Prolog
»Squieck!«
Müde reibe ich mir die Augen, stütze mich auf die Arme und beäuge überrascht das winzige, graumelierte Lebewesen, welches mir soeben auf meine Bettdecke gesetzt wurde. Augenblicklich muss ich aufpassen nicht loszuheulen.
»Das ... das ist ... eine Ratte!?«
»Nein, wirklich ? Und ich dachte, es wäre eine besonders hässliche Art Meerschwein.« Finn grinst mich verschwörerisch an, hebt dann allerdings tadelnd den Finger. »Übrigens sagt man nicht mehr Ratte , sondern Nagetier mit Kanalisationshintergrund! Sonst bist du politisch inkorrekt!«
Erst lache ich etwas verstört, dann richte ich mich auf. »Das ... das ist ja ganz lieb von dir, aber ... du kannst mir doch kein Haustier schenken!«
»Hab ich das nicht gerade?« Abermals grinsend kratzt er sich am Kinn. »Also so, wie ich das sehe, kann ich!«
»Aber -«
»Nix aber ! Von heute an bist du stolzer Besitzer dieses ...«, er lässt überlegend die Hand kreisen, »... Wesens ! Herzlichen Glückstrumpf. Gib ihm einen Namen! «
Da muss ich dann doch lachen und schüttle den Kopf. »Oh Mann, du bist so ein Spinner.«
»Von mir aus.« Er zuckt nur mit den Achseln, pflanzt sich neben mich und schiebt meinem neuen Haustier einen Haferkeks in die Schnauze. »Zumindest bin ich ein netter Spinner, der einem einsamen Freund einen gerade mal zwölf Wochen alten, 1A Husky besorgt hat!«
»Was hast du???« Vollkommen schockiert starre ich ihn an und bekomme augenblicklich Herzrasen, während ich horche, ob aus dem Flur das Fiepsen oder Trappeln eines Hundes zu hören ist. Finn jedoch zeigt nur grinsend auf meinen Schoß, wo es sich der rattige Mümmelmann gerade gemütlich gemacht hat.
»Der Farbschlag heißt Husky und er – Aua
Saftig grüßt meine Faust seine Schulter. »Mann ! Verarsch mich doch nicht so! Willst du, dass ich einen Herzkasper kriege?«
»Dafür bist du zu jung, Schnucki!«
Augenblicklich beginnen meine Wangen zu glühen. Ich weiß ja aus den Gesprächen mit Alex, dass Finn generell eine sehr flapsige Art hat, sich auszudrücken, trotzdem kommt es mir seltsam vor, wenn er mir solche Kosenamen gibt. Dann stupst er mir auch noch gegen die Nase.
»Ey, ich bagger dich nicht an, also werd nicht gleich wieder rot! «
›Kann der Gedanken lesen?‹
Leicht verschämt wubble ich die Bäckchen des süßen kleinen Stinkers, als der versucht, auf meinen Gips zu krabbeln, und wechsle das Thema. »Wie sollen wir dich denn nennen? Bist du ein Männchen oder ein Weibchen?« Vorsichtig greife ich unter seine Vorderpfötchen und hebe ihn hoch. »Ah, da ist ein Schniepi ... also ein Böckchen!«
Finn prustet. »War klar, dass du darauf als Erstes achtest!«
Vorwurfsvoll sehe ich ihn an. »Wenn ich ihm einen Namen geben soll, muss ich doch vorher nachschauen, ob es einen Sack oder ein Brötchen hat!«
Finn hebt, noch immer belustigt, die Augenbrauen. »Glaubst du ernsthaft, ich würde dir ein Mädchen zur Beschäftigung schenken?«
»Warum nicht?« Ich zucke mit den Achseln. »Milchschnitte war auch ein Weibchen ...«
Er scheint zu spüren, dass meine Stimmung kippt und ich sofort den Tränen nahe bin, sobald ich von ihr erzähle, also rempelt er mir kumpelhaft gegen die Schulter. »Na los, wie soll er heißen?«
»Ich weiß nicht, vielleicht sollte ich ihm lieber keinen Namen geben. Du weißt schon ... sobald etwas einen Namen hat, entwickelt man Gefühle dafür.« ›Was genau der Grund war, warum ich Alex sofort gesagt habe, wie ich heiße.‹ »Dein Dad wird keine Ratten in seiner Wohnung haben wollen, und wenn ich mich dann doch wieder von ihm trennen muss -«
»Du würdest dich für den Köttelmeister von meinem Dad trennen?« Finn lacht erneut. »Wow, das hätte ich jetzt echt nicht von dir erwartet!«
»Haha!«, motze ich ihn an und strecke ihm kindisch die Zunge raus.
