Richard Klein

Das Weltenfinale, das keines ist Zum III. Akt der Götterdämmerung

I. Unterbrechung des Tragischen

Des Saallichtes hätte es eigentlich nicht bedurft, obwohl der Moment dafür optimal gewählt war. Just an der magischsten Stelle des Ring, wo laut Regieanweisung die Hand des toten Siegfried sich drohend gegen den räuberischen Hagen erhebt, kam in Peter Konwitschnys Inszenierung der Götterdämmerung (Staatsoper Stuttgart, 1999/2000) die theatrale Illusion absichtsvoll an ihr Ende – und brechtische Aufklärung machte sich breit. Jedenfalls wollten das damals die meisten Kritiker so sehen. Wie von Wagner geplant schreitet Brünnhilde zwar »aus dem Hintergrunde [...] fest und feierlich [...] dem Vordergrunde zu« – nicht aber im Flügelhelm oder Totenhemd, sondern in einem schicken Damenkostüm wie fürs Konzert am Abend. Sie knipst dann das mickrige, geloopte Videobild der 1. Szene des III. Aktes aus, entlässt die Figuren aus ihren Rollen und schickt die Sänger von der Bühne. Ähnlich, bloß andersherum verhält es sich bereits vor Beginn der Aufführung. Wie Outlaws kauern die Nornen an der Bühnenrampe, während das Publikum den naturgemäß hellen Saal betritt und die Musiker ihre Instrumente stimmen. Ein solches Arrangement signalisiert: Dieser Anfang ist ortlos, er hat keine Stelle in der Handlung und spielt darum diesseits des Vorhangs, im theatralen Niemandsland des Proszeniums. Während des Orchestervorspiels wird das Licht sukzessiv gedämpft, bis dann beim Einsatz der ersten Norn der gesamte Zuschauerraum im Dunkeln liegt. Aber erst bei der Einleitung zur nachfolgenden Jubelabschiedsfeier der frisch Vermählten geht der Vorhang hoch. Im Finale wird die Überschreitung der Grenze zwischen Theater und Empirie sogar noch medial gesteigert. Nicht nur tritt Brünnhilde aus der Handlung heraus, sondern die Handlung ihrerseits auch aus Musik und Bild. Direkt nach Brünnhildes seligem Gruß an den toten Geliebten fällt der Vorhang, um sich alsbald zur Leinwand zu wandeln, über die zeitgleich zum Erlösungsmotiv des Orchesters die originalen Regieanweisungen Wagners wie Besetzungs- und Produktionsinfos beim Filmabspann flimmern. Die letzten gesungenen Worte, Hagens »Zurück vom Ring!«, dürfen wir nur noch hören. Die Botschaft wurde seinerzeit durchweg so verstanden: Von Weltenbrand keine Spur, von Neubeginn noch weniger, die Illusionen sind verflogen, die Utopien gescheitert, der Mythos frei vom Ballast des Weltendramas – und das Theater decouvriert sich als das, was es nun einmal ist: ein Spiel aus Bildern, Situationen und technischen Einrichtungen. Dem Zuschauer bleibt wenig mehr als die Konzentration eben darauf. Dieser Kommentar ist jedoch fahrlässig ungenau, wie immer fast, wenn die Leute auf eine Erfahrung, von der sie sich eigentlich herausgefordert fühlen müssten, mit einem allzu professionellen »alles klar« reagieren. Erstens bleibt er auf die Spielerei mit dem Saallicht und das Nichtzeigen des Endes fixiert, die er zudem beide wie selbstverständlich als Gesten politischer Aufklärung vereinnahmt. Zweitens, und das ist noch wichtiger, übersieht er völlig das tragikkritische Grundmotiv dieses Finales.1

Konwitschnys Unterbrechung der Narration ist ein Akt des Innehaltens, ein Nein zum »rollenden Rad«, d.h. zum geschlossenen tragischen System, bei dem am Ende als Resultat notwendig herauskommt, was von Anbeginn als Prämisse gesetzt war. Dass ein solches Veto gegen die Verschlungenheit von Anfang und Ende sich auch auf die formale Immanenz des Werks erstreckt, mag nicht jedem sofort einleuchten, hat aber ein Fundamentum in re. Denn allen rituellen Zügen zum Trotz besteht Brünnhildes Schlussgesang wesentlich aus einer großangelegten Retrospektive, einem langen Blick zurück, der die Handlung vorab stillstehen lässt. Wenn Brünnhilde im Übrigen die »›Kunstform Theater‹ suspendiert«2, tut sie dies metaphorisch – auf dem Boden des Theaters selbst. Sie wandelt sich nicht etwa in die Sängerdarstellerin Luana de Vol zurück, sondern agiert weiterhin als Brünnhilde, nur eben in einem imaginären Raum zwischen der Handlung des Theatertextes und der unmittelbaren Realität der Aufführung. Das ist kein Gag, scheint es in einem solchen Zwischenreich doch möglich zu sein, den Gang der Dinge wie von außen zu betrachten und ihn hypothetisch zu korrigieren, umzuerzählen.

Brünnhilde komplimentiert nicht nur, was allein schon Aufmerksamkeit verdient hätte, die Toten von der Bühne, womit sie diese wenigstens für einen Augenblick sehr unwagnerisch vom Tod erlöst. Sondern sie bittet insbesondere ihren schattenhaft wiederauferstandenen Siegfried um den Ring, auf dessen Merkmal, ein Liebespfand zu sein, sie offenbar gegen alle mythische Verhängnislogik beharrt. Albert Bonnema, der Sänger des Siegfried, der sich zuvor fast ein wenig wie der Vetter aus Dingsda an den Gibichungenhof verirrt zu haben schien, agiert wie ein großes Kind, dessen Kulleraugen einzig Erstaunen darüber verraten, dass es überhaupt noch da ist. Traumverloren und unschuldig leicht gibt er Brünnhilde den Ring zurück, als sei ein so prekäres, posttragisches Wiedergutmachungsexperiment kein Problem. Und Brünnhilde scheint sich zu denken: »Siehst Du, geht doch« [Abb. 1-3]. Wenn Adorno sagt, bei Wagner sei die »wahre Idee der Oper, die des Trostes, vor dem die Pforten der Unterwelt sich öffnen, [...] verlorengegangen«3, dann findet dieser Trost hier zu Wagner hin. Einen »Gipfel der Desillusionierung«4 kann nur derjenige darin erblicken, der auf die fatale Theologie des »Alles oder nichts« schwört und entweder den ganz großen Utopos hochhält oder gar keinen. Mit einer solchen Methode aber langt es seit jeher nur für eine Politik der Parolen, der jede Erfahrung des Besonderen, dessen, was nicht ersetzbar ist, zum Opfer fällt.

Letztlich steht Konwitschnys »Dekonstruktion« von Anfang und Ende der Götterdämmerung eher bei Benjamin als bei Brecht. Ist sie doch ein Griff nach der Notbremse, ein Versuch, das Schema des Schicksals anzuhalten, umzuwenden und ihm Spielräume abzuluchsen, als sei der Mythos wenn auch kein Märchen so doch wenigstens von Spuren eines solchen durchsetzt. Ein Happy Ending sieht anders aus, die Unterbrechung der Narration markiert »nur« einen wenn auch sehr legitimen Wunsch, aber eine Realität, auf die dieser vorgreifen könnte, ist nicht in Sicht, und ob der massive Mutterernst, den Luana de Vol der Figur der Brünnhilde verleiht, dafür geeignet ist, steht dahin. Trotzdem könnte diese Sphäre des Zwischen der Ort sein, an den sich heute utopisches Denken zurückgezogen hat, wohin es geflüchtet ist vor all den integralen Programmen und Konzepten, die seinen Namen ehedem mit Recht trugen, bevor sie die Gewalt vergaßen, die sie ihm antaten, und zum politisierenden Ableitungsschema gerieten. Vielleicht ist das Utopische zum Unscheinbaren mutiert, zur kleinen, zärtlichen Geste, die betont »unpolitisch« oder sogar »naiv« daherkommt und durch das Raster einer konzeptionell durchreflektierten Stringenz des Ring-Ganzen ohnehin fällt. Apropos Raster: Wie konnte es eigentlich so weit kommen, dass wir uns daran gewöhnt haben, gemeinhin etwas als »Utopie« anzusprechen, in dem die Wahrnehmung des Besonderen ausfällt, wo keine Aufmerksamkeit geübt wird für das, was nicht manifest ist, nicht auf der Hand liegt?Warum gab und gibt es so viele Opernkritiken, die mit Kennermiene das »Verschwinden des Utopischen« – eines Ortes, an dem per definitionem noch keiner war – monieren, aber in Wahrheit nur das identifizierbare politische Programm meinen, bei dem sich mitreden lässt? Dass wir uns nur mehr an das Bestehende, wie es eben ist, halten könnten oder zu halten hätten, hat Konwitschny jedenfalls nicht gemeint.

