Kapitel 1 - Aus dem Dunkel
›Wo bin ich?‹
Schwarze Nebel umhüllen meinen Geist, wabern um mich herum und tauchen meine Umgebung in gespenstische Dunkelheit.
Ich laufe endlos lange Strecken. Oder fliege ich? Ich sehe meine Beine nicht und doch habe ich das Gefühl, dass ich mich bewege.
›Wie lange bin ich schon hier? Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit ...‹
Anfangs habe ich gespürt, wie ich fiel. Schnell und unaufhaltsam in die Tiefe, bis ich irgendwann etwas Weiches unter mir bemerkte, das mein Fallen bremste. Ich bin verwirrt, doch ich habe eine böse Ahnung, was passiert sein könnte.
›Ich bin gestorben ... aber wenn ich tot bin ... ist das hier die Hölle? Das ewige Nichts?‹
Ich warte.
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Irgendetwas ist geschehen, an das ich mich nicht erinnere. Ab und zu hallt ein ohrenbetäubendes Krachen durch die Luft, lässt mich aufschrecken, aber gleich darauf dämmere ich wieder weg und versinke erneut in diesem endlosen Teer.
›Was ist das?‹
Ins rauschende Nichts mischt sich etwas.
›Ist da wer?‹
Ja, ich höre jemanden sprechen, doch ich verstehe kein einzelnes Wort, stattdessen ergeben eine Reihe von Tönen einen leisen Singsang, welcher wie ein weißer Seidenschal durch meine Finsternis fliegt. Ich versuche, nach ihm zu greifen, will verstehen, was die Worte bedeuten, nur habe ich keine Hände, mit denen ich etwas fassen kann.
Ich bin dazu verdammt, einfach nur zu sein , ohne auf meine Umwelt Einfluss nehmen zu können.
›Ich muss zusehen und die Dinge geschehen lassen ... doch was, wenn nichts geschieht? Wenn ich ewig in dieser Dunkelheit gefangen bleibe?‹
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Die Stimme ist verschwunden.
An ihrer statt höre ich einen einzelnen Ton, der sich in Endlosschleife wiederholt.
›Was ist das nur?‹
Es raubt mir den letzten Nerv. Ich möchte mir die Ohren zuhalten, doch ich kann nicht. Ich kann gar nichts, nur sein und ertragen .
›Werde ich verrückt? Was ist denn nur passiert? ... Dieser Krach ... da ist er wieder!‹
Jedes Mal, wenn ich versuche mich zu erinnern, halte ich den Lärm kaum aus, und nun verstärkt sich auch noch das grausame Stechen in meiner Brust, als würde mich etwas innerlich zerreißen.
›Es tut so weh!‹
Ich möchte mich krümmen, schreien, als die Schmerzen mich durchfluten und ich das Gefühl habe, mein Schädel würde jeden Moment platzen.
Doch dann ... dann höre ich ... eine sanfte Melodie? Eine Melodie, die das Gedröhne verdrängt und schließlich ... auflöst.
›Was ist das? Woher kommt dieser Klang?‹
Ich will mich umsehen, aber mein Körper ist schwer wie Blei. Dann endlich erkenne ich es.
›Das ist ... eine Geige. Eine Geige ... in der Finsternis.‹
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Da ist sie wieder, die Stimme, die ich schon einmal gehört habe. Bald darauf ist sie nicht mehr die einzige, die ich höre. Wie ein zarter Lichtfaden zieht sich jeder einzelne Ton in einer anderen Farbe durch meinen schwarzen Horizont, erhellt ihn für einen Moment und verblasst, sobald er verstummt.
Das allgegenwärtige, monotone Piepen hingegen hört sich nach all der Zeit wie ein kleines, gleichtönendes Konzert an, das in einem Takt hängengeblieben ist. Fast so, als würde man nur die ersten zwei Sekunden eines Orchesters in Dauerschleife hören, gelegentlich unterbrochen vom Solospiel der Violine, das sich wie eine Schicht kühlende Salbe auf meine gereizten Nerven legt.
›Wer spielt da? Ist es Musik aus einem Radio? Nein ... das kann nicht sein. Sie ist viel zu nah ... und zum Sterben schön, als würde ein Engel sie spielen. Ein Engel inmitten der Dunkelheit.‹
Da fällt mir plötzlich ein Name ein.
