Es ist unvernünftig, dass man heutzutage für einen Tristan sechs Wochen Probenzeit bekommt, für einen Weißen Hai hingegen zwei Jahre.
WOODY ALLEN
Was nicht gebrochen wird, kann nicht gerettet werden.
HEINER MÜLLER
Nach all den Jahren, Reden, Texten, Proben ist eines klar: Der Ring lässt sich nicht mehr aus einem einheitlichen Gesamtkonzept heraus entwickeln.
Meine erste Frage für und an das Stück ist: Was kann »Einheit« heute überhaupt noch sein, in dieser Zeit, zu diesen Bedingungen?
Der Opernbetrieb nimmt sich gegenwärtig nur des Großen in diesem Werk an, ja das Größte können sie, nicht aber das Kleinste. Inflation von Ring-Zyklen weltweit, »Jahrtausendwechsel«-Produktionen, 16 Millionen Dollar für den Ring in New York, 30 für den in Los Angeles, Regieentscheidungen und Werkbesprechungen, die oft nur noch darauf zielen, welcher Drachenkampf, Feuerzauber, Walkürenritt so »gemacht« ist, dass er den vorherigen an Effekten übertrifft (als könnte man Wagner überhaupt machen, wie man sonst eine Käse-Ei-Schnitte macht). An manchen deutschen Stadttheatern wird für die Komplettierung des Weltenbrands in der Bürger- und Abonnentenschaft gesammelt, weil die Subventionen für die Inszenierung sonst nicht hinreichen. Und obschon solch respektables Engagement hier oft in eine groteske Schieflage dem Werk selbst gegenüber gerät, – am Größten bleiben sie dennoch hängen, als ob ohne das Größte das Ganze keine Existenzberechtigung mehr hätte. Dass einer experimentellen Produktion die letzten 2000 Euro kommentarlos gestrichen werden, weil »Finanzkrise« sei, ist so gesehen konsequent. Ob auch der Sache angemessen oder nicht doch eher anachronistisch und systemblind, steht zu diskutieren. Mir scheint, dass eine Déformation structurelle aus Liebe, Trotz oder Verpflichtung Wagners Ring-Zyklus gegenüber vermehrt zu Produktionen führt, die je größer sie werden desto größere Löcher im Gewebe hinterlassen. »Und was folgt und was vergangen, / Reißt nicht hin und bleibt nicht hangen« (Johann Wolfgang v. Goethe: West-östlicher Divan). Die Idee der »Einheit« zeigt sich nur mehr als museales Ereignis.
... »wir sollten uns nicht zum Popanz einer Sehnsucht machen lassen«. (Peter Brook: Der leere Raum)
Der Ring des Nibelungen – zunehmend unaufführbar durch unaufhörliche Aufführung einerseits und die Bemühungen, immer Alles zu zeigen andererseits (im Sinne von: unmöglich, noch etwas Neues zu zeigen, solange es als Ganzes gesagt werden muss). Fast möchte ich meinen, der Ring, der ähnlich wie der Tristan einst als unaufführbar galt, driftet von Unaufführbarkeit zu Unaufführbarkeit. Unaufführbarkeit heute geradezu als Konsequenz ihrer pragmatischen Verleugnung. Wer hätte das gedacht. Der Betrieb ist wie Wotan im Hochgefühl, kurz nachdem er Alberich den Ring vom Finger geschlagen hat: großer Besitz, kleine Zukunft.
Richard Wagner am 1.1.1847 an Eduard Hanslick (Teil 1): »In diesem Sinne und von dem Standpunkt meiner von mir selbst weit eher bezweifelten als überschätzten Kräfte aus gelten mir meine jetzigen und nächsten Arbeiten nur als Versuche, ob die Oper möglich sei«. Nur als Versuche ... Und dies sagt ein seit Jahren im Betrieb agierender Kapellmeister.
... den großen Gedanken also verdächtig finden. Wenn wir Wotan wirklich ernstnehmen, müssen wir das Stück, in dem er vorkommt, bescheiden angehen. Wotan selbst ist in den Momenten am besten, in denen er das eigene Existenzrecht in Frage zu stellen versteht ...
Was nicht mehr umzudeuten ist, hat seinen Tod schon hinter sich.
Eine wirkliche Neuinterpretation des Ring bedarf, glaube ich, einer zeitlichen, technischen, personellen und medialen Vorbereitung, die die pragmatische Durchführbarkeit des »Ganzen« im Sinne eines reibungslosen Spielplans erst einmal in Frage stellt. Wagner selbst hat den großen Apparat bis zur Torpedierung angezweifelt, und das Festspielhaus ist im Eigentlichen die in Stein gehauene Manifestation des »gesprengten Opernhauses«, welches Boulez später einklagte.
Nicht der Betrieb sollte einen neuen Ring machen, sondern der Ring einen neuen Betrieb. Das ist die Crux. Oder die Klippe, von wo aus man eben schaut.
