Kapitel 3 - Wenn alles endet
16. Juni 2017 – Berlin.
»Alex, schau mal!« Voller Stolz hält mir Lucian eine hellrot gefleckte Ratte unter die Nase und quietscht dabei, als wäre er selbst eine. »Ist die nicht süüüüß
Leicht genervt massiere ich mir die linke Schläfe, die massiv zu pochen beginnt. »Lucy ... ist das dein Ernst? Das ist jetzt die dritte in vier Monaten!«
Sofort macht er Kulleraugen. »Aber das ist ein Fawn !!! Ein Freund von Finn hat mir den geschenkt! Die sind suuuuuper selten, soooooo schön und ganz seidig! Hier, guck!!!« Verzückt hält er mir den kleinen Stinker gleich nochmal vors Gesicht, aber ich verdrehe nur die Augen und schaue dann zur Decke, denn ich ertrage seinen Dackelblick nicht.
»Lucy, bitte ! Ich kann den Käfig nicht erweitern und mehr Platz haben wir einfach ni-«
»Der Käfig reicht locker für zehn!«, unterbricht er mich. »Außerdem hat Herr Jemine nicht das ewige Leben und ich kann doch Mister Möhrlin dann nicht alleine halten! Ich verspreche auch hoch und heilig, dass die hier die letzte ist!!!«
Keine Ahnung, was er mir in Bezug auf das Lebensalter seines ersten Ratterichs weismachen will, aber bereits jetzt weiß ich, dass ich sowieso nicht nein sagen kann, also nehme ich sein heiliges Versprechen lieber an. »Na schön! Aber egal, was passiert, das ist das letzte Haustier, das du hier anschleppst! Wenn die drei tot sind, kaufen wir eine Katze , so wie vereinbart!«
»Ja, ja, ja!!!« Lucian strahlt überglücklich, drückt erst der rotblonden Ratte einen Schmatz auf und dann mir, der die Reihenfolge mal so gar nicht geil findet. Aber zumindest bin ich mir sicher, dass er keins dieser Nagetiere mehr annimmt, wenn erst deren natürlicher, nicht stinkender Feind bei uns wohnt. Und ja, das war meine geniale Idee!
Stöhnend stemme ich nun die Hände in die Hüften. »Und? Wie heißt unser neuer Mitbewohner?«
»Ich hab ihn Tumor genannt!«, gluckst Lucian. »Wegen der Farbe ... und weil er einem so schnell ans Herz wächst!«
»Entzückend«, grolle ich und zeige auf den Käfig. »Wärst du jetzt so freundlich, ihn zu vergesellschaften? Ich würde dann gerne mit dir die Jobanzeigen durchgehen.«
»Ja!«, flötet er fröhlich, und während er die Fellwurst den anderen vorstellt, hole ich meinen Laptop. Lucian hat mir versprochen, sich neu zu orientieren, wenn ich akzeptiere, dass er nur Jobs macht, die ihm Freude bereiten. Zur Zeit gibt er Kindern Geigenunterricht bei uns zu Hause und ist auch sehr beliebt, doch an Geld kommt nicht viel dabei rum. Das ist aber wichtig, denn schließlich soll er ja nicht von mir abhängig sein. »So, da bin ich«, sagt er wenige Minuten später und setzt sich neben mich.
»Na das ging ja schnell. Ich staune, denn ehrlicherweise war ich überzeugt, die beiden älteren Herren gehen erst mal auf den kleinen Rotschopf los, doch Lucian scheint ganz entspannt.«
»Nö, alles gut. Mister Möhrlin hat ihn sich gleich gekrallt und gegen Herrn Jemine verteidigt. Dann hat er ihn in seine Butze geschleift und von oben bis unten abgeschleckt.«
»Aha.« Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen. »Genau wie bei uns, hm?«
»Ja«, stimmt er mir ebenfalls kichernd zu. »Ich glaub, er mag ihn.«
»Na gut! Also dann wollen wir mal!« Damit starte ich schließlich die ernste Stunde des Tages und schiebe meinem Liebsten den Laptop zu. »Schau mal! Hier hab ich dir schon ein paar interessante Stellen rausgesucht. Überflieg die doch mal und sag mir, was du von ihnen hältst.«
Lucian schnauft wenig begeistert, aber er lässt sich drauf ein, ohne zu meckern. Mittendrin scheint ihn jedoch ein Gedanke nicht mehr loszulassen, denn er schaut mich fragend an. »Du sag mal ... wolltest du eigentlich schon immer Kriminalbeamter werden?«
»Nein. Genau genommen hab ich den Beruf nur ergriffen, weil meine Eltern Kriminalhauptkommissare waren, und irgendwie wurde von mir erwartet, dass ich das ebenfalls mache. Ich hab mich einfach nie dagegen gewehrt.«
»Heißt das, du hattest auch nie den Wunsch, etwas anderes zu machen?«
»Doch, schon«, antworte ich achselzuckend. »Aber das waren nur so spielerische Ideen ... nichts gut Durchdachtes oder -«
»Was war es?«, fällt mir Lucian aufgeregt ins Wort und wirkt richtig hibbelig. »Sag schon! Was wolltest du tun?«
Augenblicklich spüre ich, wie meine Wangen warm werden und ich ein wenig erröte. »Ich ... wollte eine Blues-Bar für Schwule mit Live-Musik eröffnen.«
»Eine Blues -Bar?« Lucian lacht los und kann kaum wieder aufhören. »Warum ausgerechnet Blues ? Das ist doch so traurig! Sollen da alle zum Heulen hinkommen?«
»Blues ist die Sprache der Seele!«, verteidige ich meinen heimlichen Traum. »Es gibt ja nicht nur den klassischen Blues mit Klavier und Saxophon. Auch Geigen kommen häufig beim Blues zum Einsatz! Und nicht jeder Homo will abends in einen dieser völlig überdröhnten Bumsclubs mit eintöniger Wummermucke.«
»Na dann ... eröffnest du eben eine Blues-Bar und ich spiele dort jeden Abend ein Geigensolo!« Er streckt die Brust heraus und scheint das in seinem jugendlichen Leichtsinn wirklich ernst zu meinen. »Du kümmerst dich um die Bar und ich kellnere, wenn ich nicht gerade spiele!«
»Und du denkst, dass du das schaffen würdest?« Skeptisch sehe ich ihn an und kann gar nicht glauben, dass ich jetzt tatsächlich ernsthaft darüber nachdenke! »Geregelte Arbeitszeiten, zuverlässige Absprachen, manchmal auch Stress und Leistungsdruck, wenn viel los ist? ... Kopfrechnen?«
Lächelnd zieht er die Füße zu einem Schneidersitz auf die Couch. »Teste mich doch! Ich war schon immer gut in Mathe!«
»Na schön ... 2,99 plus 5,49 plus 12,99!«
Kurz schaut Lucian in die Luft, nickt mit dem Kopf, als wenn er jeder Zahl guten Tag sagen will, und bewegt zusätzlich die Finger im Schoß. Parallel zu ihm löse ich die Aufgabe mit dem Taschenrechner auf meinem Smartphone.
