freund fahren ein paar Tage nach Barcelona. Über Weihnachten hat nicht geklappt. Sie fahren über Silvester.«
Und?
»Mila.«
Was? Die kleine schwarze ukrainische Mopsdame?
Albin nickte. »Sie kommt drei Tage zu Besuch.«
Tyson fiepste und drehte sich einmal um sich selbst.
Ernsthaft?
»Ernsthaft.«
Das ist ja phantastisch!
»Ich warne dich, mein Freund. Ich werde auf dich achtgeben wie ein Schießhund!«
Ich schwöre, dass ich …
»Trotzdem. Sie hat erst Theroux gefragt, aber der hat abgelehnt wegen seiner Frau.«
Wieso?
»Sie ist tatsächlich wieder schwanger.«
Ach.
Albin nickte und paffte. »Er hat es letzte Woche erfahren, nachdem er wie Bruce Willis vom Einsatz zurückkam. Er war fix und fertig. Erst rammt er diese Terroristen. Dann erfährt er, dass er wieder Vater wird. Hat sich offenbar gelohnt, dass er die Vasektomie rückgängig gemacht hat.«
Autsch.
»Vasektomie ist ein gutes Stichwort. Kommst du Mila zu nahe, fahre ich mit dir zum Tierarzt und rede mit ihm über …«
Ich schwöre alles!
Albin grinste, stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Ihm flog etwas in die Augen. Er blinzelte, wischte mit den Fingern über die Lider. Da war etwas in der Luft. Feine Styroporkrümel, oder …
Chef!
, rief Tyson und reckte den Kopf in die Luft. Es schneit!
Und tatsächlich. Als sich Albins Blick wieder klärte, sah er es. Kleine Schneeflocken tanzten in der Luft. Erst wenige, dann immer mehr. Sie fielen auf Albins Haar, und die Dächer der Stadt färbten sich ebenso schnell weiß wie die Straße. Die Kirchenglocken läuteten und hallten durch die Nacht.
Null Uhr. Die mitternächtlichen Weihnachtsmessen begannen. Auch die Glocken aus den umliegenden Orten waren zu hören. Leise, aber vernehmbar.
Albin paffte und schlug den Kragen hoch. »Komm, Tyson«, sagte er. »Wir sollten verschwinden, bevor wir noch einschneien.«
Dann setzten sie sich in Bewegung.
Sie hinterließen ihre Spuren im frischen Schnee auf der Straße – Fußstapfen in Schuhgröße 45
und Pfotenspuren, die erheblich kleiner waren …