»Mein Dad wird ihn dir nicht mehr wegnehmen, wenn du dich erst mal an ihn gewöhnt hast«, beruhigt er mich. »Außerdem, sind wir doch mal ehrlich, momentan kann er sowieso nicht viel dagegen machen.«
›Nein, kann er nicht. Leider ...‹
»Na schön«, gebe ich mich schließlich geschlagen und hebe den kleinen Ratterich hoch, um ihn zu taufen. »Ich nenne dich ... Herr Jemine! « Fast schon ein Synonym für: Ach du Scheiße , denn dies wird das Erste sein, was Alex durch den Kopf geht, wenn er ihn sieht. Dicht gefolgt von: Bist du bescheuert und wie kann ich das Vieh verschwinden lassen, ohne dass er heult?
Nachdem sich Finn knapp fünf Minuten über meine Namenswahl beöppelt hat, beruhigt er sich wieder und steht auf. »Na los, schwing die Haxen aus den Federn, wir müssen los. Dein Termin ist um elf, oder?«
»Ja, ja.« Ich nicke und schaue auf meinen eingegipsten Arm. »Aber den kleinen Fratz kann ich auf keinen Fall mit ins Krankenhaus nehmen! Wo soll der bleiben, während wir weg sind?«
»In der Badewanne!«, verkündet Finn in seinem jugendlichen Leichtsinn und holt seinen Rucksack. »Hier, ich hab im Zoogeschäft eine Packung Stroh besorgt. Das legen wir einfach darin aus, stellen einen Pott Wasser rein und verteilen ein paar Körner, dann ist der Kleine beschäftigt, bis wir wieder zurück sind.«
Entgeistert starre ich ihn an. »Sag mal, hast du als Kind ’nen Schlag auf die Fontanelle gekriegt? Ich kann doch in Alex‘ Badewanne keine Ratte halten!«
»Nagetier mit Kana-«
»Ja, ja! Trotzdem!«
»Ist doch nur für den Übergang!«, wiegelt er ab und macht sich bereits auf den Weg ins Bad. »Wenn er nach Hause kommt, kauft er dir ganz schnell einen Käfig. Wirst schon sehen.«
»Ja, genau. Mir! Damit ich keine neuen Viecher mehr anschleppen kann!« Etwas schwerfällig hieve ich mich aus dem Bett und zupple einarmig meine Hose vom Stuhl. »Eigentlich müsste er dich einsperren! Immerhin hast du ihn mitgebracht!«, rufe ich hinterher, während ich ihm folge.
Finn hört mir schon gar nicht mehr zu. Fröhlich pfeifend verteilt er Stroh und Körner, als wolle er zur nächsten Erntefee gewählt werden. Ich ziehe mich derweil im Flur an und balanciere Herrn Jemine dabei auf meinem Kopf, um wenigstens eine Hand für meine Hose frei zu haben.
ҳ̸Ҳ̸ҳ
Als die rundliche Krankenschwester mit dem blonden Pagenschnitt eine kleine Handkreissäge aus dem Schubfach holt, möchte ich am liebsten wegrennen. »So, Sie legen jetzt einfach Ihren Arm auf den Tisch und halten schön still! Keine Angst, bei weichem Material stoppt die Säge von selbst.«
»Aber -« Jeglicher Protest wird im Keim erstickt, als sich das Gerät mit einem grauenhaften, durchdringend schrillem Geräusch in Gang setzt und Schwester Rabiata eine Schneise in meinen Gips fräst, als sei sie Bob der Baumeister.
Ich kann nicht hinsehen. Panisch drehe ich den Kopf weg, kneife die Augen zusammen, versuche meine Atmung unter Kontrolle zu halten und bete, dass sie keinen Millimeter zu tief rutscht, denn dann war’s das endgültig mit dem Geigenspiel!
Plötzlich nimmt Finn wortlos meine freie Hand und mein Zittern beruhigt sich etwas. Dann macht es knack und der Gips ist durch.