Es »liegt auf der Hand, dass insbesondere der Ring jeglichen Kontakt mit der hergebrachten Aufführungsmechanik ablehnt, jeden Kompromiss mit den Arrangements ausschließt, welche der gängige Theaterbetrieb mit sich bringt. Die Struktur des Werkes widersetzt sich der Einfügung in den üblichen Kontext, bei dem der Verkauf des Produkts von der Besetzung des Tages abhängt. [...] Die Funktion der Aufführung müsste sich von Grund auf ändern [...] Die Wagner-Aufführung verweigert sich den Normen des Vorangegangenen, verweigert sich den Konventionen, in denen die Opernaufführung zum Opernspektakel abgesunken ist; sie verlangt eine gänzlich neue Struktur von Musik und Theater«. (Pierre Boulez: Die neuerforschte Zeit)
Die Häuser, die derzeit Ring-Zyklen auf die Bühne bringen, merken nicht, dass sie sich realiter in der Mime-Situation befinden. Wären sie ganz ehrlich, müssten sie sagen: »Und nicht kann ich’s schweißen, [...] das Schwert«.
»Wolfgang Wagner fragte sich am letzten Abend dieses Ringes, was für ein anderer Ring denn jetzt noch möglich wäre.« (Michel Foucault: Die Bilderwelt des 19. Jahrhunderts. Boulez’ und Chéreaus Bayreuther Ringinszenierung)
operare, lat.: arbeiten, handeln
Selten bin ich mir künstlerisch so sicher gewesen wie mit diesem hier: Wagners Ring ist nicht auserzählt, der Rahmen aber, in dem er heute präsentiert wird, ausgeleiert.
283 Etwas zu oft durchzuerzählen bedeutet in letzter Konsequenz, es zu befrieden. Der Ring jedoch ist keine Gute-Nacht-Geschichte. Insofern müssen wir »Narration« auf einer anderen Ebene als nur der des Plots begreifen lernen. Es gibt mehr zu rapportieren, als was nur in der Story nistet. Nicht allein in der Textur, sondern vor allem in der Struktur des Ring liegt narrativer Sprengstoff. Was heißt hier Struktur? – Gebrochenheit der formalen Anlage, heterogene Handlungsstränge, die als heterogene Kategorien inszeniert werden müssten, zersprengte Temporalität, nicht-lineare Dramaturgie, in nuce: der Riss im Samt nebst all dem, was quersteht zum großen guten Gesellschaftswerk und dessen Produktionsstraßen. »Narration« ist bezogen auf den Ring meiner Sicht nach »Handlung«, die sich in musikalische, produktionsästhetische und medientechnische Zwischenräume verlagert hat.
Es gibt viel »Handlung« in Wagners Ring, die nicht Szene ist und auch nicht szenisch aufgeht: technisch-mediale, lichtoptische, musikästhetische, choreographisch-proxemische, kostümhistorische, architekturgeschichtliche Handlung etc. Der Plot ist nur ein Aspekt davon und isolieren tut man ihn allein unter Verlusten. Es geht insofern um eine neue Kompromissentscheidung: Entweder zeigen wir weiterhin das Kontinuum der äußeren Handlung und schleifen die Grundschicht der Musik, der Konstruktion, des Gesamtgebäudes ab. Oder wir machen uns zum Anwalt der Tiefe und geben temporär auf, dem Durcherzählen der Fabel zu genügen.
Der Ring braucht streng genommen keine neuen Inszenierungen, der Ring braucht ein anderes Referenz- und Koordinatensystem, ein neues Verfahren, das klärt, was es an »Aktuellem« oder »Politischem« neben der Nacherzählung der Tagesschau heute noch zu berichten gibt.
Bodo Brinkmann in einem Konzeptionsgespräch: »Du kannst alles mit mir machen. Aber bitte keinen Wotan mehr mit Aktenkoffer.« Sänger wie er haben die konventionalisierte Protestgeste auch satt, nicht weil sie als Menschen unkritisch wären, sondern weil ihnen als Figur kein Körper mehr dazu einfällt, der sich vom Plan der Straße unterschiede. Musiktheater ist Bild, doch nicht Abbild. Um verwandelte Wiederkehr geht es. Und der Schein, ergänze ich noch, muss durchbrochen werden, um ihn zu behaupten. Wir sind uns einig. Wer auf Aktenkoffer für Wotan besteht, sollte sich dazu aufgerufen fühlen, in diesem dann auch den Bau der Götterburg Walhall unterzubringen – eine Unmöglichkeit, natürlich – »Wie im Traum ich ihn trug« ... Achtung Bühne: Es ist verboten, nicht zu zaubern. Anders ausgedrückt, wir müssen die Entzauberung der Welt an ihre Verzauberung heranrücken. Das eine und das andere sind Nachbarn im selben Haus.
»Eine rationalistische oder vielleicht analytische Anlage sträubt sich in mir dagegen, dass ich ergriffen sein und dabei nicht wissen solle, warum ich es bin und was mich ergreift.« (Sigmund Freud: Der Moses des Michelangelo)
»Synthese ohne Analyse wäre Eintopf.« (R.K. in einem Konzeptionsgespräch)
Was tun? – Unsere Mittel überprüfen. Aber nicht vor oder nach, sondern bei und mit der Arbeit.
Es geht mir um einen Inszenierungsansatz, in dem die betriebliche, technische, kompositorisch-dramaturgische und mediale Verfasstheit des Werks selbst Gegenstand der Bühnenarbeit wird, ohne dass dessen Poesiewert suspendiert werden muss.
Ich will versuchen, die Kategorien des Inszenierens selbst analytisch zu präsentieren. Für die mit dem »Regietheater« zur Marke verflachten Selbstreflexion unseres Betriebs muss, denke ich, eine zeitgemäße, medial fundierte Arbeitsform entwickelt werden.