›Anioł ...?‹
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Ich glaube, ich kann mich erinnern.
Die farbigen Stimmen werden deutlicher und so langsam verstehe ich einzelne Worte. Immer wieder fallen Begriffe wie Unfall und Trauma, und je länger ich den Menschen lausche, deren Sprache zu mir durchdringt, desto besser kann ich das Puzzle zusammensetzen.
Dann sehe ich sie, die Absperrung der Baustelle, und mich, wie ich ungebremst darauf zu rase.
Ich hatte einen Unfall, aber ich war nicht allein. Irgendwer war bei mir, doch wenn ich meinen Kopf in meiner Erinnerung zur Seite drehe, ist da nur ein schwarzer Schatten, der mich anstarrt.
›Wer ist das?‹
Auf einmal fühle ich etwas. Die Wärme einer Hand an meiner und dann ... die hellblaue Stimme einer vertrauten Person.
›Das ist ... Finn! Mein Sohn!‹
Als ich ihn endlich erkenne, möchte ich vor Erleichterung weinen, doch meine Augen bleiben trocken. Stattdessen mühe ich mich, all meine Sinne zu konzentrieren und ihm zuzuhören. Auch wenn ich anfangs nur bruchstückhaft verstehe, so begreife ich doch, dass er versucht, mit mir zu sprechen. Er erzählt von den Dingen, die ihn bewegen, von seiner Mannschaft, und immer wieder höre ich einen Satz deutlich heraus: »Dad ... bitte wach auf.«
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Wie viele Tage sind inzwischen vergangen? Dreizehn? Zwanzig? Oder sind es vielleicht sogar schon Monate? Ich schwebe weiter in der Dunkelheit, nur ab und zu geblendet von aufflackerndem Licht, umgeben von Stimmen oder Musik.
›Sie sind da ... da draußen ... sie warten, dass ich zurückkehre. Doch wie schaffe ich das?‹
Seit einiger Zeit folgt dem wortlosen Geigenspiel, das ich manchmal höre, ein angenehm warmes Gefühl auf meiner Wange. Wie ein zarter Kuss, der mich berührt, nur weiß ich nicht, wessen Lippen es sind. Das monotone Piepen beschleunigt sich, mir wird heiß und dann, für einen kurzen Augenblick, wird meine Finsternis von einem Farbenmeer überschwemmt.
»Ich liebe dich, Alex ...«, höre ich plötzlich. »Es wird dir nichts Schlimmes geschehen! Komm zurück. Hab keine Angst!«
Wem gehört diese Stimme? Vielleicht ist es nur meine Fantasie. Eine Einbildung meines kaputten Geistes.
›Was, wenn bereits Jahre vergangen sind? Wenn ich aufwache und mich im Spiegel nicht mehr wiedererkenne? Wenn mein Junge, mein kleiner Finn, erwachsen ist und selbst Kinder hat von einer Frau, die ich nicht kenne? Was, wenn ... mein Engel mich längst verlassen hat?‹
Die Finsternis kommt zurück, droht mich erneut zu verschlucken - Treibsand, der mich Stück für Stück verschlingt.
»Hab keine Angst«, schallt es erneut durch mich hindurch, diesmal nur noch als ein Echo aus vergangenen Tagen.
›Sie werden mich vergessen ... und alles, was ich getan habe ... war umsonst.‹
Auf einmal fühle ich Stoff zwischen meinen Fingern, balle die Hände, um ihn festzuhalten, denn ich spüre, wie ich unaufhaltsam wegdrifte.
›Ich will das nicht! Ich ... ich will mein Leben zurück! Ich will ... zurück!‹
Das Piepen beschleunigt sich und dann sehe ich auf einmal im selben Takt ein rotes Licht blinken. Ich konzentriere mich darauf, halte meinen Blick starr nach vorne gerichtet und endlich realisiere ich, dass meine Augen geöffnet sind.
Sie waren es die ganze Zeit ... ich habe es nur nicht bemerkt.