»21 Euro und 47 Cent! Richtig?«
»Richtig!«, sage ich verblüfft. »Und das ohne Zettel und Stift, wow!«
»Siehste!« Stolz hebt er den Kopf. »Nur bei den 49 oder 99 Centbeträgen komm ich vielleicht mal durcheinander.«
»Na ja, wenn es irgendwann gut läuft und viele Gäste da sind, könnte man auch glatte Beträge nehmen, um das Ganze zu vereinfachen.«
»Oder es so machen, dass die Leute nur an der Bar bestellen und die Getränke und Snacks selber mit an den Platz nehmen.« Lucian kriegt richtig leuchtende Augen und wird immer euphorischer. »Dann helfe ich dir hinter der Bar und spüle zwischendurch die Gläser.«
Lachend nicke ich. »Ja, das könnte wirklich klappen.«
›Das ist komplett hirnrissig! Ich habe einen superbezahlten Job, in den ich, wenn der Arzt grünes Licht gibt, nächsten Monat wieder einsteigen kann. Trotzdem denke ich darüber nach, einen fetten Kredit aufzunehmen, mich selbstständig zu machen und eine Bar zu eröffnen, obwohl ich keine Ahnung habe, ob sie laufen wird oder nicht.‹
»Na ja, aber vielleicht sollten wir uns lieber über realistische Ziele Gedanken machen«, lasse ich meiner rationalen Seite freien Lauf. »Also, wenn du nicht Musik studieren willst, was möchtest du dann tun?«
»Mit dir eine Bar eröffnen!«, entgegnet er trotzig und schiebt die Unterlippe vor. »Das wäre der Hammer! Willst du denn den Rest deines Lebens Tatorte untersuchen und in Leichen herumstochern, oder für Menschen da sein und sie glücklich machen? Was glaubst du, würde dich mehr erfüllen und zu deinem Seelenfrieden beitragen?«
›Dieser kluge, kleine Scheißer .
»Und dein Seelenfrieden? Glaubst du, ich würde glücklich werden, wenn ich weiß, dass du jeden Tag heimlich abhaust, um deiner Mutter Geld für Drogen zu bringen? «
Augenblicklich lässt er den Kopf hängen und scheint sich zu erinnern, dass da ja noch etwas war.
»Es ist ja nicht nur dafür«, flüstert er bedrückt. »Ich kaufe auch Essen für sie ... und Schmerzmittel ... und Zigaretten ... und ihren Lieblingswein.«
Da werde ich hellhörig. »Wie viel Wein trinkt sie denn so in der Woche?«
Lucian zuckt mit den Achseln. »Ich weiß nicht. So viel sie eben kriegen kann, schätze ich. Sie trinkt aber erst, seit wir auf der Straße sitzen. Auf jeden Fall fragt sie immer danach, und wenn ich ihr zwei oder drei Flaschen mitbringe, sind die am nächsten Tag weg.«
Ich glaube, jetzt weiß ich, wo das eigentliche Problem liegt! Auch für Frauen gibt es nämlich Notunterkünfte, Tagesstätten und Betreuungsstellen für eine kurzfristige Unterbringung. Des Weiteren spezielle Wohnheime und betreutes Wohnen als dauerhafte Lösung, vor allem, wenn die Damen nicht mehr dazu in der Lage sind, sich selbst zu versorgen. Doch in all diesen Einrichtungen herrscht ein striktes Alkohol- und meist auch Rauchverbot, deshalb lehnen viele eine Beherbergung dort ab und sitzen lieber weiter auf der Straße. Leider sind oftmals genau diese Menschen Meister darin, andere für ihre Probleme verantwortlich zu machen, und Lucian lässt sich voll auf dieses Schuldgefühl ein.
»Du fühlst dich für sie verantwortlich, stimmts?« Er nickt, wenn auch erst nach kurzem Zögern. » Glaubst du, dass du für ihr Schicksal zuständig bist? Dass du es verbesserst , indem du ihr Geld und ihre Suchtmittel bringst?«
Er schaut auf und sieht mich fragend an. »Was meinst du damit?«
Es ist hart, aber ich befürchte, wenn ich hier nicht bei der Wahrheit bleibe, wird er ihre Bedürfnisse auch künftig über seine eigenen stellen.
»Na ja, ich frag mal so: Denkst du, dass sie jemals von den Drogen und dem Alkohol loskommen und eine Wohnung finden wird, wenn du ihr weiterhin alles vor die Füße legst?«
Verdutzt starrt mich Lucian an und ich höre richtig, wie es in seinem Kopf klick macht. »Aber ... aber ich kann sie doch nicht einfach sich selbst überlassen! Nur wegen mir musste sie ihren Entzug abbrechen und -«
»Ich mache dir einen Vorschlag!«, unterbreche ich ihn. »Wenn ich deiner Mutter einen neuen Platz in einer Entzugsklinik besorge und sie danach eine Wohnung sowie Sozialhilfe oder Hartz 4 erhält, würdest du ihr dann die Chance geben, sich wieder selbst um ihr Leben zu kümmern?« Lucian sieht mich an, als würde ich von ihm verlangen, sie zu erschießen, also erweitere ich mein Angebot. »Natürlich könntest du sie nach dem Entzug auch wieder besuchen! Währenddessen ist es schwierig, denn da soll sie sich voll und ganz auf ihre Therapie konzentrieren, aber im Anschluss wäre es kein Problem. «
»Und du glaubst, das könnte sie schaffen?«, hakt er kritisch nach und ich nicke, obwohl die Statistiken das Gegenteil bezeugen.
»Wenn sie es will, dann wird sie es schaffen! Wenn nicht, dann ist es zumindest nicht mehr deine Schuld, denn du hast ihr mit meiner Hilfe einen neuen Entzug und einen neuen Start ins Leben ermöglicht!«
»Aber ...« Er druckst herum, wahrscheinlich weil er genau weiß, dass sie das eigentlich gar nicht will. »Sie hat schon seit zwei Jahren keine Krankenversicherung mehr und auch kein eigenes Bankkonto! Ohne Adresse kann sie auch gar keine Sozialhilfe -«
»Hat sie dir das erzählt?«, frage ich direkt und reibe mir über die Stirn.