Wir müssen die Grammatik eines Werks neu buchstabieren lernen, das uns durch zu schnelle oder oftmalige Lektürefolge gerade unter den Händen zerrinnt. Wiederannäherung an ein Stück im Zeitalter seines Entzugs. Und sie kann in erster Instanz nur durch einen Akt der Zärtlichkeit, erst in letzter durch einen der Verkäuflichkeit geschehen.
Statt immer wieder nur »das Ganze« zu suchen, ist es vielleicht an der Zeit, sich auch in der Oper an die Idee der Miniatur, der Parzelle, des Fraktals, des Moduls, der Monade zu gewöhnen, und statt mantraartig den »Fortschritt« und immer wieder nur »das Neue« zu beschwören, das schal ist, weil es immer gleich ausschaut, an Variation, Palimpsest, Intervention oder Installation. In anderen Worten: sich nicht verführen lassen von Machbarkeit, Marke, Macht, Knete, Claque oder Speed. Statt dessen unteilbar sein in der Aufmerksamkeit für hundertfach teilbare Aufgaben. Ästhetische Konsequenzen ziehen. Biographische ohnehin. Wer den Ring anders denkt, gehört der Oper, scheint’s, nicht mehr zu. So kleinmütig ist es, dies Ganze.
Wie sagte gleich Heiner Müller: Die »Lebenslüge«, das ist »der Zusammenhang«. (Die Nacht der Regisseure)
... »weil, wenn abgesondert so sehr die Gestalt ist, die Bildsamkeit herauskommt dann des Menschen.«(Friedrich Hölderlin: Erstes Phaëton-Segment / In lieblicher Bläue)
»Die Miniatur ist ein Fundort der Größe.« (Gaston Bachelard: Poetik des Raumes)
Ich will recht verstanden werden: Keineswegs bin ich gegen »das Ganze«, im Gegenteil. Wer sich das Rheingold-Vorspiel zur Brust nimmt, muss sich darüber im Klaren sein, welches Joch der letzte Akt Götterdämmerung bedeutet. Wagners Werk setzt einen Begriff von Zusammenhang notwendig voraus, und integrale Interpretationen scheinen nötiger denn je. Bloß möchte ich das Ganze nicht mehr als Einheit betrachten müssen.
Die Dimension eines Panoramas (wie der Ring eines ist) kann seine volle Wirkung erst entfalten, wenn ihm seine Größenverhältnisse aus möglichst vielen, unterschiedlichen Perspektiven bescheinigt werden.
Was ist der Inhalt des Ring? Eben nicht nur eine politische oder mythische oder sozialhistorische Fabel. Zum Inhalt des Ring gehört wesentlich seine Konstruktion selbst, das Räderwerk. Wagner hat das Orchester im Bayreuther Graben »›mystischen Abgrund‹« genannt. In der Passage, in der er es tut, steht der Begriff jedoch in Anführungszeichen, anführungszeichenlos steht allein dessen Synonym: »technischer Herd« (Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth). Das ist keine Spiegelfechterei. Es sollte uns zu denken geben. Es ist Konzept.
Und was ist der Ring an sich und überhaupt? Diese Frage stellt man sich immer wieder, man ertappt sich dabei, man möchte etwas klären, den Tisch wenigstens einmal leerwaschen wie die Wirte ihre Tresen abends in den Lokalen nach der Sperrstunde. Aber ein »An-sich-und-überhaupt« ist für Wagner nicht zu klären. Und so ist man vom Fluchtpunkt der eigenen Denksportübung ebenso schnell überfordert, wie man häppchenweise zu der Einsicht gelangt, dass Gänze hier nichts anderes als eine Sache des mikroskopischen Blicks sein kann. Denn der Ring des Nibelungen ist ein vielgestaltiges Werk. Ein Partikel-System im Moment der Explosion, Vollständigkeit in ihm ist lediglich die Schimäre einer Ansammlung hundertfältig sich widerstreitender Segmente. Seine Entwicklungsgeschichte verlief achronologisch, Erzählhaltung und Zeitdramaturgie sind nicht-linear arrangiert, die musikalischen Formen so plural wie die theatertechnischen heterogen. Seine Teile stehen in einem gebrochenen Verhältnis zum Ganzen – die Detailstrukturen zu den Szenen, die Szenen zu den Akten, die Akte zu den einzelnen Stücken, die Einzelabende zur Tetralogie. Das gigantische Gefüge besteht aus Myriaden sich immer neu ergänzender, überlagernder, durchkreuzender Ansichten, Appelle und Avancen, denen ein narratives Zentrum genauso fehlt wie ein einheitlicher temporaler Richtungssinn. Pierre Boulez hat es einmal so formuliert: »Das merkwürdigste, das außerordentlichste Phänomen des Rings ist [...] die Koexistenz zwischen monumentaler Dimension und schwindelerregender Kleinarbeit innerhalb ein und desselben Projekts« (Der »Ring«. Bayreuth 1976-1980). Geradewegs könnte man sagen: Der Ring lebt so sehr aus der Emanzipation der Details vom Ganzen, dass man sich selbst dort noch, wo er mit Pathos auf die Totale geht, genötigt sieht, Einheit aus den Augen zu verlieren um des Augenblicks willen.