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Als ich es geschafft hatte, mein Bewusstsein ins Diesseits zu bringen, war es mitten in der Nacht. Ich konnte blinzeln und mit jedem Augenaufschlag nahm meine Umgebung klarere Konturen an. Es war, als hätte ich eine milchige Salbe auf der Hornhaut gehabt. Bei Anbruch der Morgendämmerung schien mein Geist wieder in der Realität angekommen zu sein, denn ich erkannte die Einrichtung eines Krankenhauszimmers, sah den orangefarbenen Linoleumboden sowie die Geräte und Monitore. Mein Körper aber war nach wie vor wie gelähmt. Eine unglaubliche Panik stieg in mir auf, denn genau das ist meine größte Angst: für immer bewegungsunfähig zu sein, ein Pflegefall für den Rest meines Lebens.
Dann spürte ich jedoch ein Zucken in meinen Händen und konnte ganz leicht die Finger bewegen. Bevor meine Freude darüber allerdings zu groß werden konnte, brandeten Schmerzen in meinem Körper, die ich vorher nicht realisiert hatte. Es dauerte noch mehrere Stunden, bis ich es schaffte, meine Hand zu heben und einen der Stecker herauszuziehen, was umgehend den Alarm auslöste.
Schwestern, Pfleger und Ärzte erschienen, die mich umlagerten, Schläuche aus meinem Körper zogen, mit mir sprachen und Tests durchführten. Sie ließen mich Fragen beantworten: Wie ich heiße, welches Jahr wir haben und wo ich wohne ... Einer der Ärzte erklärte mir dann, was passiert war, dass ich durch den Unfall ein Polytrauma erlitten und nun seit über sieben Wochen im Koma gelegen hatte. Glücklicherweise haben sie mir gleich den Beatmungsschlauch entfernt, weshalb ich halbwegs normal reden konnte, auch wenn ich mich anhörte, als hätte ich fünf Bier intus und die ganze Nacht hindurch geschrien.
Als ich ihn nach der Unfallursache fragte, schaute er in seine Akte, hob dann den Kopf und musterte mich skeptisch, bevor er neutral antwortete: »Sie haben wohl am Steuer telefoniert und waren deshalb abgelenkt, sodass Sie auf der Stadtautobahn, auf der Sie unterwegs waren, dann eine Baustelle nicht rechtzeitig bemerkten.« Meine Erinnerungen waren also korrekt. Auf meine nächste Frage, ob da jemand mit mir im Auto gesessen und ob derjenige überlebt hatte, antwortete er nur mit einem Kopfnicken. »Ihr Sohn wurde schon benachrichtigt und ist auf dem Weg. Der kann Ihnen dann alles Weitere erzählen!« Darauf klappte er seine Akte zu und ging.
Seitdem liege ich hier und warte.
Ich freue mich darauf, Finn zu sehen, doch irgendetwas in meinem Unterbewusstsein schreit mir zu, dass der Hammer noch kommen wird.
›Warum hat mich dieses Telefonat so sehr abgelenkt, dass ich einen Unfall gebaut habe? Bei der Arbeit habe ich doch ständig mit der Zentrale gesprochen, während ich gefahren bin? Und wer saß da neben mir im Auto?‹
Plötzlich klopft es.
Mein Herz schlägt augenblicklich schneller, als eine der Schwestern von heute Morgen das Zimmer betritt und Besuch ankündigt. Hinter ihr sehe ich dann zwei Personen hereinkommen. Als sich die erste auf gut drei Meter genähert hat, erkenne ich Finn.
»Hi Dad«, höre ich ihn flüstern und gleich darauf wischt er sich übers Gesicht. »Wie fühlst du dich?«
»Blendend«, antworte ich kratzig, mit ironischem Unterton. Prompt bekomme ich von der Schwester eine Schnabeltasse mit Wasser gereicht.
»Ich hab immer wieder mit dir gesprochen, dir erzählt, was gerade passiert ... Hast du mich gehört?« Ich nicke, auch wenn ich zu der Zeit fast keines seiner Worte verstanden hatte. Dass er mir immer wieder mal etwas berichtet hat, habe ich definitiv mitbekommen. Er scheint erleichtert, denn er nimmt meine Hand. »Ich wusste es! Es fiel mir nur sehr schwer, frei heraus zu erzählen, ohne eine Reaktion von dir zu bekommen, aber jetzt ... jetzt hab ich das Gefühl, wir könnten stundenlang reden.« Dabei schnieft er und wischt sich erneut übers Gesicht.