Abb. 1–3: Korrektur des Schicksals. Götterdämmerung, III, 3. Szene, Siegfried (Albert Bonnema) und Brünnhilde (Luana de Vol). Inszenierung Peter Konwitschny, Staatsoper Stuttgart, 1999/2000.

II. Exkurs zum Stuttgarter Ring

Was auch immer man gegen den Stuttgarter Ring einwenden mag, und es gibt einiges, das sich gegen ihn einwenden lässt: Er traf einen zentralen Nerv, künstlerisch wie politisch. Was von ihm bleibt, ist möglicherweise aber weniger das berühmte Regiequartett als solches, das so lange als Markenzeichen dieser Produktion fungierte, als der dramaturgische Wurf, der ihm vorausging.5 Klaus Zeheleins Idee war im Grunde einfach und klingt heute wie altbekannt. Damals aber musste sie erst einmal ausgesprochen werden, denn vorher war sie nicht da, vorher dachte man nicht so. Ihre Ausgangsüberlegung lautete: Wagners Ring, diese megalomane Tragödie von der Welt Anfang und Untergang, ist gerade keine Geschichte, die sich von ihrem Anfang zu ihrem Ende hin entwickelt. Jedenfalls lässt sie sich nicht mehr als eine solche theatral einheitlich erzählen. Zuviel Einzelnes, zuviel Theatergegenwart fällt dem totalisierenden Ansatz zum Opfer. Die Begründung war teils historisch, teils werkimmanent. Auf der einen Seite berief sich Zehelein auf die Erschütterung der utopischen Großkonstruktionen des 19. durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, auf der anderen wurde die Spannung zwischen dem integralen Habitus und der antilinearen wie diskontinuierlichen Struktur von Wagners Werk herausgestellt. Bedeutsamer als die legitime Reverenz an den Zeitgeist im ersten Punkt war die Kritik des integralen Werks im zweiten. Der mit Abstand wichtigste Satz aus dem Programmtext war der folgende: »Wagners Arbeit am Ring [...] zeugt von der Obsession des Denkens des wahren, geschlossenen Ganzen ebenso wie von der Erfahrung, dass aus den Stücken nie ein Ganzes, Geschlossenes geschaffen wird.«6

Beide Momente aber stoßen frontal aufeinander. Der Wille zur Teleologie des Ganzen, den die Entstehungsgeschichte des Ring so unwiderleglich vor Augen zu führen scheint, ist mit der These vom theatralen Primat seiner Perspektiven unvereinbar. Die Frage bleibt, wie dieser Konflikt, der in eine Aporie treibt, dennoch zu einer inszenatorischen Gestalt findet. In Zeheleins Entwurf hatte es eindeutig nachgeordnete Bedeutung, ob das teleologische Modell utopische oder apokalyptische, sozialrevolutionäre oder mythische Ziele verfolgt, entscheidend war die Form, in der die Inhalte gedacht und dargestellt werden. Die politische Intention war durch die ästhetische Kritik traditioneller Interpretationskonzepte vermittelt, insofern das Gegenteil einer »ideologischen Standortbestimmung« ad hoc. Wer darin ein »Verschwinden des Politischen« am Werk zu sehen meinte, und das taten damals einige, hatte das Konzept nicht verstanden. Die immanente Kritik eines bestimmten Typs politischer Inszenierung kann schlecht eo ipso unpolitisch sein, es sei denn, jemand will die kritisierte Form ästhetisch verteidigen oder konservieren.

Ziel war es in Stuttgart insbesondere nicht, das Ganze in Stücke zu schlagen oder im populären Sinne zu »dekonstruieren«.7 Erstens ging es um die Kritik der Gewalt, die eine monistische oder systematische Inszenierung des Ring theatraler Gegenwart zwangsläufig antut – z.B. durch Etablierung einer linearen Verweiskette nach »vorwärts« und »rückwärts« oder auch den hermeneutischen Einsatz einer externen Theorie des Mythos.8 Zweitens sollte Wagners »Obsession« für das Ganze gerade kein antiquiertes Relikt sein, das in den Orkus der Historie zu stoßen ist, sondern eine wie immer belastende Herausforderung, der die Teile jeweils gewachsen sein müssen. Man hat dieses Verfahren »postmodern« genannt, weil es den Blick auf das Ganze zugunsten einer Pluralität unterschiedlicher, wenn auch analog problemorientierter Konzepte zurückstellt. Ich will diese Diskussion hier nicht aufgreifen. Wichtig ist, dass jene Pluralität nichts mit einem Lob des Bunten und Vielfältigen, wie es nun einmal existiert, zu tun hat, sondern an die Kritik der Teleologie des Verlaufs und des Phantasmas eines einheitlichen Denk- und Bildraums gebunden bleibt. Noch die Absage an traditionelle Muster von Entwicklung stiftet eine Kontinuität über die vier einzelnen Stücke hinweg, wenn auch nicht auf der Ebene einer nacherzählbaren realistischen Handlung, sondern im Zeigen der Reflexion der Darstellungsmittel.9

Dem Finale der Götterdämmerung kommt bei allem eine besondere Rolle zu. Konwitschny stellt ja nicht einfach die letzte Szene der Bühnenhandlung dar, sondern mit dem für ihn so typischen Austritt aus der Narration kommentiert er die Tetralogie als Ganzes. Es wäre nicht richtig, seinen Widerstand gegen Tragik als System auf ein Statement zum Schluss des Werks zu reduzieren oder als Versuch zu lesen, die allseits bekannten Brüche der Brünnhildefigur aufzuheben.10 Gerade weil Konwitschnys Tragikkritik nicht auf der Basis einer politischen Totale erfolgt, sondern ganz auf die Eindringlichkeit des szenischen Bildes setzt, zieht sie Konsequenzen nach sich, die ein neues Licht auf die Tetralogie in toto werfen. Der zärtliche Schnitt gegenüber der ewigen Wiederkehr von Fluch, Schuld und Strafe ist wie die Fußnote zu einer großen Erzählung, die diese mit einem seinerseits großen Fragezeichen versieht.11 Das Ganze ist da, aber nicht als integrale Sinnstruktur, sondern als Titel eines Problems, an dem keiner vorbeikommt – eines Trümmerfelds, dessen Sinn nicht vor-, sondern aufgegeben ist. So als ob Walhall immer schon zusammengestürzt wäre und wir seine Architektur nun aus den verbliebenen Bruchstücken experimentell rekonstruieren müssten. Künstlerisch huldigt der Ring weder dem Holismus des Organischen (entgegen der Hausideologie seines Autors) noch einer Ästhetik des Fragments, sondern einem Dritten: einer Suche nach dem Ganzen und Einen, die dessen Teile zu konstruieren sucht, ohne sie doch integral übersteigen zu können: À la recherche de la totalité perdue. Oder mit den Worten der Nornen: »der ewigen Götter Ende / dämmert ewig da auf.« Wie gerne würde man sagen, man hätte schon immer so gedacht und die Selbständigkeit der einzelnen Stücke von Wagners Tetralogie angemessen gewürdigt.12 Aber als Chéreau, Kupfer und andere den Ring inszenierten, hat niemand Anstoß daran genommen, wie selbstverständlich sie davon ausgingen, eine einheitliche Geschichte zum Gegenstand und zur Aufgabe vor sich zu haben. Heute spürt man das gewaltsame Moment, das einer solchen Interpretation anhaftet, überstark. Das mag auch Ausdruck einer »postmodernen Mentalität« sein, aber mehr noch dürfte es sich um die Folge eines historischen Umbruchs handeln, der sich nicht mehr wegreflektieren lässt. Gegen ihn trotzig auf dem Gesamtmythos zu bestehen, kann nicht zu künstlerisch tragfähigen Lösungen führen. Weder der Charakter der Personen noch die zeitliche Organisation der Handlung, ebenso wenig die Folge der Schauplätze oder auch die innere Zusammensetzung der Komposition taugen dazu, ein konsistentes Ganzes theaterpraktisch zu fundieren.13 Aber so vollzieht sich Wirkungsgeschichte. Erst hat man sie vor sich, dann liegt sie hinter einem. Nur der Moment, in dem sie sich ereignet, stößt uns zu, ohne dass wir wissen wie. Erst im Nachhinein wird auf einmal klar: Das geht nicht mehr.14