Ingredienzien des Ring: Mythos und Psychologie, Technik und Märchenwald, Sage und Psychogramm, Utopie und Börsenkrach, Kunstgriff und Maschine, Sozialanalyse und Theateraffekt, Spekulation und Biographie, Historie und Kosmogonie, Pragmatik und Ideologie, Architektur und Progress, Fluss und Schnitt, Spiel und Projektforschung, Ewigkeitsanspruch und Vergänglichkeitstrauma, Metropole und Ghetto ff.
Blut, Wasser, Wein, Gift – die Flüssigkeiten und Trünke im Ring und die Arten, wie sie gemischt werden, das ist mehr als nur Theatereffekt. Das sind Signa für die Struktur dieses Stücks.
Wagners Weltentwurf ist nicht aus einem Guss, sondern eine Arena für Parallelwelten, die sich zueinander parataktisch verhalten. Im Eigentlichen liefert er das Urmodell eines intermedialen, hypertextuellen Theaters: Perspektiven wechseln oft und schnell, das Nacheinander punktueller Ereignisse wird mit fortschreitendem Handlungsverlauf von Gleichzeitigem desavouiert und überprägt, und die erzählerische Mitte wird schließlich entkernt zugunsten von fasernden Netzwerken, die sich um ein zunehmend hohles Gravitationszentrum lagern. Kontinuität entsteht durch das perpetuierende Zerreißen des Plots. Und so ist eine Vielzahl von Sequenzen im Ring ja tatsächlich dezentralisiert, spielt in extremer Tiefe oder Höhe (»auf Bergeshöhen« / »in des Wassers Tiefe«). Bereits die Verwandlungsmusik im Rheingold ist ein Kaschierverfahren, um Orte miteinander in Verbindung zu halten, die im Wortsinn sternenweit voneinander entfernt liegen. Es ist, als ob der »Raum« hier einem Kaleidoskopschnitt unterworfen wird und das immerhin (noch) unter striktem Erhalt der Einheit der Zeit – Rheingold spielt genau 12 Stunden lang von Sonnenaufgang (Woglinde: »Die Weckerin lacht in den Grund«, 1. Szene) bis Sonnenuntergang (Wotan: »Abendlich strahlt / der Sonne Auge [...] Es naht die Nacht«, 4. Szene). Der Verfügungsrahmen ist zementiert, die Bewegungen in ihm jedoch scheinbar nach Belieben gestaucht oder gedehnt. Dass auf Donners Gewitter ein Regenbogen folgt (ohne Niederschlag), ist nicht nur eine meteorologische Unmöglichkeit, sondern eigentlich eine dramaturgische Zumutung. Spätestens in der Götterdämmerung lernen wir dann, dass Ereignisse im Ring gleichzeitig geschehen, jedoch keineswegs synchron wahrgenommen oder gar verstanden werden (können). Plastisches Beispiel dafür der Moment, da das Nornenseil reißt am Ende des Vorspiels Götterdämmung und die musikalischen Motive signalisieren, dass im selben Augenblick Siegfried dem Großvater den Speer zerschlägt. Dies ist ein Ereignis, das im Kontinuum der Erzählung lange vor der Nornenszene ausagiert wird, nämlich in Siegfried, III, 2. Dem Sinn nach ereignen sich die beiden Szenen synchron, der manifesten Handlung nach jedoch sind sie auf verschiedene Zeitpunkte verteilt. Zusammenhang und Kluft – Wagner bekundet ebenso viel Temperament, die Elemente zu einigen wie sie zu trennen. Exakt das beziffert »nicht-lineare Dramaturgie«: Nebenspuren überholen oder untergraben das Geschehen am Hauptschauplatz; die traditionelle Erzähllogik implodiert.
Der Trauermarsch, ein bohrendes Loch in der Komposition.
Oft denke ich bei Wagner an die Simultanbühnen des späten Mittelalters. Bei denen die Aufbauten für den Himmel und die Hölle nebeneinander am Marktplatz aufgestellt waren.
Gerade das erzählerische Moment hebt bei Wagner die Linearität auf. Was wir unter »Narration« verstehen, geschieht bei ihm nicht im herkömmlichen Sinne von Fortschreiten, sondern im Sinne von Unterbrechen. Der Ring – das ist im Eigentlichen die in Gärung geratene Zeit.
Wagners Reflexion ist auf verschiedene Theatermedien verteilt. Ich nenne es versuchsweise »intermediale Reflexion«. Es ist das Brechen des Bruchs.
Boulez spricht von einer »Dialektik zwischen der fließenden und der erstarrten Zeit«, zudem vom »Werk als eine(r) offene(n) Struktur [...], die sich nur vorübergehend und widerstrebend verfestigt«, von einer »Technik des Aufspaltens und Neuzusammensetzens« (Die neuerforschte Zeit).
Es ist eine Kontinuität über Kleinigkeiten. Zusammenhang entsteht über das Gewimmel.
Man wird konstatieren müssen: Der Ring des Nibelungen legt uns eine Geschichte vor, die per se nicht einheitlich ist und die wir auch nicht einheitlich durcherzählen und gestalten können, sofern wir ihre Gültigkeit nicht aufs Spiel setzen wollen.