»Na also, schon geschafft!«, sagt die Handwerksschwester und legt die noch immer surrende Säge beiseite. Dann schnappt sie sich eine Art Zange, mit der sie den Spalt aufspannt und diesen nach und nach an allen Stellen vergrößert, während sie gleichzeitig den Verband darunter aufschneidet. »Gut! Versuchen Sie mal, Ihren Arm rauszuziehen!«
Ich versuche es, höre, wie der Gips knirscht, spüre, wie der Druck nachlässt, und befreie mich schließlich halbwegs schmerzfrei aus dem engen Verlies, das ich sechs Wochen mit mir herumgetragen habe.
»Ühh«, tönt mein Begleiter ziemlich pietätlos, wenn auch eher belustigt, und lässt mich los. »Sieht ja aus wie tot.«
»Danke.« Taktlos wie immer der Kerl, aber leider hat er nicht ganz unrecht. Meine Haut ist kalkweiß, bläulich unterlaufen, schuppt sich und riecht nach fast zwei Monaten auch nicht gerade nach Sommerwiese. Mittendrin prangt eine gut zwanzig Zentimeter lange, rote, schwulstige Narbe, aus der blaues Nähmaterial herausschaut. »Ich werd es so sehr genießen, endlich wieder richtig duschen zu können!«, gestehe ich erleichtert und bin froh, dass mir die Schwester zwei Desinfektionstücher reicht, damit ich mich zumindest grob abreiben kann. »Werden heute noch die Fäden gezogen?«, frage ich nach, denn die jucken wie wahnsinnig.
»Wundert mich, dass die überhaupt so lange drinbleiben durften«, fügt Finn an und setzt sich zurück auf den Stuhl.
»Der Doktor kommt gleich und schaut sich alles in Ruhe an«, antwortet die Schwester und wäscht sich die Hände an einem Waschbecken in der Ecke. »Wenn sich die Fäden gut aufgelöst haben, wird er sie sicher heute schon ziehen. Ich gehe gleich mal Bescheid sagen. Also – alles Gute!«
Ich hebe meinen gesunden Arm und versuche zu lächeln. »Okay, danke. Ihnen auch.«
Sobald die Tür zugeht, schnauft Finn und grinst dämlich vor sich hin. »Was ist?«, will ich wissen und bewege langsam meine Finger.
»Ach nichts ...«, wehrt er kichernd ab, doch dann erklärt er sich doch. »Die dachte sicher, wir sind ein Paar.«
»Weil du meine Hand gehalten hast? Also ich fand das sehr lieb von dir ... Würde es dich denn stören, wenn sie dich für einen Homo hält?«
Nach kurzem Überlegen schüttelt er den Kopf. »Nein. Seltsamerweise sind Frauen oft sogar netter, wenn sie einen für schwul halten.« Auf einmal zeigt sich jedoch ein nachdenklicher Ausdruck in seinem Gesicht. »Glaubst du, mein Dad hatte deswegen viele Probleme?«
»Kann ich nicht sagen«, gebe ich seufzend zu und pelle einige Hautfetzen von meinem Arm. »Er hat mir kaum etwas von seiner Vergangenheit erzählt, seinen Eltern oder seinen Freunden ... aber wir kannten uns ja auch noch nicht so lange.« Finn schaut mich kurz an und nickt, doch er wirkt plötzlich sehr bedrückt, also versuche ich, ihn aufzumuntern. »Ich glaube nicht, dass Alex Probleme damit hatte. Im Gegensatz zu mir hat es bei ihm doch niemand vermutet! Er sieht eben ... na du weißt schon ... sehr hetenmäßig aus. Nicht mal seine Arbeitskollegen wussten davon.«
»Woher wusstest du es?« Finn schaut mich ernst an. »Er wird dich wohl kaum schon am Tatort abgeleckt haben, oder? Dieser Kiel hat behauptet, du hättest ihn bereits beim ersten Verhör umarmt, also musst du doch was bemerkt haben? Haben Schwule dafür eine Art Sensor oder -?«
»Sei nicht albern!«, unterbreche ich ihn und rücke mich etwas zurecht. »Ich wusste es nicht, aber ich hab es ... geahnt
»Und warum?« Er lässt nicht locker.