»Ja.« Er wirkt gerade etwas bockig.
»Hör zu! Deine Mutter hat Anspruch auf Sozialhilfe oder Hartz 4 - Leistungen, je nachdem, ob sie noch mindestens drei Stunden am Tag arbeitsfähig ist oder nicht. Ein eigenes Konto ist nicht notwendig, um den täglichen Bedarf finanziell sichern zu können, denn den obdachlosen Menschen können die Gelder auch direkt im Jobcenter ausgezahlt werden, in Tages- oder Wochensätzen. Auch der Nachweis von einem festen Wohnsitz ist nicht zwangsläufig vonnöten.«
»Natürlich ist er das!«, wirft Lucian ein. »Wo sollen die Sachbearbeiter denn sonst ihre Bescheide hinschicken? Ohne Bescheid keine Auszahlung!«
»Ja, der Bewilligungsbescheid wird in aller Regel per Post zugestellt, das ist richtig. Aber Obdachlose können beispielsweise in Absprache die Adresse einer karitativen Einrichtung angeben, welche den Brief dann entgegennimmt. Im Fall deiner Mutter wäre das erst mal die Entzugsklinik und danach das Frauenwohnheim.«
»Und die Krankenversicherung?« Er scheint es einfach nicht glauben zu wollen, dass seine Mutter bereits die ganze Zeit schon hätte Hilfe erhalten können.
»Normalerweise ist die Krankenversicherung für die Erstattung einer Entzugskur zuständig, das stimmt. Und die gesetzliche Rentenversicherung übernimmt im Regelfall danach die Kosten für die Entwöhnung in einer Reha-Einrichtung. Aber wenn beides nicht möglich ist, kann auch die Sozialhilfe zur Kostenerstattung verpflichtet werden. Nur Zusatzangebote und Einzelzimmer müssen privat bezahlt werden. Glaub mir, ich habe mich mit der Thematik sehr lange und ausgiebig beschäftigt.«
Plötzlich kommt von Lucian nichts mehr. Es scheint ihn hart zu treffen, dass all die Begründungen für das Leid seiner Mutter fadenscheinig waren. Dass er für etwas verantwortlich gemacht worden war, das sie jederzeit hätte ändern können, wenn sie nur den eigenen Willen und die Stärke dafür aufgebracht hätte.
»Okay«, flüstert er schließlich. »Wenn du es schaffst, sie in eine Entzugsklinik zu bringen ... dann ist meine Schuld beglichen ... und ich lege ihr Schicksal wieder in ihre eigenen Hände.«
»Danke Lucian«, sage ich erleichtert und nehme ihn in die Arme.
»Danke wofür?«
»Dafür, dass du dir selbst erlaubst, wieder frei zu sein!«
ҳ̸Ҳ̸ҳ
16. Juni 2017 – Angermünde. Joseph Kiel.
Genervt pfeffere ich die gefühlt hundertste Akte in den Schrank und ziehe ächzend die nächste vom Stapel. Das darauf vermerkte Aktenzeichen tippe ich in den Computer ein und will die Untersuchung starten, doch wieder einmal hängt sich das veraltete Programm auf und der Rechner friert ein.
»Verdammte Dreckskiste!«, fluche ich laut und schlage gegen den grauen Kasten.
Niemanden interessiert, dass ich, der Kriminalhauptkommissar , jeden verfluchten Tag mit dieser Gurke kämpfe, denn ich hocke allein in einem winzigen Kellerbüro mitten im Archiv, und das schon seit zwei Monaten!
Ja, zwei verdammte, elendig lange Monate sitze ich schon in dieser altbackenen Polizeistation in Angermünde fest und wohne derweil bei meinem Cousin, in einem zehn Quadratmeter großen Gästezimmer auf seinem Bauernhof!
Es ist die Hölle!
Jeden Tag streiten wir uns. Jeden Tag möchte ich das ekelhafte Essen erbrechen, das mir seine überfreundliche, fette Freundin vorsetzt, und jeden Tag will ich sie anbrüllen, ob sie nicht noch ein Kilo Butter mehr auf meine Brote schmieren kann!
Aber ich reiße mich zusammen! Ich reiße mich zusammen und schlucke, was mir Berta Speckschlitz zu fressen gibt, und trotzdem sagte mir mein Cousin heute Morgen, dass ich ausziehen soll! Warum? Weil ich der fetten Sau mit meinen Blicken Angst mache und sie sich in meiner Nähe nicht mehr wohlfühlt !
›Vielleicht sollte ich mir einen Snickers-Gürtel umlegen, dann will sie wahrscheinlich immer in meiner Nähe sein!‹
Ich versuche, mich abzulenken, und starte - mal wieder - den alten Kleincomputer neu. Meine Hauptaufgabe hier ist die Identifizierung von Substanzen, die bei Fahrerfluchtfällen sichergestellt wurden sowie die Ermittlung der möglichen Herkunft. Außerdem muss ich Vergleichsuntersuchungen von Materialspuren und aufgefundenen Vergleichsmaterialien durchführen, um festzustellen, ob die Spur von dem Vergleichsmaterial stammen kann oder mit einem in unseren Archiven aufgeführten Material übereinstimmt. Das bedeutet: Abgleich tausender Profile von Lackkratzern. Landet man irgendwann mal einen Treffer, um damit ein Verfahren für eine Geldstrafe anzuleiern, wird das in den meisten Fällen gleich wieder eingestellt. Die Kosten für ein solches Verfahren stehen nämlich oft in keinem Verhältnis zur Geldstrafe.
Kurzum: Ich mache seit zwei Monaten eine völlig nutzlose und dazu noch stinklangweilige Scheißarbeit, die man nur Beamten aufdrückt, die man loswerden will!