Wenn sich der Ring wirklich gegen jedes konzeptuelle Überkostüm sperrt, stellt sich mir für das Regiefach die Frage, wie auf Wagners musikdramaturgische Faltungen und Zellteilungen zu reagieren ist unter der Voraussetzung, dass einzelne Aspekte oder Elemente aus Sicht eines Ganzen beurteilt werden müssen, das sich selbst nirgends zur Summe seiner Teile aufwirft.
»Gäbe es den Ring nicht, die Regisseure hätten ein einfacheres Leben.« (Michel Foucault: Die Bilderwelt des 19. Jahrhunderts. Boulez’ und Chéreaus Bayreuther Ringinszenierung)
Handwerklich gesprochen: Ich möchte die Idee der Vollständigkeit zunächst aussetzen und mit ihr die Vorstellung einer linearen Regieführung. Das heißt, ich will Details, bevor ich sie zu einem Ganzen füge, vorübergehend selbst fürs Ganze nehmen und das äußere Kontinuum des Ring des Nibelungen nach dessen innerer Logik in einzelne Ring-Fraktale zerlegen – in Teileinheiten, die sich aus szenisch-theatralen, musikalisch-dramaturgischen oder technisch-medialen Entitäten ableiten.
Beispiele für meine szenischen Teileinheiten sind das Rheingold-Vorspiel, die Verwandlungsmusik zwischen 1. und 2. Szene Rheingold, Alberichs Verlarvungen zu Riesenwurm und Kröte (Rheingold, 3), der Wotan-Monolog (Walküre, II, 2), der Walkürenritt (Walküre, III, 1), die Schmiedelieder (Siegfried, I, 3), die Rohrschnitzszene (Siegfried, II, 2), Siegfrieds »Verwandlungen« in der Gibichungenhalle (Götterdämmerung, I, 1), das Blutsbrüderschaft-Duett (Götterdämmerung, I, 2), die Waltrauten-Erzählung oder die Szene des Falschen Gunther (beides Götterdämmerung, I, 3), der Trauermarsch (Götterdämmerung, III, 2/3) etc.
Zu viele Splitter, Arenen und Ambientes gibt es im Ring, als dass ich nicht inszenatorisch darauf Rücksicht nehmen möchte. Sechs Wochen Probenarbeit aber reichen nimmer für ein Werk wie etwa die Götterdämmerung. Deren I. Aufzug allein ist eine große tragische Oper. Insofern will ich von Wagner gelernt haben und dem Stück zuliebe einzelne Zeitsegmente sukzessiv aus diesem herausheben, um sie dann produktionstechnisch für eine solide Beschäftigung auszudehnen, bis wir sie wirklich ausgelotet haben.
Maxime 1: Wir müssen für den Ring Zeit gewinnen, jene, die der Betrieb uns stiehlt. Maxime 2: Unterlaufen wir die Nummernauftritte, in dem wir sie ernst nehmen. Maxime 3: Wir sollten nicht mehr Diener eines großen Gedankens sein, sondern Herr (wenn überhaupt dies) über ein Gefüge von Miniaturen.
Konkret erarbeiten wir uns damit die Möglichkeit, auf jede Teileinheit des Ring in der ihm eigenen Art mit einem je eigenen Stil zu reagieren; jede Ring-Studie kann, so es nötig ist, mit einer anderen Technik, in einem anderen Format oder Genre, mit anderen Betrieben, Medien und Spezialisten umgesetzt werden. Die Crux dieses Regiekonzepts liegt darin, dass das Regiekonzept selbst mit dem durch das Werk vorgegebenen Material wechseln und Metamorphosen durchlaufen kann. Statt horizontal gilt es, strikt vertikal zu inszenieren. Bei Wagner ist nicht (nur) die Breite interessant, sondern die Struktur der Tiefe.
Warum sollte für den Opernregisseur unstatthaft sein, was für den Musik- oder Theaterwissenschaftler eine Sache der beruflichen Integrität ist: die Analyse des Ausschnitts?
Ich möchte die Inszenierungsabschnitte verkleinern, um dichter an das Handlungsgefüge des Ring heranzukommen – also: vergrößern. Das Prinzip entspricht der Technik des Wide-shot / Close-up im Film: Zum Wohle der Gesamtansicht wird für eine begrenzte Dauer eine einzelne Einstellung aus dem Bildganzen herausgehoben. Um eine ausgesuchte Passage des Ring bestmöglich analysieren und interpretieren zu können, zoome ich sie zu mir heran. Erst durch dieses Vergrößern der Details kann ich erkennen, welche Struktur dem Ganzen unterliegt.
Erfahrung aus der Praxis: Je mehr man probt, desto mehr geht erst einmal verloren. Und man muss mehr proben, damit immer mehr verloren geht. Um am Ende mehr zu gewinnen.
Die Zerteilung des szenischen Materials hebt den Modus des linearen Inszenierens auf. Ähnlich wie im Kontext des Films möchte ich die Ring-Studien betont nicht entlang der Chronologie des Werks produzieren. Wo es sich anbietet, müssen wir sicher nicht zwanghaft von der üblichen Abfolgelogik abweichen. Wir machen ja nichts anders, nur weil »anders« Appetit erregt. Mit Sinn ist das Rheingold-Vorspiel auch die erste aller Ring-Studien geworden (2009). Doch wo es sich eben nicht anbietet, will ich die ursächliche Chronologie auch nicht erzwingen. Es hieße starr werden angesichts des Fließwerks. Nicht-linear zu inszenieren hingegen gibt uns die Möglichkeit, spontaner auf technische Entwicklungen, gesellschaftliche oder ästhetische Diskurse zu reagieren und – vor allem auch – innerbetriebliche finanzielle oder organisatorische Engpässe zu umschiffen, diese im besten Fall selbst zur Darstellung zu bringen.