Es bedrückt mich unendlich, ihn so zu sehen. So kenne ich ihn gar nicht und es tut weh, zu wissen, dass ich ihm solchen Kummer bereite.
Die noch immer anwesende Schwester holt einen Stuhl, damit Finn sich setzen kann. Sein Begleiter hingegen bleibt weiter auf Abstand und scheint sich lieber zurückhalten zu wollen.
»Ich lasse Sie jetzt allein, aber überanstrengen Sie Ihren Vater nicht«, sagt die Schwester zu meinem Sohn und gibt ihm die Schnabeltasse mit dem restlichen Wasser. »Wenn etwas ist, klingeln Sie bitte.«
»Ja, danke. Werde ich machen.« So kleinlaut hab ich ihn noch nie erlebt, doch sobald sie den Raum verlassen hat, stellt er das Getränk beiseite und umarmt mich erst mal, so gut es geht. »Ich bin so froh, dass du aufgewacht bist!«, flüstert er dabei. »Ich dachte ... dachte schon fast ... dass du nie wieder zurückkommst!«
»Schon gut«, krächze ich leise und will die Hände auf seinen Rücken legen, was mir trotz aller Mühe aber nur halbseitig gelingt. »Ich ... ich werd schon wieder ... keine Angst.« Meine Stimme klingt noch immer sehr angegriffen, fast tonlos und er muss sich sichtlich anstrengen, mich zwischen all dem Gepiepe der Geräte richtig zu verstehen. Trotzdem scheint er bei jedem einzelnen Wort, das ich von mir gebe, erleichtert aufzuatmen. »Der Unfall ... der Arzt hat gesagt ... ich war sieben Wochen ... im Koma?«
»Ja ... du hast meinen Geburtstag verpasst.« Finn schnieft kurz und lächelt danach. »Aber das ist überhaupt nicht schlimm! Dass du wieder aufwachst, war eh das Einzige, das ich wollte.« Und das von einem Siebzehnjährigen! Andere wünschen sich die Finanzierung ihres Führerscheins samt erstem Auto.
»Es tut mir ... so leid«, keuche ich. »Der Druck ... muss furchtbar gewesen sein.«
»Ja, es war übel ... aber du brauchst dir keine Sorgen machen! Ich hab mich um alles gekümmert! Deine Wohnung, deine -«
»Hatte ich ... einen Beifahrer?«, unterbreche ich ihn übergangslos und spüre ein angespanntes Zittern in meiner Stimme, während sich all meine Muskeln verhärten. »Da war doch jemand ... mit mir im Auto, oder? Geht ... geht es ihm gut? Oder ... ist er ... hab ich ihn -«
»Ich bin hier«, höre ich auf einmal eine leise Stimme, die mindestens genauso nervös klingt wie meine .
Finn dreht sich um und macht mir damit die Sicht frei. »Keine Angst, du hast ihn nicht gekillt«, stellt er fast schon unbekümmert fest und lacht sogar.
Sein Begleiter nähert sich uns zögerlich, doch es scheint ihm enorm schwerzufallen. Es ist ein junger Mann, blass wie eine Leiche, und erst als er direkt vor mir steht, überfluten mich hunderte von Erinnerungen.
»Lu-Lucian?«
»Hi«, bringt er schließlich leise hervor und hebt zaghaft seine rechte Hand.
»Bis vorhin hatte er noch einen Gips um den linken Arm«, verrät Finn. »Der war nämlich gebrochen. Aber sonst gehts ihm gut.«
Geschockt sehe ich Lucian an und entdecke nun auch die übrigen Verbände. »Ich ... das ... das tut mir so leid. Ich ... ich wollte nicht, dass -«
»Es war nicht deine Schuld!«, beschwichtigt er mich sofort und umarmt mich ebenfalls. Seine Stimme erstrahlt vor meinem inneren Auge in hellen Grüntönen und mir ist klar, dass auch er oft bei mir gewesen sein muss. »Alles, was zählt, ist ausschließlich, dass du noch bei uns bist und gesund wirst.«
»Aber ... dieser Anruf ... Marian ... sie hat mir erzählt ... Moment! ... Kiel !!!« Endlich fällt es mir wieder ein. Er war es, der so wüste Anschuldigungen gegen mich erhoben hat, und mein Blut kommt augenblicklich in Wallung. Die Überwachungsgeräte geben auf der Stelle Warnsignale von sich und meine beiden Besucher wollen mich beruhigen.