›Und alles nur wegen Enders, diesem Wichser!!!‹
Bis heute ist es eine Genugtuung für mich, dass der ach so geile Exlover dieses Schweinehundes durch mich verreckt ist und ich niemals dafür belangt worden bin! Anfangs konnte ich nach dem Vorfall keine Nacht ruhig schlafen, aber in die Hotels hatte ich mich damals selbstverständlich nur mit falschem Namen eingecheckt, und Überwachungsvideos dürfen Hoteliers nur allerhöchstens zehn Tage speichern! Aus der Nummer bin ich also zu hundert Prozent raus! Aber dass ich so gut wie all meine Ersparnisse aufbringen musste, nur um die Kosten des von mir angeleierten Indizienprozesses gegen ihn zu bezahlen, liegt noch immer schwer in meinem Magen. Dabei wollte ich doch nur ans Licht bringen, wie dieser Penner meine Arbeit sabotiert hat und was er seit Jahren so Feines in seiner Freizeit treibt. Alle sollten es wissen! Hätten die Behörden dann noch herausgefunden, dass er mit klein Stephan gefickt hat, und dessen Überreste wären irgendwann entdeckt worden, stünde der Kerl schon zum zweiten Mal unter Mordverdacht, und dann könnte er seinen Job bei der Kripo vergessen! Ich wäre meinen schlimmsten Konkurrenten für immer losgewesen. Aber nein, sein dämlicher Sohn und sein beschissener neuer Lover mussten sich ja unbedingt einmischen! Jetzt habe ich alles verloren: mein schickes Loft in Mitte, mein Geld, meinen guten Ruf und meine Stelle bei der Berliner Polizei ebenfalls!
›Nein! Ich darf nicht aufgeben! Ich muss kämpfen ... wieder aufstehen ... und dann ... dann zahle ich es den dreien heim!‹
Der Rechner hat sich schon wieder festgefahren. Mein Blick schwenkt auf die Wanduhr. In fünfzehn Minuten endet meine Schicht und ich kicke grob mit dem Fuß den Sicherheitsschalter an der Steckdose, um mein Arbeitsgerät auszuschalten. Soll sich die nächste Schicht damit herumschlagen!
›Ich sollte kündigen! Ja, einfach kündigen, alles packen, was ich noch habe und dann in ein anderes Land gehen. In die USA zum Beispiel!‹
Mit meinem Lebenslauf nehmen die mich mit Handkuss und von dem Gehalt, das dort schon ein einfacher Cop bekommt, kann man hierzulande nur träumen! Schon nach sechs Jahren Dienstzeit beziehen die ein Grundgehalt von mehr als neunzigtausend Dollar im Jahr! Beamte, die länger dabei sind oder höhere Dienstgrade haben, erhalten natürlich noch mehr, und das ist nur die Basis. Dazu kommen Vergütungen für Überstunden, durch die das Gehalt oft um weitere zwanzig bis dreißig Prozent aufgestockt wird, außerdem gibt es Wochenend-, Nacht- und Feiertagszuschläge. Nach bereits zweiundzwanzig Dienstjahren können die in den Ruhestand gehen und sind dabei oft erst Mitte vierzig! Die durchschnittliche jährliche Pension für einen kürzlich in Rente gegangenen Cop beträgt vierundsiebzigtausendfünfhundert US-Dollar! Die Bezüge sind deshalb so hoch, weil sie sich aus dem Verdienst inklusive der Sonderzuschläge errechnen. Die Ex-Beamten bekommen auch eine lebenslange Krankenversicherung. Dafür sind keinerlei Zuzahlungen fällig und die Bezüge sind auch von der lokalen Einkommenssteuer befreit.
»Ja! Genau das ist es! Ich schmeiße diesem Saftladen hier noch heute meine Kündigung in den Briefkasten, kratze mein restliches Geld zusammen und verschwinde mit dem nächsten Flieger nach fucking New York ! Dann wird niemand mehr über mich lachen!«
Wild entschlossen nehme ich mir ein Blatt Papier und schreibe eine einfache, handschriftliche Kündigung an meinen hiesigen Vorgesetzten. Schon während des Schreibens kommt mir eine Idee.
›Bevor ich abhaue, muss ich den Bullen einen anonymen Hinweis schicken.‹ Ein breites Grinsen überfliegt mein Gesicht. ›Einen Hinweis auf den Fundort von Stephan und darauf, dass er zuletzt mit einem gewissen Kriminalkommissar Alexander Enders Kontakt hatte. Am besten schicke ich diesen Hinweis per E-Mail aus irgendeinem Internetcafé in der Nähe des Flughafens!‹
Ich kann mir ein gehässiges Lachen nicht mehr verkneifen. So werde ich meinem verhassten Kollegen, seinem arroganten Sprössling und seinem verkommenen, kleinen Lover doch noch einen Strich durch ihre schöne Zukunftsplanung machen.
›Warum habe ich daran nicht viel früher gedacht? Das ist genial! Nur schade, dass ich es dann nicht live miterleben kann ...
Mit Schwung beende ich mein Schreiben, nehme darauf voller Elan meine Sommerjacke vom Haken und suche jetzt nur noch einen Briefumschlag für meine Kündigung im Schreibtisch. Bevor ich jedoch einen finden kann, öffnet sich auf einmal meine Tür und vier mir unbekannte Polizisten stehen in meinem Büro?!
»Sind Sie Joseph Kiel?«, fragt der mir am nächsten Stehende energisch und legt demonstrativ die Hand an sein Waffenhalfter.
»Ja. Warum fragen Sie?«, will ich wissen und weiche einen Schritt zurück.
Eine Beamtin hält ein Schreiben hoch, dessen Sinn ich auf den ersten Blick erkenne, doch ihre Kollegen packen mich bereits und wuchten mich grob herum, während der Fragesteller erklärt:
»Ich verhafte Sie hiermit wegen Mordverdacht an Stephan Schneider. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden ...«
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21. Juni 2019 – Berlin. Alexander Enders.
Ein wenig hektisch wische ich mir mit einem Papiertaschentuch über die verschwitzte Stirn. Trotz der Klimaanlage ist die Luft schwül, denn gut zweihundert Gäste sind an diesem Abend schon durch die Tür gekommen und haben es sich im purpurnen Schwarzlicht auf den weißen Leder-Loungesesseln und Sofas bequem gemacht. An der Decke befinden sich stylische, asymmetrische Lichtboxen in Türkis und Violett. Die Bar, die kleine Bühne und ein Großteil der Wände sind mit schwarzem Schiefer verkleidet. In der Mitte des Raumes tanzen einige Menschen auf hellgrauem Parkett und das wechselnde, neonfarbene Licht der auf jedem silbernen Tisch stehenden, stylischen Kugellampen rauscht wie eine Welle durch den ganzen Raum.
Eine grandiose Coverband namens Jacky and the Hightones spielt Songs von B. B. King und Eric Clapton und schickt damit unvergleichliche 60’s – Vibes durch den großen Raum, die man getrost als bombastisch beschreiben kann.
Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich mehr tanze als arbeite, und ich muss mich zur Disziplin zwingen, um die nächsten Bestellungen fertig zu machen.