III. Finale ohne Finalität

Es scheint, dass nichts einem kritischen Verständnis des III. Aktes der Götterdämmerung so sehr entgegensteht wie (die Fixierung auf) die Frage, was eigentlich sein Ende bedeutet. Und doch wird sie immer wieder gestellt, als hinge von ihrer Beantwortung die Identität von Wagners Tetralogie überhaupt ab. Ist dieses Ende eine Rückkehr in den Anfang, eine verwandelte Fortsetzung, ein radikaler Neubeginn, ein nihilistischer Zusammenbruch, die Wiederherstellung der natürlichen Ordnung, der Untergang des Kapitalismus, die Apokalypse des Planeten, das Ende einer Welt, das Ende der Welt? Soll man »die leere Bühne präsentieren, wie bei Wieland Wagner, und alles der Musik [d.h. einem bestimmten Motiv!] überlassen«?15 Teilen uns diese Klänge ein abgründiges Orakel mit16, oder verklären sie bloß die radikale Perspektivlosigkeit des Schlusses?17 Oder vermag womöglich erst der Parsifal die Antwort zu geben, zu der der Ring noch nicht fähig ist?18 All diese Fragen haben ihr Recht, aber auch denselben wunden Punkt. Die inhaltlichen Signale, die sie aussenden, differieren prägnant, unterstellen aber durchweg, dass das Ende der Götterdämmerung das Ende des Ring ist: nicht bloß in dem trivialen Sinn, dass nach Plot und Partitur das Werk eben dort schließt, wo empirisch der Schluss ist, sondern so, dass die Tetralogie insgesamt aus innerer Notwendigkeit zu dem Ende führt, das in ihrem Anfang beschlossen liegt. Hier tut sich ein ästhetischer und kritischer Scheideweg auf, dessen Implikationen zu reflektieren für ein im besten Sinne zeitgemäßes Verständnis des Ring immer wichtiger wird.

Schon früh gab es vereinzelt Stimmen, die in die Richtung von Detail und Differential hin zu denken begannen, auch wenn sie unterm Strich der holistischen Sichtweise gefolgt sind. Diejenigen Passagen z.B., die Thomas Mann für sein Steckenpferd »szenische Epik« reklamiert, sind zumeist solche der Unterbrechung theatralen Geschehens. Das Walhallmotiv in Sieglindes Erzählung im I. Akt Walküre etwa setzt einen dezidierten Schnitt gegenüber dem, was auf der Bühne zu sehen ist.19 Spricht Mann aber über die generelle Funktion der Leitmotivik, gerät sie ihm unversehens zum Organ des Gesamtmythos, das episch-musikalisch zu Ende bringt, was die Szene nur in beschränkter Form andeuten kann.20 Einen noch größeren Sinn für die Kleinteiligkeit der Ring-Komposition hatte natürlich Adorno. Er konnte gar nicht genug betonen, wie sehr ihm daran liege, »der monströsen Übergewalt der Musikdramen«21 ein mikrologisches Deutungsverfahren entgegenzusetzen. Gleichwohl hat er die integrale Konstruktion von Anfang, Entwicklung und Ende nicht nur nicht zureichend in Frage gestellt, sondern aus ihr ungerührt die ideologische Grundtendenz des Werks abzuleiten versucht.22 Carl Dahlhaus wiederum ließ keinen Zweifel daran, dass das leitmotivische Gewebe sich aus überdeterminierten, disparaten Elementen zusammensetze und insofern eher gegen als für den dramatischen Entwicklungsgang arbeite. Für das brennende Walhall jedoch konstatierte er stante pede »den Zwang zu einem Schlussbild, das als Ende des ganzen Zyklus und nicht nur des letzten Teils sinnfällig ist. [...] Bezeichnet [...] die Verfluchung der Liebe um der Macht willen den Anfang des Werkes, so bildet die Auflösung der Macht um der Liebe willen den genau kontrastierenden Schluss: [...] Anfang und Ende sind also ineinander verschlungen.«23 Die hermeneutische Fixierung auf das Ende des Ganzen geht bei Dahlhaus so weit, dass er mit philologischen Argumenten zu belegen sucht, was der Sinn des Erlösungsmotivs sei. So vergleicht er die vier verschiedenen Fassungen des Schlusses der Götterdämmerung und behauptet dann: »Der eigentlich authentische Schluss ist offenkundig der von 1852, der in der ersten Konzeption, dem Prosaentwurf von 1848, vorgezeichnet war.«24 Brünnhildes Liebe zu Siegfried gilt ihm »als Gegensatz zu Wotans Entsagung und Weltverneinung und als Antizipation künftiger Versöhnung«. Und, so fügt der Musikologe hinzu, »nichts anderes besagt die Musik, die Wagner 1874 zum Schluss der Götterdämmerung komponierte«.25 Nichts anderes? Die Art und Weise, wie Musik hier auf ein Illustrationsmedium symbolischer Aussagen reduziert wird, ist befremdlich und steht im Widerspruch zu allen Wagneranalysen von Dahlhaus sonst.

Offenbar ist »das Ganze« ein hermeneutisches Entlastungsphänomen großen Stils. Gewiss verführt Wagner selbst fortwährend dazu, seine Sachen niemals unterhalb der Ebene letzter Menschheitsfragen zu besprechen. Aber dieser Verführung sollte man standhalten, schon um den differentialen Gegenkräften das Gewicht geben zu können, das sie verdienen. Zuviel spricht dafür, dass Wagners Musik die megalomanen Ideen des 19. Jahrhunderts wie Fortschritt, Naturzustand, Kausalität, lineare Zeit, Erlösung und Ende der Geschichte nicht nur in großen Worten verdoppelt, sondern auch strukturell analysiert, verschiebt und zersetzt, zuviel also, als dass es zu rechtfertigen wäre, den Konsequenzen länger auszuweichen. Das ist kein Jux, der eine große Sache verkleinern soll, sondern ein notwendiger Differenzierungsschritt innerhalb eines modernen, kritischen Wagnerverständnisses. Gerade weil die Zeitdramen des Ring sich in so vielen unterschiedlichen Gestalten präsentieren, bilden sie ein faserndes, nominalistisches Gegengewicht zur großen Linie, zum Plot.

Im III. Akt der Götterdämmerung wird dieser Zug in besonderer Weise virulent. So sehr setzt sich die Musik hier aus diskontinuierlichen, antilinearen Partien zusammen, dass sie zunehmend mit dem Erwartungshorizont kollidiert, den das Sujet trotz allem weiter aufbaut und schürt. Auf der Bühne, so scheint es, wird die Tragödie vom Untergang der Welt vollzogen, während das musikalische Material die Unmöglichkeit vorführt, zu »dem« Ende zu kommen, das Finale aller Finali zu realisieren. Die Problematik des Schließens betrifft die Musik des 19. Jahrhunderts generell, zumal eine so intermediale Form wie die Oper.26 Aber im III. Akt der Götterdämmerung spitzt sie sich zu wie nirgendwo sonst. Kommt hier doch die Welt zum Schluss in einer Musik, von der der Komponist sagt, dass es für sie »keinen Schluss« geben kann: »sie ist wie die Genesis der Dinge, sie kann immer wieder von vorne anfangen, in das Gegenteil übergehen, aber fertig ist sie eigentlich nie.«27 Was hat es mit dieser Zeitdifferenz von Musik und Sujet, dem generativen Vermögen der einen und dem auf »das« Ende hin orientierten Blickwinkel der anderen, auf sich?