Die Aufführungen einzelner Ring-Studien können zunächst zeitlich und örtlich getrennt sein. Jedem Inszenierungsabschnitt werden dabei explizit Wiederholungen zugestanden, eingerechnet der damit zusammenhängenden Produktionsverschiebungen (Bühnen wechseln die Maße, Sänger avancieren oder altern, Requisiten müssen erneuert oder verdoppelt werden etc.). Vgl. Ring-Studie 01: aufgeführt in Berlin, Zürich, Thun, Freiburg i.Br. in je anderen Räumen und zu je anderen Bedingungen. Zu was führt das? Spuren des Inszenierens schreiben sich in das Inszenierte ein. Wie die ersten wird sich jede Ring-Studie »vollsaugen« mit eigenem »medialen«Wissen. Dies ist für mich eine zeitgemäße Art, Produktionsbedingungen ansichtig zu machen. Dafür muss man den Alberich nicht im Workerdress durch den Zuschauerraum jagen.
291 Es gilt, nicht nur einzelne Szenen aus dem Ganzen herauszufiletieren. Es gilt, einzelne Szenen mittels Segmentierung einer gewissen kontemplativen Kontinuität zu unterziehen, durch die Zeit erneut in sie einfließen kann.
Jede meiner Ring-Studien wird notwendig die Zeit abbilden, in der sie produziert wurde, und damit auch einen bestimmten Zeitgeschmack. Die einzelnen Inszenierungsabschnitte verhalten sich wie flexible Zeitkammern zueinander. Das Konzept in toto wird zu einem Zeit- und Erinnerungsspeicher.
... die Ring-Studie 01 trägt jetzt z.B. einen stilistischen Stempel des Jahres 2009. Nehmen wir an, sie kommt 2013 das nächste Mal zur Aufführung, so wird sich gerade angesichts der rasanten Verfallszeiten in der Medientechnik unser Second Life®-Vorspiel bereits stilistisch kategorisieren lassen: Was für manchen im Augenblick noch wie ein hypermodernistischer Ursprungsmythos wirken mag, wird sich als sichtbar überalterte Utopie einer neuen Welt zeigen – und das genau liegt ja im Sinne dieses Stückchens Welttheater, das Wagner uns da mit seinem Rheingold-Anfang übergibt. Ich denke, wir müssen formale und inhaltliche Aspekte des Werks und seiner Interpretation so miteinander verschalten, dass wir endlich an die Implosion des Zeit- und Raumbegriffs im Ring herankommen. ...
Das vom Komponisten vorgegebene Material zu formen, entspricht einer Adoption des Kompositorischen durch den Regisseur, nicht mehr, nicht weniger.
Ist es aus technischen oder dispositionellen Gründen nicht möglich, eine ausgewählte Passage innerhalb des Betriebs in Szene zu setzen, wird die Herstellung ausgelagert. Es besteht für mich kein Zweifel daran, dass unter dem Druck der Neuen Medien alternative Produktionsformate zur Oper dazugehören. Der Ring an sich ist ein solches alternatives Produktionsformat und das Festspielhaus im Eigentlichen eine Zementierung des Gedankens, dass extra muros gebaut werden muss. Kann jedoch der heutige Opernapparat (wieder einmal) nicht auf das reagieren, was diesem Stück immanent ist, muss sich das Stück andere Apparate suchen. Daraus folgt ein Kollektiv in personeller, struktureller, ästhetischer wie geographischer Hinsicht; ich setze auf gestreute Kooperation mit wechselnden Berufsgruppen und Produktionsstätten: Naturbühnen, Programmierfirmen, Galerien, You Tube, Uniformschneidereien, Forschungslabore, Second Life®. Ist die externe Herstellung abgeschlossen, wird das Ergebnis in die Produktionsabläufe des Betriebs rückintegriert. Nach Wanderschaft folgt Heimkehr.
Mit dem Einsatz der Leitmotivtechnik im Rheingold (ab Loges Vers: »Nur einen sah ich, / der sagte der Liebe ab«) beginnt auf dem Theater eine Welt jenseits des Theaters.
Ein Konzept, das aus ästhetischen Gründen auf Arbeitsteilung basiert, zielt auch auf die Demokratisierung des Kunstwerks, von der Wagner träumte. Wenn wir eine Produktion aufteilen, zerfallen die Hierarchien.
Wird der Ring nicht vom Anfang weg als Anfechtung gegen jenen Absolutismus begriffen, der nach wie vor in den großen Opernhäusern tobt, so frage ich mich, was am Ring dann überhaupt noch des Ringes sei.