Ja, ich habe es getan! Ich, Alexander Enders, habe meinen gut bezahlten Beamtenjob hingeschmissen und einen Kredit aufgenommen, um eine abgewrackte, alte Bar mitten in Charlottenburg zu kaufen und diese komplett neu aufzubauen. Die Tatsache, dass ich vorzeitig in den polizeilichen Ruhestand versetzt, genauer gesagt wegen Dienstunfähigkeit frühpensioniert wurde, kam mir entgegen und stört mich bis heute nicht. Im Gegenteil. Schon ein halbes Jahr nach Eröffnung verdiente ich fast das Doppelte mit der Bar im Vergleich zum Gehalt zu meinen Spitzenzeiten als Kriminalbeamter.
Nein, ich bereue es nicht und ich bin froh, dass ich mich damals von Lucian zur Verwirklichung meines Traumes habe überreden lassen.
»Hey Clemens! Du bist spät heute!«, begrüße ich einen Stammgast und lege das Geschirrtuch beiseite. »Noch einen Manhattan ohne Kirsche, wie immer?«
»Wie immer, Alex, wie immer. Danke dir.« Der ältere Herr nickt, nimmt seinen Cowboyhut ab und sofort beginnen seine weißen Haare im Schwarzlicht zu leuchten. »Ich hatte Probleme bei der Schichtübergabe ... hat alles länger gedauert, aber den einen Drink schaff ich noch.«
»Oder auch zwei«, muntere ich ihn mit einem Zwinkern auf, bevor ich ihm seinen klassischen Cocktail mixe. Zwischendurch werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr und stelle fest, dass wir schon in anderthalb Stunden schließen. Die Zeit vergeht hier jeden Abend wie im Flug.
»Wo ist dein Goldjunge?«, fragt Clemens mit seiner kratzigen Stimme, als ich gerade amerikanischen Whiskey mit rotem Wermut mische, und schaut sich um. »Spielt er heute noch?«
»Nein, den hast du leider verpasst, der ist schon in der Umkleide«, erkläre ich lächelnd und schiebe ihm seinen fertigen Drink über den Bartresen. »Aber die Band spielt noch ein paar Minuten. «
»Schade ... ich hätt lieber deinem Schnuckelchen zugehört.«
Ja, auch daran musste ich mich gewöhnen. Lucian tritt dreimal die Woche mit seiner Geige auf und seit einem halben Jahr lernt er zudem noch Gitarre spielen. Er ist ein wahrer Künstler, und solange kein Druck auf ihn ausgeübt wird, spielt er wie ein junger Gott. Erzähle ich ihm allerdings irgendwas von Studium und Ausbildung zum Musiklehrer, verzieht er die Töne mindestens so schief wie sein Gesicht. Inzwischen habe ich aufgegeben und lasse ihn seitdem einfach so spielen, wie er Lust hat, und die Gäste lieben ihn dafür. Na ja ... und natürlich auch für sein Aussehen, selbstredend, immerhin ist das hier eine Gaybar und er nach wie vor ein Vorzeige-Twink.
Die Band spielt ihren letzten Song für heute und kündigt diesen als solchen an. Mitten in der Anmoderation entdecke ich plötzlich Finn, der mit einem seiner Kumpel durch unsere Buntglastür hereinkommt. Er guckt ein bisschen grummelig, wie immer, aber sein Freund reißt die Augen auf, als wäre er noch nie in einem Etablissement wie diesem gewesen.
»Hey Großer«, begrüße ich ihn mit einem Handschlag, bevor er sich an die Bar setzt.
»Hi Dad«, mault er und zieht sich zuerst den hohen Hocker zurecht. Mal wieder etwas wortkarg, der Gute. Sein Begleiter bleibt mit Abstand hinter ihm stehen und schaut sich noch immer verblüfft um. »Gib mir ein Kirsch-Porter, ja?«
»Na klar.« Innerlich schüttelt es mich, wenn ich das Zeug nur rieche, aber die Jugend von heute steht eben auf diesen Biermixmist, also hab ich immer ein paar Sorten auf Lager und die Hälfte davon säuft mein Sohn weg. Natürlich auf Kosten des Hauses, was wahrscheinlich auch der einzige Grund ist, warum er so oft zu uns kommt. »Was trinkt denn dein Freund?«, frage ich hoffnungsvoll, doch Finn zuckt nur mit den Schultern.
»Keine Ahnung, gib ihm irgendwas. Das ist Marc, der neue Assi vom Coach, der säuft auch Pfützen leer.«
»Aha.« So wie er das sagt, könnte man meinen, er hätte eine Wette verloren und muss dem schlanken, jungen Mann mit dem Bürstenschnitt nun einen ausgeben. Da ich aber niemandem verkalkte Rohrperle [Fußnote 3] eingießen möchte, pfeife ich ihn kurz an und er dreht sich um. »Hey du! Willst du was trinken?«
»Äh ... ja, ähm ... habt ihr alkoholfreies Pilsener?«
Scheinbar hat er Angst, in einer Homobar besoffen zu werden. »Na klar, kommt sofort«, sage ich, mir jeden Kommentar verkneifend, und hole den beiden flugs ihre Nuckelflaschen aus dem Kühlschrank. Nach dem Öffnen stecke ich ein paar pinkfarbene Strohhalme mit Papierpandas rein, bevor ich den beiden die Flaschen rüberschiebe. »Bitteschön.« Ein bisschen Triezen muss sein.
Finn entdeckt das schnuckelige Trinkröhrchen, sieht mich bedient an und schnalzt mit der Zunge. »Du kannst es nicht lassen, oder?«
»Nein!«, bestätige ich süffisant grinsend und möchte fast noch anfügen: Solange du deine Stinkefüße unter meinen Bartisch schiebst, hast du gefälligst aus schwulen Halmen zu saufen, aber ich kneife es mir.
Sein Gefolgsmann beäugt meine Garnierung ebenfalls etwas kritisch, doch dann zutschelt er einen Probeschluck und bemerkt, dass der alte Clemens ihm schöne Augen macht. Leicht panisch zupft er meinem Sohn am Achselshirt, bevor er ihm zuraunt: »Du, ähm ... also dein Lieblingsschuppen ist ja ganz schick, aber ... ist dir mal aufgefallen, dass hier keine einzige Frau herumläuft und die Männer alle sehr, ähm ... nett zueinander sind?«
Ich pruste los, tue schnell so, als hätte ich niesen müssen und drehe mich weg. Dann poliere ich ein paar Gläser, doch natürlich lausche ich dabei ganz aufmerksam. Ich fühle mich ja geehrt, dass Finn meine kleine Bar als seinen Lieblingsschuppen bezeichnet, aber irgendwie hab ich es im Urin, dass er das nicht ohne Hintergedanken getan hat.