»Weil ... na ja, das sind so Kleinigkeiten. Die Art, wie man sich ansieht ... wie lange man sich ansieht ... so was halt.«
»Tse.« Er schüttelt den Kopf. »Bei euch scheint das so einfach zu sein. Bei den Mädchen in meiner Klasse hab ich keine Ahnung, ob sie mich mögen oder nicht, und die sehe ich seit Jahren jeden Tag. Mir ist nie aufgefallen, ob mich da eine besonders oder länger als üblich anguckt.«
Ich lächle und klopfe ihm kurz aufs Knie. »Wenn es so weit ist, merkst du den Unterschied!« Dabei erinnere ich mich an unser erstes Zusammentreffen. »Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, hast du mich übrigens auch deutlich länger als üblich angeglotzt, aber ich hab gesehen, dass du einfach nur schockiert warst. Schockverliebte gucken anders.« Nämlich so wie Alex, als er mir damals die Maske runtergezogen hat.
»Ich war nicht schockiert«, versucht sich sein Sohn nun zu rechtfertigen, und knibbelt mit den Fingern an seiner zerschlissenen Hose herum. »Ich war nur ... überrascht , weil ... weil du so jung bist und ... viel zu hübsch für meinen Alten.«
»So jung bin ich nicht und dein Alter ist auch nicht gerade unattraktiv«, erinnere ich ihn, obwohl ich es ziemlich unpassend finde, nach all dem, was geschehen ist, so über ihn zu sprechen. »Apropos, ich würde gerne nochmal auf die Station gehen, wenn wir hier fertig sind. Ist das okay?«
Finn nickt und bemerkt sofort, dass meine Stimmung kippt, sobald es um Alex geht, drum scheint er mich wieder aufmuntern zu wollen. »Weißt du, was das Witzigste ist, das meine Mum je gesagt hat?«
Ich hebe den Kopf. »Na?«
»Als ich neun war, hab ich sie gefragt, was ein Orgasmus ist, und sie antwortete furztrocken: Keine Ahnung, frag deinen Vater! «
Ich beginne tatsächlich zu lachen, aber noch ehe ich etwas dazu sagen kann, geht bereits die Tür auf und der Arzt kommt herein.
»Ah, Herr Vãduva! Schön, Sie wiederzusehen, und Herr Schuster ist auch wieder dabei, wie erwartet!« Manchmal könnte man meinen, der Typ prahlt einfach gerne damit, dass er sich unsere Namen merken kann. »Ich hatte gerade ein Gespräch mit Dr. Rentsch«, teilt der hagere Mann mit den tiefen Augenringen mit und gibt Finn die Hand. »Hat er Sie schon darüber in Kenntnis gesetzt, dass Ihr Vater heute Morgen die Augen geöffnet hat?«
»Er ist aufgewacht ?« Finn springt auf und wird ganz weiß im Gesicht. Hektisch zieht er sein Smartphone aus der Gesäßtasche. »Nein, mich hat niemand - ... verdammt! Doch , hier ist ein Anruf! Ich hatte mein Handy auf lautlos gestellt, als wir im Warteraum saßen!«
Auch mein Herzschlag beschleunigt sich und meine Wangen fangen augenblicklich zu glühen an, doch da versetzt der Arzt uns gleich wieder einen Dämpfer.
»Na ja, Sie dürfen da noch nicht zu viel hineininterpretieren! Nur weil ein Komapatient mal die Augen aufschlägt, heißt das nicht unbedingt, dass er wach ist. Aber es ist ein gutes Zeichen, und mit ein bisschen Hilfe schafft er es sicher bald, in sein Bewusstsein zurückzukehren.«
»Und wenn ich ihm Backpfeifen im Dauerfeuer verpassen muss! Der wird aufwachen!!!« Finn scheint fest entschlossen.
»Gewalt ist keine Lösung, Herr Schuster«, lässt der Arzt verlauten, setzt sich und zieht meinen Arm näher zu sich heran, doch ich achte kaum noch darauf, was er tut. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken.