Natürlich findet Diskontinuität als Prinzip, d. h. als Zerfall des einheitlichen Zeitverlaufs in eine Pluralität von Elementen, die je ihre eigene Zeit haben, nicht erst in der Götterdämmerung statt. Schon lange vorher gibt es bei Wagner stationäre Phasen, welche gegen die Kontinuität der Handlung geschrieben sind, rituelle Augenblicke z.B., welche eine »unendliche« Gegenwart ohne Bezug nach »vorwärts« und »rückwärts« zu kennen scheinen (z.B. die Todesverkündigungsszene in Walküre II). Ebenso lassen sich extreme Dynamisierungen und Beschleunigungen beobachten, Zusammenstöße disparater Formen von Präsenz, jähe Abbrüche scheinbar zielorientierter Verläufe, Implosionen von Höhepunkten, überhaupt mannigfaltige Wechsel zwischen intensiven und extensiven Gestalten. Wagners Material entzieht sich jeder Fixierung. Es gibt temporäre Effekte von Festigkeit, aber keine konstante Grundlage für langfristige Entwicklungen. Solche Diskontinuität beginnt bei so simplen Tatbeständen wie den zahllosen Trugschlüssen, dem Tribut Wagnerscher Materialvereinheitlichung an die vermiedene Kadenzlogik, setzt sich in exponierten Phänomenen wie dem Zeitsprung zwischen Vorspiel und erster Szene Rheingold fort28, lässt sich an mannigfaltigen Kollisionen von rhythmischen, harmonischen und figurativen Gegensätzen beobachten, von denen insbesondere die Götterdämmerung lebt – und betrifft schließlich die Anlage ganzer Aktteile und Akte. So liegen zwischen der je schon im Übergang zur Absenz begriffenen Musik der Nornenszene und der ihr folgenden Liebesmesse von Siegfried und Brünnhilde wahrhaft »Welten«: Wagners Verfahren, im Letzteren das diatonische Material so weit auszureizen, dass es gleichsam zwischen Raffinement und Plakativität zu changieren beginnt, kontrastiert mit den traumähnlichen und klangschwarzen Strukturen des zuvor Komponierten so sehr, dass man sich an einen Film erinnert fühlt, der am Ende eines alt und überschwer gewordenen Lebens in die Zukunftsekstasen der Adoleszenz rückblendet, wo das Leben noch wie eine große, helle Straße vor einem lag. Auch in dem Stück, das aus jener Rückblende herausführen soll, »Siegfrieds Rheinfahrt«, zeigen sich thematisch-harmonische Flächen aneinandergereiht wie Bilder im filmischen Zeitraffer. Signifikant sind nicht zuletzt die Aktschlüsse: Zu denken ist z.B. an den II. Akt Tristan, wenn nach der unendlich langen Klage von König Marke, die die Zeit sozusagen stillstehen lässt, plötzlich Melot in die Handlung eingreift, Tristan verwundet und mit dieser Tat den Akt beendet, ohne dass man weiß, wie einem selbst geschieht. Noch drastischer gerät das Ende von Walküre II, wo nach Momenten extremer Kontemplation (dem Monolog Wotans, dem Ritual der Todesverkündigung, Siegmunds Einsamkeit nach Brünnhildes Weggang, nicht zuletzt Sieglindes unbeschreiblicher Vision der Wiederholung ihres Kindheitstraumas bei »Kehrte der Vater nun heim!«) das Ereignis, auf das, vom klassischen Drama her gedacht, alles ankommt, nämlich der Kampf zwischen Siegmund und Hunding, mit bestürzender Geschwindigkeit, fast schockartig, wie ein Spuk vorübergeht – einen musikalischen Schluss konventionellster Art nach sich ziehend, als handele es sich bei dieser Aktion um ornamentales Beiwerk statt um eine tragische Peripetie. Das ist kein Problem unter anderen. Wagner muss auf Formelkram zurückgreifen, weil ihm das Enden selbst zum Problem geworden ist und die vielen, heterogenen Material- und Stilschichten, mit denen er arbeitet, ein Ganzes, das sich aus der eigenen Dramatik heraus in den Schluss führt, unmöglich machen.

Gilt das aber nicht für die Oper generell? Allein schon aufgrund des Zusammenspiels unterschiedlicher Medien lebt diese Gattung schließlich so sehr von der Diskontinuität der Strukturen und vom Wechselspiel heterogener Situationen, dass sich eine im strengen Sinn autonome Konstruktion ihres musikalischen Verlaufs von selbst verbietet. Weit über die Grunddifferenz von Arie und Rezitativ hinaus sind Intermittenz und Pluralität für das musikalische Theater geradezu definitorisch relevant.29 Trotzdem ist die Frage nicht einfach mit Ja zu beantworten. Gewiss geht die Pluralisierung der Zeit bei Wagner auch auf Voraussetzungen der Opernform zurück. In instrumentalkonzert, Kammermusik oder Lied wäre sie auf diesem Level undenkbar. Aber im Musikdrama werden nicht einfach Gesetzmäßigkeiten der Gattung wiederholt, sondern auf erweiterter Stufenleiter neu gebildet – und dies als Konsequenz just von Wagners Vereinheitlichung der traditionellen Formen. Erst damit wird der Perspektivismus dieser Werke als Paradigma von Zeitgestaltung thematisch. Man wird Wagner nicht gerecht, wenn man den qualitativen Sprung, der da vollzogen wird, schematisch in die Geschichte der Oper einreiht. Die vielen Zeiten sind nicht lediglich Produkt des Zusammenspiels eines heterogenen Formenensembles, sondern sie gründen in einer Dynamik, welche die motivischen, harmonischen, syntaktischen und klanglichen Strukturen insgesamt erfasst. Im Musikdrama wird Diskontinuität ubiquitär, damit aber auch einheitsbildend, eine Art Synthesis kraft fortgesetzter Perspektivierung. Statt weiter von einer periodischen Großrhythmik gehalten zu werden, wie Georgiades sie seinerzeit am Musiktheater Mozarts beschrieben hat30, ist sie zur treibenden Kraft des musikalischen Materials und seiner Parameter insgesamt avanciert, ein Paradigma der Unruhe im Kleinen wie im Großen.

Bereits der Anfang des Rheingold ist das Gegenteil einer Geborgenheit im Ursprung. Wagner konnte die genealogische Kette des Göttermythos nur zum Stillstand bringen, indem er einen imaginären Anker in die Tiefe des Rheins warf, diesen als Anfang setzte, um ihn dann als phantasmagorischen Klangraum auszukomponieren. Phantasmagorisch heißt hier, die Grunderfahrung der Entstehungsgeschichte des Ring, den Vorrang der Zeit vor dem Ursprung, simulationstechnisch abzublenden. Aber jeder Versuch, nach dem Sinn dieses Anfangs zu fragen, stößt auf Bedingungen, die diesem vorausliegen und somit belegen, dass er nicht »der« Anfang überhaupt ist, sondern ein relativer Beginn in der Zeit, mag er sich auch als »Urszene« präsentieren.31 Schon die schlichte Tatsache, dass zwischen Vorspiel, erster und zweiter Szene im Rheingold kein Verhältnis zeitlicher Kontinuität herrscht (weder schließt Alberichs Raub des Goldes an das Vorspiel an noch die darauffolgende Götterhandlung an den Raub), verweist auf Ereignisse, die in der theatralen Erzählung nicht präsent sind, sondern über andere Kanäle in den Plot eingeschleust werden müssen. Leitmotivtechnik kommt nur ins narrative Spiel, weil Zeit systematisch durch Diskontinuität bestimmt wird – zwischen den Szenen, den szenischen Abschnitten und den motivischen Strukturen untereinander. Je mehr Ursprungsaura der Anfang für sich veranschlagt, desto gewichtiger die latenten Zeitsprünge, in deren Folge er steht.

Beim Finale der Finali liegt der Fall noch um einiges vertrackter als beim Anfang der Anfänge. Denn der III. Akt der Götterdämmerung ist keine Phantasmagorie. Darin liegen seine Stärke und seine Schwäche. Seine Stärke, weil er die eigene Finalität in Frage stellt, wo er sich aus Nummern zusammensetzt, die für sich selbst schon Formen des Endens und Schließens darstellen: Siegfrieds Erzählung, die Trauermusik, Brünnhildes Schlussgesang. Aber auch seine Schwäche, weil so die Diffusion des dramatischen Zusammenhangs in eine kritische Zone gerät.

Den Beginn des Endes markiert die große Szene mit den Rheintöchtern; zwischen den Nummern kommt es zu quasi-improvisatorischen Ereignisfolgen, die jene noch isolierter erscheinen lassen, als sie es eh schon sind: die Jagdgesellschaft, später das Zurückbringen der Leiche an den Hof. Davor das gespenstische Solo Gutrunes, das Wieland Wagner so erratisch vorkam, dass er es zeitweilig bei Aufführungen streichen zu müssen meinte.32 Statt Zeit stillzustellen oder aus ihr herauszuspringen, zieht der III. Akt der Götterdämmerung die Musik in einen überwältigenden Temporalisierungsprozess hinein.