»Ach ... wirklich?« Finn sieht diesen Marc nicht mal an, als er ihm antwortet. »Ist mir noch nie aufgefallen.«
Sein Kumpel wirkt gestresst, dann zieht er auch noch einen Fünf-Euro-Schein aus der Tasche und legt ihn pikiert auf den Tresen. »Du, ich ... ähm ... mir ist grad eingefallen, dass ich -«
»Den Herd angelassen hast?«, unterbricht ihn Finn und klingt dabei gewollt enttäuscht. »Wie schade! Dann ein anderes Mal! Ich lade dich hier jederzeit gerne ein!«
»Äh ja ... danke. Schönen Abend noch!« So schnell, wie der Kerl abdampft, kann ich kaum auf Wiedersehen sagen, aber der kommt mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit sowieso nicht wieder.
Nun bin ich es, der mit der Zunge schnalzt. »Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich fast behaupten, du hast mein illustres Schankstübchen zur Abschreckung genutzt. Kann das sein?«
»Ach was, wie kommst du denn darauf?« Der Sarkasmus tropft förmlich aus seiner Stimme.
»Der Kerl war doch ganz nett? Was ist denn los mit dir? Hast du Liebeskummer oder warum das lange Gesicht?«
Clemens rutscht bereits näher, um Finn zu trösten, doch ich schüttle den Kopf und er bleibt auf Abstand.
»Der Typ ist einfach nur ätzend! Ein Megaangeber!«, rückt mein Sohn endlich mit der Sprache heraus. »Ich kann ihn nicht ausstehen, aber weil er mit der Tochter vom Coach zusammen ist, müssen wir alle nett zu ihm sein! Heute musste ich dem Coach versprechen, seinem Schwiegersohn in spe eine Chance zu geben und ein Bier mit ihm trinken zu gehen, um ihn besser kennenzulernen ... Bullshit!«
»Und da riskierst du lieber, dass er dich für schwul hält und das allen erzählt?« Lucian ist neben mir aufgetaucht, offenbar hat er zugehört und ist fertig im Backstage.
»Ja, das wundert mich auch«, stimme ich ihm zu und lege besitzergreifend meinen Arm um seine Hüfte, denn drei unserer Gäste stieren bereits zu ihm rüber.
»Und wenn schon. Die wissen alle, dass ich mit Pia zusammen bin, da passiert nichts.«
»Hm, na wie du meinst.« Jacky, der Bandleader gibt mir gerade das Zeichen, dass sie für heute fertig sind, und ich löse mich kurz von meiner kleinen Familie. »Entschuldigt ihr mich? Ich muss die Jukebox anmachen. Lucy, übernimmst du eben die Bar?«
»Na klar, Papa Bär«, neckt er mich kichernd, küsst mich auf die Wange und wendet sich dann wieder Finn zu, denn momentan hat keiner der noch anwesenden Gäste einen Wunsch. »Und, was macht die Uni?«
»Hoffentlich brennen!«, knurrt mein Sprössling und ich verziehe mich lieber.
›Meine Güte, hat der heute wieder eine Laune!‹
Heute kann man es auch nicht mehr auf die Pubertät schieben, da ist er definitiv raus! So langsam muss ich wohl der Wahrheit ins Gesicht blicken und mich damit abfinden, dass er einfach einen arschigen Charakter hat ... genau wie seine Mutter.
»Hey Maestro!«, ruft einer der Gäste zu mir rüber. »Habt ihr auch was zu futtern?«
Ich lache nur, denn es lohnt nicht, sich darüber aufzuregen, dass der Kerl meine Bar mit einem Restaurant verwechselt. Dann kläre ich ihn über unsere Auswahl an Knabberzeug und Nüssen auf.
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»Warum stehen wir schon auf? Es ist viel zu früh!« Lucian gähnt, schmeißt die Tageszeitung auf den Tisch, die er soeben aus dem Briefkasten gefummelt hat, und legt den Kopf an meine Schulter.
»Na ja, es ist halb neun ... und wir haben heute ordentlich was zu tun!«, antworte ich und schlotze den Wischlappen in die Küchenspüle.
Lucian massiert sich die Stirn an meinem Bizeps. »Echt? Hm ... wann sind wir denn gestern nach Hause gegangen?«
»Halb zwei! Erinnerst du dich nicht?« Er schüttelt den Kopf und scheint einen ordentlichen Kater zu haben. Kein Wunder, immerhin hat er sich mit Finn gestern Abend noch drei Planter’s Punch reingezimmert. Die Bar war bereits leer, alle Gäste auf dem Weg nach Hause und uns blieb eigentlich nur noch, das Licht zu löschen und abzuschließen, dann hätten wir uns ebenfalls auf den Heimweg machen können. Aber nein, die beiden Spritnasen mussten sich ja noch unbedingt einen hinter die Binde kippen. »Vielleicht solltest du einfach weniger saufen, wenn wir Feierabend machen!«
»Jaaa, jaaaa«, bekomme ich missmutig zu hören, dann geht der kleine Schluckspecht ins Wohnzimmer und lässt sich wie ein Plumpsack auf die Couch fallen. »Er war deprimiert ... was sollte ich denn machen? Ich wollte ihn doch nur aufheitern!«
Minimal angepisst feuere ich mein Schneidebrett auf die Ablage. »Deine Mutter hast du auch immer mit Suff aufgeheitert !« Dabei zeichne ich mit meinen Fingern Gänsefüßchen in der Luft. »Und? Ist sie deswegen glücklicher geworden? Wann lernst du endlich, dass Alkohol die Probleme der Menschen nicht leichter macht?«
Lucian vergräbt das Gesicht in den Kissen und antwortet nicht. Das Thema ist nach wie vor schwer für ihn, aber hier geht es um meinen Sohn und da rede ich eben nicht drumherum. Ich weiß, ich bin da etwas hart, vor allem, weil seine Mama wieder an der Flasche hängt und den inzwischen vierten Entzug abgebrochen hat, aber zumindest haben wir es vor einem Jahr geschafft, sie in einem Wohnheim für Obdachlose unterzubringen. Genauer gesagt in einem Hochhaus vom Unionhilfswerk in der Osloer Straße [Fußnote 4] . Dort muss sie sich kein Zimmer mit einer Fremden teilen, sondern hat eine richtige Einraumwohnung mit Bad und Küche. Trotzdem beschwert sie sich die ganze Zeit, schimpft viel und macht Lucian jedes Mal Vorwürfe, wenn wir sie besuchen fahren. Sie will von allem immer mehr: eine bessere Einrichtung, ein schöneres Leben ... Aber geschenkt muss es sein, denn selbst was dafür zu tun, liegt ihr fern. Das letzte Mal, dass sie ihrem Sohn etwas geschenkt hat, ist sehr lange her. Dazu war sie einen Deal mit einem befreundeten Tätowierer eingegangen. Lucian bekam das Tattoo auf seiner Schulter, das Sternzeichen für Stier , wie ich heute weiß. Doch der Typ war selbst für dieses einfache Symbol viel zu stoned, um es korrekt zu stechen, und so prellte sie die vereinbarte Bezahlung. Vermutlich hatte sie dies von Anfang an vor, denn sie wusste, was der Kerl für einen schlechten Ruf hatte. Früher sei sie ganz anders gewesen, sagt Lucian immer wieder, warmherzig und engagiert, doch der Alkohol und die Drogen haben ihr die Seele geraubt.