»Dad, es ist alles in Ordnung ! Der Prozess -«
»Prozess ?« Ich starre ihn an. »Was für ein Prozess?«
Nun ist es Lucian, der sich zu mir ans Bett setzt und versucht, es mir zu erklären. »Alex, während du im Koma lagst, hat dieser Kiel einen Indizienprozess gegen dich in die Wege geleitet.«
»Was??? « Spätestens jetzt bin ich wach.
Plötzlich beginnt eines der Geräte, mit dem ich noch immer verbunden bin, wie wild zu piepen, und nur wenige Sekunden später kommt die Schwester erneut hereingestürzt.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt sie forschend und schaltet das Gerät aus, doch selbst als ich nicke, kontrolliert sie meinen Puls und schüttelt den Kopf. Dann wendet sie sich an die anderen beiden im Raum. »Sie sollten jetzt erst mal gehen! Die Gespräche mit Ihnen wühlen Herrn Enders zu sehr auf und überfordern ihn. Sein Zustand ist noch immer kritisch!«
Da mich die zwei sofort schuldbewusst ansehen, will ich sie in Schutz nehmen. »Nein, nein, die beiden haben nichts Schlimmes getan! Es ist nur die allgemeine Situation, wegen der -«
»... Sie jetzt wieder Ruhe brauchen!«, unterbricht mich die Intensivschwester mit strengem Blick, und so schnell, wie die beiden Jungs spuren, kann ich kaum gucken. »Wir kommen morgen wieder!«, verspricht Finn im Abflug und schon sind sie weg.
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›Hätten sie mir es doch bloß sofort erzählt!‹
Ich konnte nicht schlafen. Die ganze Zeit über hab ich mir den Kopf zerbrochen, und als die beiden am nächsten Tag wiederkommen, würde ich sie am liebsten lynchen, weil sie mich mit diesem Halbwissen haben liegen lassen.
»Ah! Da seid ihr ja endlich!«, begrüße ich sie und nehme sie diesmal sofort in die Mangel, falls sie in zehn Minuten wieder rausgeschmissen werden. »Wärt ihr bitte so nett und klärt mich jetzt wegen dieser Indizienprozesssache auf?«
»Eigentlich wollten wir erst mal hören, wie es dir heute geht?«, lenkt Finn ab und scheint mich nicht wieder sofort auf die Palme bringen zu wollen, aber seine Vermeidungstaktik bewirkt bei mir genau das, also kann er mir auch gleich die Wahrheit ins Gesicht knallen!
»Mir gehts gut, danke! Den Umständen entsprechend! Also, leg los!« Dass ich mich beim Essen wie ein Dreijähriger angestellt habe und mir selbst das Schlucken noch schwerfällt, gebe ich natürlich nicht zu .
Finn atmet durch, zieht seine Jacke aus und setzt sich neben Lucian, der bereits an meinem Bett Platz genommen hat. »Erinnerst du dich denn, was ein Indizienprozess ist?«
»Natürlich«, schnaufe ich. »Ein Verfahren, in dem das Gericht bei seiner Entscheidungsfindung allein auf Beweisanzeichen angewiesen ist.«
Er nickt. »Genau. Und Hauptstück des Indizienbeweises ist nicht die eigentliche Indizientatsache, sondern der daran anknüpfende Denkprozess, Kraft dessen auf das Gegebensein der rechtserheblichen Tatsache geschlossen wird. Grässliches Beamtendeutsch, ich weiß, aber so hast du es mir damals erklärt.«
Lucian mischt sich sofort beschwichtigend ein: »Das Wichtigste ist, dass der Richter, der den Prozess in deiner Abwesenheit leitete, die Indizien als unzureichend eingestuft hat!« Er sieht mich ernst an. »Deine Kollegin Marian hat sich riesige Vorwürfe wegen ihres Anrufs und dem Unfall gemacht und Finn deshalb dabei geholfen, dir einen sehr guten Verteidiger zu besorgen. Der hat dich vertreten und alle, die irgendwie Mitspracherecht hatten, mich eingeschlossen, in den Zeugenstand gerufen. So konnte ein Vorwurf nach dem anderen entkräftet werden.«