»Interart« also für ein Kernstück des Repertoirebetriebs. Es soll ein Ring entstehen als Amalgam aus traditionellem und experimentellem Musiktheater, aus konzertanter Genauigkeit und installativem Möglichkeitssinn. Regiearbeit verstehe ich eben auch als Schmiedekunst für Mischtechnik vor dem Hintergrund, dass die Oper alternative Produktionsformate bitter nötig hat, sofern sie nicht am eigenen Staub ersticken will. Dass die Programmdramaturgie in Bayreuth immer nur wieder um die Frage kreist, ob Rienzi oder ob nicht Rienzi nun für das Festspielhaus passend sei, ist längst redundant, Schnee von gestern, warum immer wieder nur in Werken, nie in Formaten oder medialen Genres gedacht wird, schleierhaft. Ein zeitgemäßer Wagner ist hier und da, in der großen Gala-Nacht und auf den Festivals für New Media, in den heiligen Hallen und den Messen der Creative Industries – er zeigt sich als zersprengtes Epos.
Wer aber bezahlt dies alles? – Die Opernhäuser selbst. Es gehört in das Pflichtenheft des Betriebs, auch die Entwicklung von Inszenierungen zu fördern, die nicht sofort die Hauptbühne besetzen, insbesondere wenn diese aus Forschungsfragen heraus entwickelt sind. Wer sich für die »Bewahrung« des Repertoires stark macht, darf angesichts ungewohnter Herangehensweisen nicht schwächeln.
Wagner ist Mischung. Dies zu übergehen hieße am Ende, mehr zu wissen als Nietzsche, Mann und Adorno zusammen. Kann ich mir nicht leisten.
Wer von Euch kann aufstehen und sagen, dass er den I. Aufzug der Götterdämmerung voll begriffen hat? Ich nicht. Ich möchte es aber. Dafür jedoch brauche ich Zeit, erzählte wie erlebte Zeit. Das ist der Grund, warum ich andere Produktionsformate suche. Sie sollen uns helfen, dichter an das Stück heranzukommen, als es mit dem herkömmlichen Handwerkszeug der Regie möglich ist. Dichter an ein Stück, das sich uns durch Vielfalt je mehr entzieht, desto klüger wir uns wähnen. Wagner kennt immer einen Winkel mehr als wir. Insofern: Schaffen wir auch Winkel, Biotope, Nester, Produktionshöhlen, konkret choreographische Inseln, szenische Patchworks, multiple Bühnen, performative Installationen, die, jedes nach seiner Art, das produktive Phlegma besitzen, erst einmal nicht über sich hinauszuweisen, um dann später – und das Wort »irgendwann« hat hier seine Berechtigung – später einmal ...
... zu einem Kontinuum aus notwendigen Brüchen (oder Knotenpunkten, wie beim Nornenseil) wieder ineinandergefügt zu werden.
Sah mein Regiekonzept im ersten Schritt eine Teilung des Ring-Materials vor, so reziprok im zweiten Montage. Sobald die einzelnen Ring-Studien sich mit einer je eigenen Zeit- und Raumerfahrung vollgesogen haben, möchte ich die szenischen Teileinheiten wieder zu einem geschlossenen Formgebilde zusammensetzen. Aus produktionsinternen Gründen geschieht dies etappenweise.
Sobald genügend Ring-Studien vorliegen, wird zuerst Szenenmaterial zusammengesetzt, das der Ring-Fabel nach zusammengehört, dort aber nicht zusammen erscheint, z.B. Erda-Szene Siegfried, III, 1 + Erda-Szene Rheingold, 4; Rheintöchtergesang Rheingold, 1 + Rheintöchtergesang Götterdämmerung, III, 1; Wotan-Monolog Walküre, II, 2 + Waltrauten-Erzählung Götterdämmerung, I, 3. Schnitte wie Übergänge werden für die Montage musikalisch oder dramaturgisch plausibilisiert.
Beispiel Rheintöchtergesang Rheingold, 1 + Rheintöchtergesang Götterdämmerung, III, 1: früher Wagner – später Wagner. Das ist also aus dem Rhein geworden! Ein Sprung wie bei Kubrick vom Knochen zum Raumschiff. Mit folgender Reihung werden die Montageflächen größer, und wir können z.B. Wotan in die Hagen-Intrige verwickeln: Rheingold, Vorspiel + Rheingold, 1 (Rheintöchtergesang) + Götterdämmerung, III, 1 (Rheintöchtergesang, bis Fluchmotiv kurz vor Beginn der Jagd-Szene) + Walküre, II, 2 (Wotan-Monolog, mit Brünnhildes Abgesang?) + Götterdämmerung, I, 3 (Waltrauten-Erzählung) + Götterdämmerung, I, 3 (Szene des Falschen Gunther, Brünnhilde erkennt Wotans Mitwirkung) + Walküre, III, 3 (Feuerzauber, Brünnhilde kann von der Szene des Falschen Gunther gleich liegenbleiben). Und so weiter.
Die Übergänge, die Scharniere, die Brückenschläge zwischen den einzelnen Ring-Studien zu schaffen, wird zu einer eigenen Regieaufgabe, und diese führt uns genauso an die Substanz des Werkes heran wie die Bewältigung der Strecken. Wie verschmelze ich, was ich zuvor gespalten habe? »Kunst des Übergangs«. Die alte Wagner-Frage wird unter inszenatorischen Gesichtspunkten relevant. Das »Ganze« muss temporär infrage gestellt werden, diffundieren aber darf es nicht.
Der Riss als solcher ist ästhetisch gesprochen nichts Kaputtes, kein Signum der Scherbe, kein Sprung, bevor etwas auseinanderfällt, kein Notfall. Der Riss ist einfach eine Art, sich mit der Moderne auseinanderzusetzen.