Nun ist Wagner aber kein Ästhetiker des Fragments. Er will nicht auf den »runden Abschluss« verzichten, in gewisser Weise muss es für ihn nach wie vor »klassisch« zugehen. Exemplarisch führt »Starke Scheite« vor, wie widersprüchlich ein solcher Ansatz als komponierter geraten kann. Brünnhildes Finale ist eine Szene mit größtmöglichem rituellen Aufgebot, bunter Rückblick fürs Volk und bleiches Todesfest gleichermaßen. Aber es zerfällt in sich, organisiert seine Partikel weniger strukturell, als dass es sie nach Art einer Bilderparade anhäuft und addiert. Gemessen an dem Extremismus, den die Götterdämmerung in Sachen motivischer Dichte und klanglicher Analytik sonst praktiziert, haben wir es hier mit einem Potpourri zu tun, das ähnlich wie der ätherische Domchor am Ende des Parsifal einem schon erkalteten, abgestorbenen Material noch einmal einen letzten grandiosen Auftritt abzwingen möchte. Je fulminanter die Attitüden, desto dringlicher das Al fresco. Wenn Nietzsches böser Satz über Wagner als den »Deuter und Verklärer einer Vergangenheit« ein Recht hat, dann an solchen Stellen, wo das späte 19. Jahrhundert ein monumentales Zeugnis der eigenen Größe ablegt – wenngleich eines, dessen Monumentalität bereits bröckelt wie morsches Holz. Nur war Wagner, was Nietzsche nicht ebenso zu goutieren vermochte, weit mehr noch der »Seher einer Zukunft«33, will sagen: einer Moderne, die über jenes Fin de siècle hinausreicht, in dessen Bannkreis »Starke Scheite« rhetorisch wie physiognomisch verharrt. Diese Moderne tritt im III. Akt der Götterdämmerung vor allem an den Momenten der Musik hervor, die sich vom Finale emanzipieren und zuweilen geradezu gegen es geschrieben scheinen.

Das Besondere dieses Aktes wird allerdings erst vor dem Hintergrund der beiden ersten deutlich. Diese treiben die Spannung zwischen der verborgenen Götterhandlung, welche in der extremen Konzentration des motivischen Materials zu ihrem vergangenheitsschweren Ausdruck kommt, und einer akzelerierenden Entwicklung des dramatischen Plots, die mit dem Terminus »Hagen-Intrige« nur notdürftig gekennzeichnet ist, auf die Spitze. Die Musik ist zugleich ganz nahe und ganz fern der Bühne: ganz nahe, weil sie deren Ereignisse in äußerster Dichte gestaltet, begleitet und kommentiert; ganz fern, weil eben solche Dichte primär von den Strukturen der latenten Götterhandlung generiert wird. Auf der Bühne jagt ein Spannungsmoment den anderen, und doch erdrückt die Gewalt der Musik tendenziell alles, was szenisch geschieht. Auch die Verwendung traditioneller Opernformen wie Chor und Terzett dient mehr der Akkumulation von Spannung als einem Innehalten gegenüber Handlung und Mythos. Entgegen der Tradition tritt die Musik nicht aus der Immanenz des Schicksalsgangs heraus, sondern zeichnet diese im Gegenteil so differenziert wie nur möglich nach. Stilistisch gehören solche Opernpartien zu einem Prinzip von »Musik über Musik«, das sich entstehungsgeschichtlich aus der Allgegenwart von Trug und Täuschung in Siegfrieds Tod herleiten lässt, auf der Ebene der Götterdämmerung aber weit über eine Darstellung negativer dramatischer Inhalte hinausgeht. Um der fortgesetzten Ausformung von Entfremdung und Uneigentlichkeit expressiv Herr zu werden, brauchte Wagner eine zweite musikalische Sprachschicht. Er fand sie in der forcierten Wiederaufnahme diatonischen Materials, nur dass Diatonik dabei als Allegorie des Falschen statt als Symbol von Natur fungiert. Entsprechend ist das Opernhafte ganz in die dramatische Sukzession eingelagert, es stellt keine Distanz zum Geschehen her, sondern kassiert diese im Gegenteil ein.34

Im Vergleich dazu bietet der III. Akt eine Alternative, die vor allem zu Beginn wie Ferien vom Tragischen innerhalb dessen eigener Spannweite anmutet.35 Sie betont nicht allein Präsenz statt Entwicklung, sondern ebenso Trödeln anstelle von Akzelerieren. Zudem nimmt sie, wie gesagt, auf der einen Seite die Handlung in Nummern und auf der anderen in Vollzüge »von unten« zurück. Aus dem Drama als solchem ist die Luft entwichen. Die Würfel sind gefallen. Taten werden erledigt, aber sie stehen nicht länger auf dem Spiel. Von Ausnahmen abgesehen gibt es keine Spannung strengen Sinnes mehr. Der Akzent liegt auf Retardieren, Sich-Lösen, Zurückblicken, Meeresstille, in pejorativer Steigerung auf Erstarren, quälendem Warten und pompöser Leere. Das Desinteresse an Aktion ist aus Wagners früheren Werken bestens bekannt, es fällt im Finale der Götterdämmerung nur noch weit mehr ins Gewicht.

Angesichts der nahenden Katastrophe lässt sich die Musik provokant viel Zeit. Liegt darin vielleicht doch jene von Adorno so schmerzlich vermisste Zäsur im Musikdrama, die aus der Handlung heraustritt, den Mythos nicht nachahmt, sondern sich von ihm distanziert? Nun, man muss zugeben, die Handlung ist hier selbst dunkel und lückenhaft. Im III. Akt der Götterdämmerung verwirren sich die Fäden des Plots nicht weniger als die der Nornen, und fast scheint es, als ob Wagner subjektiv Wichtigeres zu tun gehabt hätte, als sich ausgerechnet darum zu sorgen. Die Frage, was der Brand Walhalls mit Siegfrieds Tod zu tun hat, ist von keinem noch so gewieften Wagnerkenner stimmig beantwortet worden, wiewohl sie einen relevanteren Aspekt betrifft als den, wofür nun genau Wotan sein Auge gab. Vielleicht geht es überhaupt weniger um einen Kontrast zwischen Musik und Handlung als um ein Missverhältnis zwischen konkreten musikalischen Formen und der abstrakten Idee des Weltenfinales. Die Pointe ist nicht, dass die Musik auf die Autonomie der Gegenwart mehr Wert legt als auf Ziel und Zielspannung, sondern dass sie diese Position wie im Vergrößerungsglas und zugleich jenseits aller dramatischen Ballung vorführt – mit dem Ergebnis, dass der große Brand am Ende wie ein Trick aus der Zauberkiste daherkommt.36 Nicht so sehr stellt Theater hier eine Katastrophe dar, als dass diese Katastrophe Theater im landläufigen Sinn bleibt. Der Akt führt großartige Beispiele einer neuen Freiheit der Musik mit sich, er führt aber ebenso die Kontingenz, das stets auch Halbverbindliche formaler Entscheidungen vor, während das Sujet die letzten und monumentalsten Dinge zu verhandeln vorgibt. Dieser Bruch zwischen der Größe des Stoffs und der Kleinteiligkeit der Strukturen hat Folgen für das Verständnis der Tetralogie im Ganzen.