Inzwischen bestehe ich darauf, mitzukommen, wenn er sie besucht, auch wenn ich die Frau nicht sonderlich leiden kann, doch in meinem Beisein reißt sie sich mit ihren Äußerungen wenigstens halbwegs zusammen. Lucian sind diese Treffen jedoch so unangenehm, dass er die Besuche mittlerweile von einmal in der Woche auf einmal alle drei Monate eingeschränkt hat.
Da er nicht antwortet, bekomme ich jetzt aber doch wieder ein schlechtes Gewissen, stelle die Pfanne beiseite und gehe zu ihm. Versöhnlich knie ich mich über ihn und küsse seinen Nacken, ehe ich sein linkes Ohr anstupse.
»Hey ... ich weiß, du meinst es nur gut. Mach dir keinen Kopf mehr darüber, okay?« Er nickt zaghaft, schnieft jedoch nur, statt zu antworten. »Komm, lass uns frühstücken. Wie möchtest du deine Eier?«
»Geleckt und gestreichelt !«, schnurrt er und dreht sich um, weshalb ich kichern muss.
»Kann das bis nach dem Essen warten? Ich hab Hunger!«
»Tse ... wir haben definitiv zu viel Sex, wenn du auf so eine Anspielung überhaupt nicht mehr reagierst.«
Ich gebe ihm einen Knutsch auf die Nase. »Davon kann man gar nicht zu viel haben ... aber wenn ich dich vorm Frühstück vernasche, bin ich auch blau danach.« Nach einem weiteren Kuss löse ich mich von meinem Liebsten und gehe zurück in die Küche. Dort haue ich vier Eier für Omelette in die Pfanne. Nach der Nacht brauch ich definitiv was Deftiges!
Lucian steht ebenfalls auf, wenn auch sehr zombiemäßig, doch statt mir zu folgen, schlurft er erst mal in Richtung Bad. »Ich komm gleich, will mir nur kurz einen Schwung kaltes Wasser ins Gesicht schmeißen, damit ich wach werde ...«
»Mach das.« Ich lache und schüttle den Kopf, hole die Teller aus dem Schrank und drapiere unser Frühstück darauf. Als ich sie auf den Tisch stellen will, liegt dort die Zeitung im Weg, die ich erst mal beiseiteschieben muss. Dabei springt mir die morbide Schlagzeile auf dem Titelblatt dieser Sonntagsausgabe ins Auge: Tod eines Junkies – Kripokommissar verurteilt.
›Was ...?‹
Ich schlucke schwer, als ich über dem Text das stark verpixelte Bild eines jungen Mannes entdecke, der offenbar tot auf der Erde sitzt. Doch nicht sein Anblick ist es, der mein Herz zum Rasen bringt, sondern sein schwarzer Rucksack mit dem blauen, aufgenähten Stern in der Mitte.
›Das ... das ist Stephans Backpack!‹
Augenblicklich bricht mir der Schweiß aus und mit zittrigen Händen schlage ich die Zeitung auf, um den ganzen Artikel zu lesen.
›Am 16. Februar 2017 fand ein Lost-Place Fotograf die eingefrorene, gut erhaltene Leiche eines achtzehnjährigen Jugendlichen in einem stillgelegten U-Bahn-Schacht. Er alarmierte die Polizei, die den Toten als den aktenkundigen Kleinkriminellen, schwer drogenabhängigen Obdachlosen Stephan S. identifizierte. Anfangs ging die Polizei von einem klassischen Tod im Drogenmilieu aus, doch in der Jackentasche des Toten befand sich eine elektronische Zimmerkarte des Hotels Adlon Kempinski, welche vom Hotel am 17. November 2016 als gestohlen gemeldet worden war. Der dazu registrierte Hotelgast hatte seine Übernachtung im Voraus in bar bezahlt und das Hotel noch in derselben Nacht verlassen. Die vom Hotel zur Verfügung gestellten Überwachungsvideos zeigten den Mann auf dem Flur, wie er die Unterkunft in den frühen Morgenstunden mit dem Fahrstuhl verlassen hatte – ohne seinen Zimmergast, der zuvor nachweislich bei ihm gewesen war. Die Ermittlungsspur verlief zunächst im Sand, da der Mann auf den Überwachungsvideos nicht identifiziert werden konnte. Zumindest nicht bis zum späten Hinweis eines Bekannten des Opfers - Sven „Svenni“ J. - Ende Mai 2017. Dieser sagte bei einer Befragung im Rahmen neuer Ermittlungen aus, gegen Provision ein paar männlichen Jugendlichen die Telefonnummer eines Mannes weitergeleitet zu haben, der sich mit diesen für Sexdienste in Hotels treffen wollte. Unter anderem auch mit Stephan S., der vier Monate danach verschwand. Im Januar 2017 habe er den Mann zufällig wiedergesehen, als der sich bei den Strichern am Leipziger Hauptbahnhof nach einem gewissen Lucian V. erkundigte. Zum ersten Mal erfuhr er so den Namen des Mannes: Kriminalhauptkommissar Joseph K.. Schriftsachverständige bestätigten später, dass dessen Unterschrift auf der bei seiner Festnahme gefundenen Kündigung mit dem Schriftbild seines falschen Namens in der Hotelakte übereinstimmte. Joseph K. wurde gestern, nach langer Untersuchungshaft, da nachweislich Fluchtgefahr bestand, zu einer mehrjährigen Haftstrafe wegen sexueller Nötigung mit Todesfolge verurteilt. Mordabsichten konnten ihm nicht nachgewiesen werden ...‹
Ich muss mich setzen. Meine Finger sind eiskalt und taub, gleichzeitig zittere ich so sehr, dass ich fast die Zeitung fallen lasse.