Finn stimmt ihm zu. »Ja, du hast Lucian nach der Unterbringung im Obdachlosenheim zwar bei dir wohnen lassen, aber das an sich ist keine Straftat, und da sich diese Information auf dein Privatleben bezieht, warst du auch nicht verpflichtet, Kiel darüber zu unterrichten.«
»Genau. Und die gelöschten Bilder konnte ein IT-Spezialist aus dem Speicher der Karte wiederherstellen, weil die noch nicht überschrieben waren. Als der Richter sah, was drauf war und deine persönliche Verbindung zu Lucian nachvollzogen hat, war auch klar, dass du sie nicht gelöscht hast, weil du Beweismittel vernichten wolltest, sondern um Lucians Privatsphäre zu wahren. Das war zwar nicht ganz in Ordnung, aber auch kein Grund für eine Verurteilung.«
»Außerdem hat der Verteidiger die Aufzeichnungen der Videoüberwachung aus deinem Dienstwagen verwendet, um anhand unserer Gespräche den Nachweis zu erbringen, dass wir uns eben nicht vorher gekannt haben. Auch dass du in Kiels Büro Fotos gemacht hast, war aufgrund deines privaten Interesses an dem Fall nachvollziehbar -«
»Wenn auch ebenfalls nicht ganz in Ordnung.«
»Ja, aber letztendlich wurde der Prozess zu deinen Gunsten entschieden. Um dich wegen Unterschlagung von Beweismitteln oder Behinderung seiner stümperhaften Arbeit dranzukriegen, hätte Kiel ein zweites Verfahren anstreben müssen und das hat er sich nach der Blamage nicht mehr gewagt.«
Ich bin vollkommen baff und weiß nicht, was ich sagen soll, außer: »Ähm ... tja ... manche Probleme lösen sich wohl doch im Schlaf.«
»Oh ja!«, stimmt Finn zu und lacht. »Also komm mir nie wieder damit, ich müsse früh aufstehen, um aus meinem Leben etwas zu machen!«
»Na ja, ganz so allgemein ... kann man das auch nicht sehen!« Ich schnaufe nur und schüttle den Kopf. Nun hat mein Sohn für immer und ewig eine Ausrede für seine Faulheit.
»Auf jeden Fall brauchst du keine Sorgen mehr zu haben, dass dir der Wichser nochmal auf den Pisser geht!« Lucian grinst ebenfalls siegesgewiss. »Da so gut wie alle in deiner Abteilung für dich waren und Kiel danach als Kollegenschwein und Ähnliches betitelt haben, war ihm die Sache wohl derart unangenehm, dass er sich hat versetzen lassen. Jetzt wohnt er bei einem Cousin in Afrika! Hahaha!«
»Afrika ?« Nun lachen sie beide, doch ich starre sie nur ungläubig an. »Ist das euer Ernst?«
»Jaaaa!«, grölt Finn und kriegt sich kaum ein. »Das liegt in der Gemeinde Flieth-Stegelitz bei Angermünde, aber es ist der Brüller auf deiner Wache! Kiel sitzt jetzt in Afrika und seziert vertrocknete Eidechsen
Ich kann es kaum glauben. Erschöpft von dieser Informationsflut sinke ich zurück ins Kissen, aus dem ich mich vor Anspannung Stück für Stück emporgedrückt habe. Da denke ich, mein Leben geht völlig den Bach runter, gehe fast drauf, breche Lucian den Arm ... und danach ist plötzlich alles super [Fußnote 1] ? »Das klingt viel zu schön, um wahr zu sein.«
»Ist es aber!« Finn hebt den Zeigefinger. »Du brauchst dich jetzt nur noch auf dich selbst zu konzentrieren, damit du möglichst schnell wieder auf die Beine kommst!«
»Aber ... der Fall ... was ist mit -«
»Die Ermittlungen wurden vorerst eingestellt«, unterbricht mich Lucian und drückt vorsichtig meine Hand. »Belassen wir es dabei und sehen nach vorn.«
»Ja«, keuche ich und versuche nun ebenfalls zu lächeln. »Nach vorne sehen klingt gut.«
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»Home sweet home«, ächze ich schnaufend, als ich, knapp zwei Wochen später, endlich die letzte Treppenstufe vor meiner Wohnungstür erklommen habe.