Als erstes fällt am Vorspiel des III. Aktes der Götterdämmerung die Lockerheit auf, mit der Wagner zu Beginn bühnenmusikalische Elemente mit einer Reminiszenz an den Anfang und die 1. Szene des Rheingold kombiniert, um dann mit einem Schlag ein musikalisches Material einzuführen, das musikhistorisch irgendwo zwischen Fauré und Ravel angesiedelt ist und einen vor allem atmosphärisch faszinierenden Innovationsschub mit sich führt. Die Stierhörner verkörpern eine Jagd in actu (die freilich nicht auf der Bühne stattfindet), der F-Dur-Rekurs auf die Naturtonmagie von Rheingold-Vorspiel und Rheintöchterruf beschwört eine Vergangenheit herauf, die wie ein Traumbild vom Goldenen Zeitalter erscheint: nach langer Zeit wieder ein diatonischer Passus, der nicht den Ausdrucksklischees der falschen Welt unterworfen scheint. Daraus zu schließen, Wagner strebe nach der tragischen »Durchführung« nunmehr eine versöhnende »Reprise« an, wäre voreilig. Die Rheingold-Musik bleibt Episode, der französische Habitus der Rheintöchter hat nur noch wenig mit der urtümelnden Heimat zu tun, umso mehr dafür mit einem Idyll der Fremde. Evoziert wird kein Rhein, sondern, sagen wir ruhig: Südsee-Exotik, ein komponiertes Tahiti, anderthalb Jahrzehnte bevor Paul Gauguin diese Welt für die Malerei entdeckte: tonische Klangfelder auf Orgelpunkten, quasi schwerelos ineinandergleitende parallele Sextakkorde, chromatische Dissonanzen ohne Richtungsspannung, große Nonenakkorde, die sich in die melodische Horizontale auseinanderziehen (GD III: T. 81f.) und gelegentlich als »Auflösung« eines Dominantseptakkordes fungieren (GD III: T. 86f., 135f.). Das Melos setzt sich aus floskelhaften Elementen zusammen, die sich teils singend, teils tänzerisch im Raum verschwenden, ohne je von ihrer rhythmischen Schärfe abzulassen. Retardieren und Ausatmen erweisen sich als von klaren syntaktischen Mustern unterbaut. Die Differenz zwischen Ornament und Figur beginnt sich aufzulösen, jenes kann zu dieser werden und umgekehrt. Vor allen Dingen aber herrscht erst einmal Leitmotivfreiheit, was nach der Allgegenwart semantischer Ketten in den beiden Aktvorgängern eine Wirkung erzielt, als ob man aus dem Gefängnis heraus ins Freie getreten wäre. Im Verein mit der homogenen Periodik des Ganzen erzeugen die »impressionistischen« Valeurs seiner Klänge eine einzigartige Atmosphäre des Leichten, ein Abseits von Verhängnis und Mythos. Noch wo Wagner das Spinnennetz der Leitmotive wieder auswirft und die Phantasmen der Südsee mit sozusagen deutscher mythologischer Bedeutung infiltriert, bleibt der Grundzug luxuriender Laxheit, von dem die Szene lebt, durch alle Eintrübungen hindurch erhalten. In Erwartung von Siegfrieds Tod gleitet der Komponist entspannt zwischen Tragik und vitaler Faulheit hin und her, geradewegs als wolle er den katastrophischen Fortgang des Dramas zugunsten des soeben neu erschlossenen Freiraums an Musik absichtsvoll tiefer hängen.37

Noch aus einem anderen Grund verdient die Interaktion von reizvoller Exotik und schwerem Mythos Aufmerksamkeit. Man hat Wagners Umgang mit dem Orchester oft in die Nähe des Films gerückt, um zu signalisieren, wie modern er sei, aber von heute aus erscheint dies eher als zu altmodisch gedacht. Die Art und Weise jedenfalls, wie Wagner in der Rheintöchter-Szene der Götterdämmerung die divergierenden Materialbereiche jeweils trennt, verbindet und wieder trennt, gemahnt weniger an die klassische Filmtechnik als an Computeranimation. Indiz dafür ist die einfach sagenhafte Unauffälligkeit, mit der der exotische in den tragischen Klangraum übergeht und die Rheintöchter phasenweise agieren lässt, als seien sie die Nornen, um am Ende doch wieder zu den Nixen zu werden. An zwei exponierten Stellen setzt die Vermittlung mit der Warndissonanz der Rheintöchter im Bläsersatz ein, dem in der Basstrompete das alte Rheingoldmotiv unterlegt wird. Das erste Mal handelt es sich um einen kleinen Einschub von 14 Takten, der die Atmosphäre nur unschwer eindunkelt (GD III: T. 205–214);das »Tahiti-Material« kehrt unbeschädigt sogleich zurück – durch komödiantische Figurationen erweitert und angereichert. Erst beim zweiten Mal (GD III: T. 280–402) wird die Klanglage ernst. Aber obwohl fast die gesamte Palette der üblichen Verdächtigen aufgeboten wird (Ringmotiv, Fronmotiv, Fluchmotiv, Wurmmotiv, Schmiedemotiv, Rheingoldmotiv, Werdemotiv, Götterdämmerungsmotiv, Motiv des Nornenseils, Speermotiv, Entsagungsmotiv, Walhallmotiv) und die Rheintöchter teilweise in drohendem Unisono singen (wie die Nornen und auch das Verschwörerterzett im II. Akt), bleibt der »Grundton« unterm Strich entspannt, spielerisch, weich. Das liegt einmal daran, dass die Leitmotive bei aller Signifikanz eng in den Orchestersatz verflochten sind, sich weniger als Einzelgestalten denn in Feldern präsentieren und auch in so demonstrativ milder Vokalform auftreten wie an keiner anderen Stelle des Ring. Es hat aber auch damit zu tun, dass die Verfärbung der Szene mit den Klangzeichen des Tragischen lässig in das ausgelassene Spiel der Reize wieder umzukippen vermag, als sei nichts geschehen (GD III: T. 403ff.).38 Der Hörer nimmt solche Unterschiede wahr, aber wie mit einem Schleier überzogen. Er glaubt gleichsam nicht ganz an sie. Man spürt den Ernst des Zustands, aber den Weg dorthin hat man irgendwie versäumt. Gegenwärtige Wirkung ist alles. Die sportive Eleganz der Stretta schiebt das Negative weg wie nichts, aber dann lässt Wagner das zweite, tänzerische Südseemotiv von den gedämpften Hörnern wie mit Schmutz überkleben und das Fluchmotiv auf dem Fuß folgen (GD III: T. 489ff.). Auch das gehört zur »Kunst des Übergangs«: dass sie den Abgrund zwischen dem einen und dem anderen Zustand als Fließwerk darzustellen weiß.

Im III. Akt kommt es zu einer Wiederkehr der Nummernoper, die konträr zu dem steht, was im II. Akt der Fall ist. Hat der Rückgriff auf die Opernformen dort die Funktion, die Komplexität des Verblendungszusammenhangs auszustellen und das Netzwerk der Götterhandlung mit den Konventionen der falschen Welt zu unterfüttern, geht es im III. Akt um die relative Distanzierung der Musik vom Determinismus des Plots. Nicht nur kommt es in diesem Werk mittels Überfülle von motivischen Ereignissen zu einem Kollaps der Bedeutungen, sondern es werden Elemente der Oper zudem auf eine Weise neu formiert, die die Dramaturgie noch mehr in den Hintergrund drängt, als es ohnehin der Fall ist. Dass man am Schluss nicht mehr so recht weiß, worum es in diesem Riesenwerk geht, hat neben der Verwirrung auf Handlungsebene den Vorteil, dass es die Autonomie der musikalischen Strukturen begünstigt.39

Licht fällt von hier aus auch auf den Trauermarsch. Dass Hitler diese Musik u.a. zur Beerdigung von Ernst Röhm hat spielen lassen, gestattet kein ästhetisches Urteil über sie, aber es ist schwer, den propagandistischen Zug zu ignorieren, der ihr anhaftet. Hört man den Marsch rein als Einzelstück, kommt primär das Ritual der Leere zum Vorschein, das er auch ist, das brutale Pathos mancher Stellen und die kompositorische Ereignislosigkeit auf dem Höhepunkt (GDIII: T. 957ff., T. 963ff.). Bezieht man dieses Stück allerdings auf die musikalischen Zeitformen, die es sukzessiv einrahmen, auf Siegfrieds Erzählung und das Solo von Gutrune, kann sich die Erkenntnis vielleicht Geltung verschaffen, dass da mehr am Werk ist als Wochenschaurhetorik und waffenstarrende Nazistaatstrauer.40

Konventionell handelt es sich bei diesem Trauermarsch um eine Zwischenaktmusik, die erklingt, damit Siegfrieds Leiche von einem Ort zum anderen transportiert werden kann. Natürlich erschöpft sich seine Funktion darin gerade nicht. Er steht vielmehr für eine imaginäre Handlung, welche die der Szene überlagert. Zwischenaktmusik ist der Trauermarsch an den Eckpunkten: zuerst die gedämpften Schläge von Hagens Mordtat, zuletzt das Horn Siegfrieds, das Gutrune zu hören glaubt. Dazwischen aber spielt sich etwas ganz anderes ab. Einschlägige Motive führen die Genealogie des Helden vor, beschwören seine Ahnenreihe wie das vergangene Liebesunglück. Siegfrieds Existenz wird vergegenwärtigt in der symbolischen Kurzschrift des Kollektivs. Warum fällt es spontan so schwer, darin Stil und Charakter einer Totenklage zu erkennen?