Natürlich habe ich geahnt, dass Stephan inzwischen verstorben sein könnte, wenn nicht an seinem Meth, dann an seinem furchtbaren Lebensstil, aber dass ausgerechnet mein alter Kollege Kiel derjenige war, der seinen Tod verschuldet hat, sprengt gerade sämtliche meiner Synapsen.
›Stephan war bei ihm. Damals, als ich vor Sorge halb umgekommen bin und ihn ständig angerufen habe ... war er bei ihm!‹
Ich möchte schreien, diesen entsetzlichen innerlichen Druck herauslassen, doch ich kann nicht. Stattdessen breitet sich ein anderes Gefühl in meiner Brust aus, das ich im ersten Moment gar nicht fassen kann.
Es ist Erleichterung .
Endlich weiß ich, was damals geschehen ist.
Endlich weiß ich, dass ich nicht schuld war.
Es war seine Entscheidung ... nicht meine.
»Alex?« Lucian ist zurück und sieht mich besorgt an. »Du bist so blass? Ist alles in Ordnung?«
Wassertropfen laufen ihm aus den Haaren übers Gesicht und ich kann nicht anders, als aufzustehen und ihn zu küssen, nachdem ich die Zeitung unauffällig in den Papierkorb habe fallen lassen, der unter dem Tisch steht.
»Alles gut!«, hauche ich ihm zu und umarme ihn fest. »Es ... es ist endlich ... alles gut! «
»Sicher?«, fragt Lucian verwundert nach und ich überlege mir schnell eine Ablenkung.
»Ja! Absolut! Ich ... ähm ... ich mache mir nur immer noch Sorgen wegen Finn. Hast du denn während eurer Druckbetankung rausfinden können, warum er so miesepetrig drauf war?«
Lucian setzt sich an den Tisch und fährt sich nachdenklich mit den Fingern durch seine nassen Strähnen. »Hat er dir das nicht gesagt?«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Würde ich dich sonst fragen?«
Er wirkt verdutzt, doch irgendwie kann ich mich auch des Eindrucks nicht erwehren, als wenn er sich krampfhaft das Lachen verkneifen müsste. »Du weißt es wirklich nicht?« Mir wird immer unwohler.
»Nein!«, erhebe ich verärgert die Stimme, denn so langsam komme ich mir veralbert vor. »Was ist denn los? Steht er jetzt doch auf Kerle und ist deshalb deprimiert? Hat er Sexträume mit dir? Hat ihn sein Coach unsittlich berührt? Wärst du bitte so freundlich, mich aufzuklären?!«
»Pia ist im vierten Monat schwanger ...«, verkündet er amüsiert und mir klappt die Kinnlade runter.
»Sie ist was??? «
»Schwanger !«, wiederholt Lucian lachend und buchstabiert es dann auch noch. »S-C-H-W-A-N-G-E-R! Im vierten Monat! Abtreibung ist demnach ausgeschlossen und Finn hat keine Ahnung, wie er das finanziell stemmen soll. Pia geht ja noch zur Schule und er will sie unterstützen, sodass sie sich nicht alleine um den Wurm kümmern muss. Deswegen war er so down.«
›Sie brauchen eine eigene Wohnung, Jobs, einen Familienvan ... und Windeln! Tonnenweise Windeln!‹
In meinem Kopf dreht sich alles. »Nein! Ich ... das kann doch nicht ... wie konnte das denn nur passieren? «
»Na ja, weißt du, bei denen ist das anders als bei uns«, flachst Lucy und scheint das alles überhaupt nicht schlimm zu finden. »Wenn ein Mann und eine Frau Sex haben, kann dabei ein Baby entstehen. Bei uns kommt höchstens mal ein spermaummantelter Haufen bei raus.«
»Lucian!!! Hör auf, Witze zu reißen, das ist ein sehr ernstes Thema!« Unfassbar! Ich bin zutiefst verzweifelt und er macht Kackwitze. »Das ist eine Katastrophe! Die beiden sind doch noch viel zu jung, um ein Kind zu bekommen! Wie kann man denn nur so leichtsinnig und verantwortungslos sein?«
»Musst du gerade sagen«, kommentiert meine bessere Hälfte und steht auf. »Soweit ich richtig zählen kann, warst du auch erst neunzehn oder höchstens zwanzig, als du Finn gezeugt hast!«
»Aber ... das war ein Unfall !« Ich finde es unglaublich, dass er meinen Sohn jetzt mit mir vergleicht!
»Richtig«, stimmt er mir endlich zu, wenn auch mit einem seltsamen Unterton. »Die beiden haben das Ganze sicherlich lange und sorgfältig geplant und es ist ein absolutes Wunschkind ...« Gerade als ich ein Veto einlegen will, fährt er mit erhobenem Finger und noch mehr Sarkasmus im Ton fort: »Du warst früher natürlich trotzdem sehr viel gewissenhafter! Immerhin ist Finn mit seiner Freundin ja erst seit zweieinhalb Jahren zusammen und liebt sie auch noch! Du hingegen warst ... ach warte, wie war das noch? Ach ja ... du hast eine Wildfremde geschwängert und bist danach abgehauen !« Er suhlt sich buchstäblich darin, mir mal etwas vorhalten zu können. »Ja, das ist dem Kind gegenüber natürlich viel verantwortungsbewusster.«
»Ja, ja ... du hast ja recht. Ich hab auch nicht aufgepasst, aber das macht es nicht besser!« Rhythmisch haue ich meinen Hinterkopf gegen die Wand.
›Hat Finn es mir deshalb noch nicht selbst gesagt?‹
»Mann! Ich dachte, er lernt aus meinen Fehlern und ist vorsichtiger! Ich kann doch nicht ... mit neununddreißig -«
»Ach, daher weht der Abneigungswind?!« Lucian lacht, kommt zu mir und klopft mir auf die Schulter. »Du willst noch kein Opa sein! Ist es das?«
»Du bist dann auch ein Opa!«, motze ich, doch darüber beömmelt er sich nur noch mehr.
»Es gibt keine sechsundzwanzigjährigen Opas!«, johlt er schadenfroh. »Außerdem: Solange du mich nicht heiratest, bin ich höchstens der nette Onkel.«
»Wohl eher die Tante«, grummle ich. Aber das mit dem Heiraten kommt vielleicht früher, als er ahnt, es sei denn, ich blase den Flashdance für nächste Woche ab und gebe die Ringe zurück ...