Lucian läuft sofort um mich herum und greift mir unter den Arm. »Warte, ich stütz dich bis zum Sofa!«, sagt er und gibt Finn den Schlüssel, damit er vor uns aufschließt.
»Na dann, immer rein in die gute Stube!« Mein Sohn läuft vor und zieht rasch die Badezimmertür zu. Wahrscheinlich liegen noch ein paar seiner miefigen Socken darin. Sobald ich an der Tür vorbeigehe, rümpfe ich trotzdem die Nase, denn ein grausam beißender, muffiger Geruch weht mir um den Riechkolben.
»Mal ehrlich ... ich weiß, Jungs haben es nicht so mit Putzen, aber hätte es euch umgebracht , wenigstens einmal das Klo zu schrubben? Alter Falter! Das stinkt, als hättet ihr drei Wochen lang nicht gespült! «
Lucian wird neben mir immer kleiner und sagt nichts, doch sein Blick spricht Bände.
Im Gegensatz zu ihm leiert Finn trotzig wie eh und je: »Wir haben geputzt!« Er meidet jedoch den Augenkontakt zu mir und zieht im Vorbeigehen noch eine seiner Unterhosen von meinem Couchtisch. »Zwei Mal sogar!«
»Wow!« Während ich mich in meinem sonst so ordentlichen Wohnzimmer umsehe, verkneife ich mir aufzuschreien. »Wie lange? Waren es fünf Minuten oder zehn?« Sämtliche Glasoberflächen und Spiegel sind mit breiten Schlieren übersät und sehen aus, als hätten sie die mit Butter eingerieben! Überall liegen Klamotten rum, außerdem muffige Bettwäsche auf dem Sofa sowie Kissen auf dem dreckigen Boden. Staub lagert in mindestens drei Schichten auf den Regalen und dicke Flusen sammeln sich an den Randleisten. »Alleine die Wollmäuse in der Ecke da sind so groß wie Tennisbälle ! «
Erst in diesem Moment wird mir klar, dass die zwei während meiner Abwesenheit hier in meiner Bude gewohnt haben müssen.
»Ja gut ... also gesaugt haben wir jetzt nicht so oft«, gibt Finn zu und zuckt dabei wenig schuldbewusst mit den Schultern. »Aber immerhin haben wir versucht, Staub zu wischen!«
»Und was habt ihr dafür benutzt? Margarine?« Angeekelt streiche ich mit dem Zeigefinger über die schmierige Glasplatte meines Sideboards, die, wie ich jetzt erst erkenne, auch noch völlig zerkratzt ist. »Oder in Schmalz getunkte Stahlwolle?«
»Scheuermilch ... und einen Abwaschschwamm«, gesteht Lucian schließlich kleinlaut und führt mich zur Couch, damit ich mich setzen kann, was auch dringend nötig ist.
»Ist das euer Ernst?« Ich weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll. »Jungs, ich liebe euch wirklich, aber was seid ihr denn für Intelligenzlegastheniker ? Man putzt doch Glas nicht mit Scheuermilch !!! Die ist zum Scheuern da, sonst würde sie sanfte Wienermilch heißen!«
»Was anderes war aber nicht da«, kontert Finn schnippisch und verschränkt die Arme, während er laut auf seinem Kaugummi herumschmatzt. »Was können wir denn dafür, dass du keine Reinigungsmittel hast?«
»Ich habe Reinigungsmittel! Im Büro ! Unten im Aktenschrank, in der weißen, großen PVC-Box!«
Finn reißt die Arme hoch. »Wer lagert denn bitte seinen Putzscheiß im Büro? Wie hätten wir den Kram finden sollen? Das macht doch null Sinn!«
»Man kann Sinn nicht machen , Finn! Sinn ergibt sich und Glasreiniger kostet verdammt nochmal keine zwei Euro!!! Also, wer von euch beiden ist auf die bekloppte Idee gekommen, Scheuermilch zu verwenden?«
»Es tut mir leid«, entgegnet Lucian plötzlich und sieht mich so schuldbewusst an, dass ich ihm schon wieder vergeben habe, meinem provokanten Rotzlöffel aber nicht! Der wirft seinem Schmutzkumpel nämlich einen regelrecht strafenden Blick zu, als würde er ihn dafür verurteilen, dass er eingeknickt ist und sich entschuldigt hat.