›Wie wird Alex wohl reagieren, wenn er mich sieht? Ob er wütend darüber ist, dass Finn mich weiter hat in seiner Wohnung leben lassen?‹
Nachdem wir damals mit seinem Wagen ungebremst in die Baustelle gedonnert sind, brachte ihn ein Hubschrauber ins Krankenhaus. Ich wurde mit dem Rettungswagen transportiert, aber erinnern kann ich mich an nichts davon. Auch wenn ich bei der ganzen Sache nicht unverletzt davongekommen bin, so hatte ich doch deutlich mehr Glück als er. In meiner Panik, kurz vorm Aufprall, hatte ich beide Arme schützend vors Gesicht gehoben, glücklicherweise den linken vor den rechten. Links brach ich mir dadurch Elle und Speiche, rechts blieb es bei einer fetten Prellung. Davon abgesehen zierten mich ein paar blaue Flecke und ein paar Schnittverletzungen. Aufgewacht bin ich erst zwei Tage nach der Operation, in einem Krankenhauszimmer auf der Intensivstation, nicht weit von Alex entfernt. Ich brauchte eine ganze Weile, um mich zu erinnern, was passiert war, doch dann klärten mich die Ärzte auf. Einer von ihnen kannte mich sogar noch von meiner ersten Einlieferung, war sehr nett und bemüht, mich aufzumuntern. Ich lernte schnell, dass man selbst unter solchen Umständen nichts in der Richtung sagen darf, dass das Leben keinen Sinn mehr hat, denn dann riskiert man, mit massenweise dämlichen Kalendersprüchen beworfen zu werden. Also machte ich gute Miene, wenn er mich ansah, doch innerlich fühlte ich mich wie tot und war unfähig, irgendetwas zu fühlen.
Ich weiß noch, dass es in meinem Kopf ganz still war. Stundenlang starrte ich geradeaus, an nichts denkend. Ich konnte einfach nicht fassen, was passiert war, und fühlte ... nichts. Alles, was ich wahrnahm, war endlose Leere.
Erst nach meiner Verlegung auf die Normalstation löste sich mein anhaltender Schockzustand langsam auf, doch als ich eine der Schwestern fragte, wie es Alex geht, ob er noch lebt, antwortete sie mir, dass sie darüber keine Auskunft geben dürfe. Lange habe ich also nichts erfahren, lebte wie in einem Vakuum und lag einfach nur da. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass mein erster richtiger Gedanke der war, wie ich es zum Fenster schaffe, um mich dort hinaus zu stürzen. Wenn Alex tot war, der einzige Mensch, der nach all den schrecklichen Jahren an mich geglaubt hatte, wollte auch ich nicht mehr leben. Ich war erfüllt von dem Gefühl, dass irgendein höheres Wesen verhinderte, dass ich jemals glücklich werde, und ich wusste, dass ich es ohne Alex nicht schaffen würde, clean zu bleiben und mein Leben auf die Reihe zu kriegen.
Doch dann kam Finn. Vollkommen überraschend stand er plötzlich an meinem Bett und fragte mich, wie es mir geht. Er sah schlimm aus, völlig übermüdet und verheult, doch in meiner Gegenwart riss er sich sichtlich zusammen, also tat ich es auch. Erst traute ich mich nicht, nach seinem Vater zu fragen, aber dann hielt ich die Ungewissheit nicht mehr aus und hakte nach.
»Mein Dad liegt noch immer auf der Intensiv«, sagte er und begann schon dabei zu schluchzen. »Er hat ein Polytrauma ... also ein paar angeknackste Rippen, ein gebrochenes Bein und eine Schädelverletzung, weil er mit der Stirn auf den Lenker geknallt ist, bevor sich der Airbag geöffnet hat. Die Ärzte haben ihn nach der Operation in ein künstliches Koma versetzt ...« Während er diese Worte herauspresste, rollten ihm unaufhörlich Tränen über die Wangen, bei deren Anblick ich zum ersten Mal wieder etwas fühlen konnte. Einen stechenden Schmerz in meiner Brust, denn es tat unglaublich weh, den sonst so taffen Jungen derart aufgelöst zu sehen.
Als er mir erzählte, dass Alex ihn zum Vorsorgebevollmächtigten bestimmt hatte, fehlten mir die Worte. Ein damals sechzehnjähriger Junge, voll in seiner Pubertät, der noch nicht einmal wusste, was er für eine Ausbildung machen wollte, sollte nun alle lebenswichtigen und finanziellen Entscheidungen für seinen Vater treffen? Erst da realisierte ich, wie isoliert Alex all die Jahre gelebt hatte.
Bei einem Mann in seinem Alter, in seiner Position, mit seinem Job und seinem Charisma hatte ich einen Haufen Freunde erwartet, die hinter ihm stehen. Eine gute Beziehung zu seinen Eltern, geordnete Familienverhältnisse ... doch er hat nichts davon. Genau genommen ist Finn seit Jahren sein einziger, beständiger Kontakt, und nun lasten auf dessen Schultern alle wichtigen Entscheidungen.