Siegfrieds Erzählung war der Versuch des Helden ohne Gedächtnis, ein in Ansätzen geschichtliches Verhältnis zu seinem Leben zu entwickeln. Realisiert wurde er nicht im Sinne eines intensiven Prozesses, sondern mit den Mitteln der leitmotivischen Bilderfolge einerseits und der entzauberten Phantasmagorie andererseits.41 Auch wenn die Kategorie des Intimen Wagner in der Regel verfehlt, hier hat sie ihre Berechtigung: Die Erinnerungsarbeit des Tatmenschen, die buchstäblich in letzter Minute erfolgt, stellt einen Augenblick von exemplarischer Intimität dar, insbesondere dort, wo die Vergangenheit in sein Erinnern einbricht, als käme sie aus einem anderen Äon. Die Trauermusik hingegen steht für offiziöse Symbolik. Auch sie operiert mit Leitmotiven. Aber sie leistet keine Erinnerungsarbeit, vermittelt insbesondere nicht zwischen der Geschichte des Individuums und dem räumlichen Akt des Erinnerungsgeschehens selbst. Was sie leistet, ist ein formalisiertes, ja fixiertes Gedenken für alle, die akustische Ausstellung einer Bildergalerie im Pantheon oder im Reichsstag, die pathosgeladene Präsentation von Lebensmomenten als Monumenten. Der propagandistische Charakter einer solchen Musik gehört zu ihrer Definition. Nur muss man sich sofort klarmachen: Keine offizielle Gedenkveranstaltung, auch die demokratischste nicht, ist frei von falschen Tönen und Gesten, öffentliche Trauer ein Widerspruch in sich. Insofern verrät es schlichtes historisches Unverständnis, beim Trauermarsch für Siegfried sogleich auf dessen Rezeption im »Dritten Reich« zu rekurrieren, anstatt erst einmal wahrzunehmen, dass und wie der Komponist hier überhaupt individuelles Erinnern und öffentliches Gedenken in ihrer Unvereinbarkeit aufeinanderprallen lässt.42 Gemessen an Siegfrieds Lebensrückblick und Tod markiert die Trauermusik einen massiven Kontrast. Der eben noch dabei war, sich für sich selbst ein erstes biographisches Reflexionsmuster anzueignen, ist jetzt schon für »uns« zum Objekt ewiger Verehrung erstarrt.43 Dieser Riss ist freilich ein und sei’s oft verleugnetes Grundmerkmal moderner Erinnerungskultur. Wagner hat ihn mit den rhetorischen Mitteln des ausgehenden 19. Jahrhunderts kenntlich gemacht und konturiert.44 Das Pathos dieser Musik mag uns fremd geworden sein, aber wenn wir den Kontext mithören, hören wir auch, dass die Grundpraktiken unseres Erinnerns unvereinbar gegeneinanderstehen, dass sie verschiedenen Welten angehören.

Im Übrigen ist das Potpourri des Pantheons nicht das Schlussstück des Aktes, sondern eine Einstellung oder Perspektive unter anderen. Ihm kommt auch nicht mehr, eher weniger Gewicht zu als dem, was ihm vorausgeht und nachfolgt: Siegfrieds tragische Anamnesis und Gutrunes nächtlicher Irrgang. Aber der Trauermarsch ist keineswegs als »überholt« wegzukürzen, gerecht werden kann man ihm nur, wenn man ihn im Zusammenhang spielt wie wahrnimmt. Der innere Abstand der drei Stücke ist nicht zu überbieten, jedes von ihnen befindet sich anders in der Zeit. Die vermeintliche Zwischenaktmusik steht zu Siegfrieds Erzählung wie eine Regierungsfeier zur Psychoanalyse, während Gutrunes Szene gegen beide ein pathologisches Extrem an Einsamkeit und zerstörtem Leben setzt. Als Sukzession heterogener Zeitbilder gehören diese drei Momente jedoch zusammen, gerade weil innere und äußere Erfahrung bei ihnen so krass auseinanderweisen. Erst das Lineare also demonstriert das Ausmaß des Antilinearen: ein im Grunde atemberaubender Vorgang, hat man sich einmal klargemacht, dass sich das Entscheidende in der musikalischen temporalen Form abspielt und nicht in dem, was uns der Stoff erzählt. Die Szene mit Gutrune ist eine der rätselhaftesten des gesamten Ring und auch innerhalb von Götterdämmerung III exterritorial. Nicht bloß gemahnt Gutrune an Agathe, die auf den Freischützen Max wartet – eine Rückschau auf den Anfang des Jahrhunderts an seinem Ende –, sondern die Musik setzt hier förmlich neu an, als ob sie vergessen hätte, dass das Finale bevorsteht. Eine Zerrissenheit der vokalen Deklamation, die fast expressionistische Züge trägt, von ferne Kundrys Stammeln im II. Akt Parsifal erahnen lässt, trifft mit einem Dissoziationsgrad der motivischen Gebilde und einer Fahlheit des Orchesterklangs zusammen, in denen jeder auch nur irgendwie romantische Zauber verlorengegangen ist. Vor allem scheint Gutrune jeder subjektiven Zeitlichkeit enteignet. Die Musik führt vor, dass sie am öffentlichen Gedenken ebenso wenig Anteil hat wie an intimer Erinnerung. Während Brünnhilde wenig später mit einer ganzen Palette an musikalischen Gebilden aufwartet, die wenngleich im Modus formaler Erschöpfung doch immerhin ihre Beziehung zu Siegfried dokumentieren, ist Gutrune von dieser Möglichkeit je schon abgeschnitten. Was sie mit Siegfried verbindet, sind lediglich Schwundformen, Fetzen seines Hornrufes, die in das »Öd alles« der Szene eingelagert sind, als Erinnerungswert jedoch gegen Null tendieren. Zwar bringen sie sich abrupt und iterativ, fast wie eine Idée fixe, zur Geltung, und dies mit alptraumhaften Farb- und Figurationswerten, aber Liebesmotive bleiben noch als deformierte exklusiv für Brünnhilde reserviert. Letztlich hat Gutrune weder Vergangenheit noch Gegenwart noch Zukunft. Trotzdem wartet sie. Während das Orchester ihr auch die geringste Spur einer motivischen Bildergeschichte verweigert, gelingt es der hochgespannten Expression ihres Gesangs, eben dieses Warten als eigene musikalische und seelische Qualität zu präsentieren. So wächst Gutrune über ihre fatale Rolle hinaus. Als französische Kokotte auf die Bühne gekommen, endet Siegfrieds Frau als erste moderne Irre des musikalischen Theaters. Wagner beginnt »nachwagnerisch« zu komponieren. Auch in der darauffolgenden Szene bricht die homogene Orchestertotale zugunsten einer Pluralität gegeneinander gesetzter Einzelfarben und Registerlagen auf; zudem kommt es zu Ansätzen einer Polyphonie, die nicht vorrangig mehr klangsinnlich definiert ist, und zu einem Typus von Streicherfigurationen, der in der Art, wie er Exaltiertes gestaltet und in der Gestaltung zugleich zurücknimmt, ebenfalls auf Parsifal vorausweist, in seiner furios ausgreifenden Sturzbewegung sogar direkt auf das Kundrymotiv (GD III: T. 1067ff., 1089ff., 1186ff.). Ebenso auffällig, wie die expressive Linienführung von Gunthers Gesang für einen kurzen Moment den Leidensgestus von Amfortas vorwegnimmt (GD III: T. 1075–1082). Im Angesicht des Endes gesteht Wagner ausgerechnet den schwächlichen Nebenfiguren einen Emanzipationsruck zu, der den der offiziell verbleibenden Heldin in den Schatten stellt. Verglichen mit diesen plötzlichen Mutationen der musikalischen Sprache wirkt »Starke Scheite« wie eine mit Pomp inszenierte Rückkehr zum Altbewährten, unter dessen geschlossener Oberfläche das motivische wie morphologische Material längst zerbröselt ist.

Der III. Akt der Götterdämmerung reiht verschiedene Schlussformen aneinander. Dass die Rheintöchterszene so geschlossen ist, dass ihre Fortsetzung beinahe wie eine Konzession an den szenischen Ablauf anmutet, mag noch angehen. Aber spätestens die Erzählung Siegfrieds ist eine Schlussgestalt, in deren Licht sich der Trauermarsch bereits als Epilog präsentiert. Die Zielarmut im Sukzessiven steigert sich dann weiter durch den Einbruch neuen musikalischen Materials, mit der Folge auch, dass die Handlung an Status verliert: Was immer jetzt noch auf der Bühne geschieht, es bleiben Schattenspiele. Solche Diffusion kann Brünnhilde in ihrem Schlussgesang zwar insofern auffangen, als sie den alten Mustern wieder eine Plattform zur Verfügung stellt. Aber ineins damit bestätigt die Heldin, die mit dem Habitus der ultimativen Mission auftritt, selbst die Antifinalität des Werkes, indem sie einen Zwiespalt vorführt, der keine Erlösung kennt: den zwischen Epilog und Zeremonie, Witwenverbrennung und Trauerarbeit, zwischen ritueller Gegenwartsaffirmation und retrospektivem Jenseits. Noch und gerade das Weltenfinale verfängt sich in den Widersprüchen der Zeit. Anders als der einigermaßen analoge »Liebestod« der Isolde kommt »Starke Scheite« vom Charakter der professionell aufgepumpten Zugabe nie ganz los.