»Weicheimer!«, zischt er ihm zu. »Worüber diskutieren wir hier eigentlich?« Finn ändert die Taktik und reißt erneut die Arme nach oben. »Wir sollten feiern und einfach glücklich sein, dass du überhaupt nochmal lebend deine Bude siehst ... und sie nicht verloren hast, während du im Koma lagst!« Dabei hat er diesen typischen ich hab alles getan, was ich konnte, also lass uns den Streit beenden und einen Versöhnungskeks essen - Ausdruck im Gesicht.
»Na schön.« Ich reibe mir über die schmerzende Stirn und umkreise vorsichtig mein Pflaster. Ich sollte mich nicht so aufregen. Es sind nur Gegenstände. Teure Designer-Gegenstände, die ich mir sehr lange zusammengespart habe und die jetzt völlig zerkratzt und im Arsch sind – aber egal!
»Es ist meine Schuld!«, gibt Lucian schließlich zu. »Ich hatte schon vor dem Unfall fast alles aufgebraucht und dann nichts nachgekauft.« Er sieht aus, als würde er jeden Moment auf die Knie fallen und um Vergebung betteln wollen, also lasse ich die Sache auf sich beruhen.
»Schon gut. Erinnere mich doch bitte daran, nachher noch bei meiner Krankenkasse anzurufen und eine Haushaltshilfe zu beantragen, ja?«
»Ja«, seufzt er und hilft mir dabei, die Schuhe auszuziehen. »Wie lange kann die für uns putzen?«
»Vier Wochen, soweit ich weiß ... aber so, wie ich das Chaos hier überblicke, schafft sie es vielleicht auch in zwei.« Zum Glück merkt er, dass es ein Scherz ist, und lächelt mich schief an.
»Ich werde mein Bestes geben und sie beim Saubermachen unterstützen!«
Finn stöhnt theatralisch. »Kannst du ihm bitte später in den Arsch kriechen, wenn ich nicht mehr zusehen muss?«
Nun stemmt selbst Lucian bockig seine Hände in die Seiten. »Ey, ich denke, es ist das Mindeste, dass wir das Chaos hier wieder beseitigen. Immerhin haben wir -«
»Ja, ja, is gut Schmachtmops!«, unterbricht er ihn. »Du bist auf’n Versöhnungsfick aus, schon klar, aber erzähl ihm lieber vorher noch von Herrn Jemine, sonst erschreckt er sich zu Tode, wenn er mal aufs Klo muss.«
»Herr was ?« Mit großen Augen sehe ich Lucian an und frage mich, ob er seinem letzten Häufchen einen Namen gegeben hat.
»Ich ... also ...« So, wie er herumdruckst, wird mir immer unwohler. »Im ... im Bad ist ... ein Nagetier mit Kanalisationshintergrund!«
Ich hebe die Augenbrauen. »Ein was
Betreten knibbelt er an seinen Fingern herum. »Eine klitzekleine Ratte.«
»Da ist eine Ratte in meinem Klo???«
»In der Badewanne!«, korrigiert mich Finn, als würde es das irgendwie besser machen. »Es ist Lucys neues Haustier! Ich hab es ihm geschenkt und wehe, du nimmst es ihm weg! Herr Jemine hat ihm die ganze Zeit beigestanden, als du im Koma lagst!«
Er versucht mir offensichtlich ein schlechtes Gewissen zu machen, erfolgreich, wie ich zugeben muss, doch ich kenne die Tour von ihm und da mache ich nicht mit!
»Ich will aber keine Ratte in meiner Wohnung! Von mir aus nimm du sie mit und bring sie halt ab und zu als Besuch mit her, aber wohnen wird sie hier nicht! Erst recht nicht in meiner Badewanne! Das ist doch keine artgerechte Haltung!«
»Dann kauf halt einen Käfig und stell ihn auf’n Balkon
»Man kann eine Hausratte nicht auf dem Balkon halten«, wende ich ein. »Die sind viel zu temperaturempfindlich! Und außerdem sind es Rudeltiere , sodass wir mindestens noch eine zweite anschaffen müssten!«
»Und?« Finn zuckt mit den Achseln. »Würde dich das umbringen? Für den gebrochenen Arm ist das doch wohl das Mindeste!«
Schach und matt.