Es kann nach all dem kaum verwundern, wenn Interpreten sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber hegen, wo das inhaltliche Ende der Tetralogie zu finden ist. Für Wieland Wagner und Hans Mayer galt z.B., dass das innere Finale des Ring der Trauermarsch sei, der Schlussgesang der Brünnhilde dagegen das äußere.45 Beide sahen die Klage um die verlorenen Illusionen, welche mit der Person Siegfrieds verbunden sind, als inhaltliches Ziel des III. Aktes an. Damit verglichen erwies »Starke Scheite« für sie zwar dem Theater die gebührende Reverenz, ohne aber über die »tragische Musik« hinauszugehen, welche der Trauermarsch verkörpert. Immerhin wird so erahnbar, warum Wieland meinte, die Szene mit Gutrune streichen zu können. Denn ist der Trauermarsch einmal als das geistige Ziel des Ganzen gesetzt und Brünnhildes Schlussgesang dessen theatral gesteigerter Ausklang, wird es schwer, in Gutrunes dysfunktionalem Auftritt mehr zu erkennen als einen experimentellen Seitentrieb des Dramas. Plausibel wird der Strich dadurch freilich ebenso wenig wie die idealistische Überhöhung der Trauermusik durch Wieland wie Mayer.

Boulez widerspricht dem, aber auch sich selbst: »Nein, für mich kommt das Ende der Tetralogie etwas später«, nämlich nicht mit dem Erlösungsmotiv, »sondern bei den Worten der Brünnhilde ›Ruhe, ruhe, du Gott!‹ Alles übrige ist nur noch eine Coda, um diesen Abschluss zu erweitern.«46 Bis zu jenen Worten ist »Starke Scheite« für Boulez indes eine notwendige Konsequenz der Trauermusik in dem Sinne, dass dieses Stück als »Opfer« die »Zertrümmerung der Illusionen« besiegelt. Dies hat nur den Haken, dass das Opfer dann ausgerechnet in der »Coda« vollbracht werden muss, weil die Zeit davor für den langen Blick zurück draufgegangen ist. Die Frage liegt nahe, ob Form wie Wahl der Worte hier nicht den Mythos unterlaufen oder dementieren.

In dieser komplizierten »Coda« gibt es aber auch noch das »Orakel« der letzten Takte, das Boulez auf zweierlei Weise begreift. Einmal betont progressiv als Aufforderung, den konventionellen Theaterrahmen hinter sich zu lassen und seine Unergründlichkeit als Geste an das Publikum zu adressieren.47 Zu dieser Offenheit aber passt jedoch ganz und gar nicht, dass das Orakel allein vom Erlösungsmotiv ausgehen soll, als ginge es eben doch darum, einem »letzten Wort« der Musik auf die Spur zu kommen. Der Schluss besteht, wie wir alle wissen, keineswegs nur aus dieser unvergleichlichen Figur der Sehnsucht. Vor ihr erklingen Walhallmotiv und Siegfriedmotiv in einer Apotheose, die mit dem lastend Negativen der Götterdämmerung zuvor nichts mehr zu tun hat. Welche Musik ist es denn nun, der wir unsere Ratlosigkeit überlassen sollen? Mutieren die letzten Takte auf einmal zum Ziel des Ganzen, und sei’s in der Form, dass wir von der stummen Gesellschaft der Bühne demonstrativ angeschaut werden, damit wir wissen, dass wir gemeint sind? Oder kommt die Erlösung am Schluss, weil es der Schluss ist, d.h. weil alles »gut ausgehen« muss? Wenn dieses Finale aber schon im Kontext des letzten Abends aufgesetzt oder angestückt wirken kann, um wieviel mehr dann in Bezug auf die Tetralogie als Totum?

Der III. Akt der Götterdämmerung macht das Ende und das Enden zum Thema, zum Gegenstand theatraler und musikalischer Reflexion. Damit wird die Frage, wo das wahre Ende des Ring ist, in gewisser Weise als falsch gestellt zurückgewiesen. Suggeriert sie doch die grundsätzliche Realisierbarkeit jener großen Lösung, die gerade auf dem Prüfstand steht. Es geht aber nicht um das Ende als objektiven oder essenzialistischen Fakt, es geht darum, dass die unterschiedlichen und widersprüchlichen Vorstellungen, die über das Ende des Ring herrschen, bereits von sich aus auf die Unmöglichkeit des integralen oder monistischen Modells reagieren, auch wenn sie dies nicht eigens artikulieren. Jene Pluralität verrät nicht einfach ungenaue Analyse oder beliebige Meinung, sie gewinnt ihr Recht vielmehr in der Auseinandersetzung mit der inneren Vielfalt von Wagners Tetralogie, sofern sie ihre eigene perspektivische Begrenzung mitzudenken vermag. Die Pointe des III. Akts der Götterdämmerung besteht darin, dass er zu dieser Auseinandersetzung mehr zwingt als jeder andere Teil des Ring. Die Sehnsucht nach dem Finale als dem »letzten Wort« der Musik bleibt verständlich. Aber sie tut dem Werk Gewalt an, wenn sie sich anmaßt, selbst die Mitte seines Verstehens zu repräsentieren. Die letzten Takte des Werks entscheiden nicht über das Werk als Ganzes, sie sind weder seine Botschaft noch sein Resultat. Das Maß, an dem sie sich messen lassen müssen, ist die überwältigende Negativität der musikalischen Strukturen und Sprachformen zuvor. Der III. Akt der Götterdämmerung ist keine spätromantische Feuer- und Wassertragödie, sondern ein modernes Stück über die Unmöglichkeit, zu »dem« Ende zu kommen.

Postscriptum zum Zeitproblem

Die Tragödie der Zeitbewältigung, des Vergessens und des Rausches (Zeitbegriff 1) ist durch den Zerfall des Kontinuums in eine Pluralität vieler Zeiten (Zeitbegriff 2) zu ergänzen. Erst beide Aspekte zusammen definieren Wagners Revolution der Zeit. Versteht man das Zeitproblem einseitig von der Tragödie her, sieht es leicht so aus, als sei das Scheitern des Subjekts an der Zeit das einzige und eigentliche Thema der Tetralogie und als käme es Wagner letztlich darauf an, dieses Subjekt noch im Zusammenbruch als Bezugsmitte von Kunst und Welt zu bestätigen. Damit würde man aber den Fehler Adornos wiederholen und die Pluralität der Zeitformen auf Gestalten der einen misslingenden Gesellschaftsgeschichte reduzieren. Ex negativo bliebe die finale Integration der Zeit das Maß aller Kritik. Auch der Gedanke, die Götterdämmerung expliziere Elemente dimensionierter Zeit, sie zeige minutiös das Zusammenspiel von Vergangenheit, Gedächtnis, Erinnern und Vergessen auf48, säße einer subjektzentrischen Fehldeutung auf, wollte sie solche Dimensionalität als integrales Formprinzip verstanden wissen. So überreich Wagners Verfügung über Ausdrucksformen von Vergangenheit in diesem Werk auch ist, das Spektrum seiner Zeitgestaltung zeigt sich mit ihnen nicht erschöpft. Es fehlte bislang eine Bestimmung der offenen Struktur dieses Spektrums selbst und ihres Unterschieds zur Tendenz der Entropie, wir könnten auch sagen: eine Bestimmung der Zukunft im Unterschied zur Vergangenheit und vielleicht auch die offener Möglichkeiten im Gegensatz zur tragischen Hermetik des Mythos. Diese Bestimmung wird durch die Analysen zur Pluralisierung des Zeitkontinuums zumindest ansatzweise eingeholt. Scheut man die Lehrbuchformel nicht um jeden Preis, ließe sich formulieren: Wagners Musik ist Ausdruck eines mythischen Versagens des Subjekts vor der Macht der Zeit, die Entdeckung von Vergangenheit als Modus und eine Konstruktion von Pluralität, Spielraum und damit Zukunft durch Diskontinuierung des Verlaufs.