Der dritte Schritt in meinem Regiekonzept sieht die Verkettung nicht-linear inszenierter Ring-Studien zu einer linearen Aufführung eines einzelnen Abends vor (optional Rheingold, Walküre, Siegfried, Götterdämmerung), wobei Szenenmaterial, das aus produktionstechnischen Gründen (noch) nicht verfügbar ist, dabei durch Schwarzblenden oder den gedeckten Vorhang repräsentiert wird. Bis zum Anschluss an die nächstfolgende inszenierte Passage wird das äußere Kontinuum konzertant erhalten. Musik als Mnemotechnik.
Der vierte und letzte Schritt liegt in einer linearen Aufführung aller nichtlinear produzierten Teileinheiten, und zwar in der gewohnten Sukzession von Rheingold bis Götterdämmerung. Wagners Ring-Zyklus erscheint am Ende als Perlschnur einer Vielzahl selbständiger Zeit- und Raumkapseln. Das Zerreißen des Plots bleibt durch die inszenatorisch bedingten Technik-, Stil- und Milieuwechsel erhalten.
Neue Räume auf alter Bühne also. Das Auslagern von Produktionsteilen und die Ingebrauchnahme alternativer Spielorte darf nur geschehen, wenn es vorübergehend bleibt. Ja, ich stehe zur Oper als Bauwerk. Vielleicht ist sie gerade in ihrem vermeintlichen Traditionalismus das letzte wirkliche Labor. Denken wir an Brecht, der sich im Berlin der Nachkriegszeit eine Bühne für sein Theater aussuchen durfte. Er wählte, was heute das »Berliner Ensemble« ist – ein Raum voll Gold, Samt und Stukkatur. Er sagte, so allein sei der Bruch kenntlich zu halten.
In nuce: Der Produktionsprozess für unser Ring-Modell verläuft kontrapunktisch zur finalen Aufführung. Dem Kontinuum der Fabel aber ist dadurch das rasende Innehalten eines Erda-Auftritts oder Brünnhilden-Schlafs eingraviert, das jeweils mehr in die Tiefe denn in die Breite weist.
Ein Ring mit Spationierungen, ein Ring ohne Längen. Aber auch keine Kurzfassung.
Wagners Opus magnum ist ein Opus summum, bestehend aus zahllosen Opera minima – feste Zellen in Beziehung gesetzt zu einer bewegten Masse.
Ganz praktisch gesehen ist das Verfahren, das ich für Wagners Ring vorschlage, dem Vorgehen Siegfrieds vergleichbar, der das Schwert der Sippe zu Spänen zerraspeln muss, um es für sich gewinnen zu können. Notabene: Mit diesem aus Spänen hergestellten Schwert wird Siegfried später zu Splittern zerschlagen, was selbst aus einem Ast geteilt wurde: den Speer des Vaters, der zeitgleich zum Zerreißen des Nornenseils in Stücke zerfällt.
Es kann kein Zufall sein, dass alle zentralen Requisiten des Ring gravierenden Materialbrüchen unterworfen werden: Das Gold des Rheins wird umgeschmolzen und zu Barren parzelliert, das Nornenseil reißt, die Weltesche wird ausgeholzt, Wotans Speer gezweiteilt, Nothung zu Spänen zerraspelt. Sogar die Macht Alberichs wird im wörtlichen Sinn erst begreifbar in dem Moment, da er sich klein wie eine Kröte macht – groß wie der »Riesen-Wurm« bleibt er (für Wotan) uninterpretierbar. Am Ende zerfällt diese Welt selbst zu Asche und ihre Stücke zu Staub.
»Nochmals gesagt: bewunderungswürdig, liebenswürdig ist Wagner nur in der Erfindung des Kleinsten, in der Ausdichtung des Détails, – man hat alles Recht auf seiner Seite, ihn hier als einen Meister ersten Ranges zu proklamiren, als unsern grössten Miniaturisten der Musik, der in den kleinsten Raum eine Unendlichkeit von Sinn und Süsse drängt« und »am liebsten still in den Winkeln zusammengestürzter Häuser sitzt: da, verborgen, sich selber verborgen, malt er seine eigentlichen Meisterstücke, welche alle sehr kurz sind, oft nur Einen Takt lang – da erst wird er ganz gut, gross und vollkommen, da vielleicht allein.« Diese Worte über Wagner, bei dem der Teil Herr über das Ganze und der Augenblick Herr über die Zeit werden, stammen von – Nietzsche. Rätselhaft nur, warum die Inszenierungsgeschichte des Ring bis heute daraus keine Konsequenzen gezogen hat. Die musikalische Wagner-Interpretation hat sich vom Monumentalstil längst verabschiedet. Und gewiss wird Friedrich Nietzsche auch gern in Magisterarbeiten und auf Premierenfeiern herbeizitiert. Die Theaterpraxis jedoch hinkt dem um Jahrzehnte hinterher. Bis in die jüngste Zeit hat sich Wagnerregie, ob sie sich nun »mythologisch« oder »kritisch«, »abstrakt« oder »aktualisierend« versteht, an einer einheitlich erzählbaren Geschichte orientiert – von signifikanten Ausnahmen abgesehen.
Herbert von Karajans Einspielung des Ring beginnt 1966 mit der Walküre; der Duktus der Aufnahmetechnik liest sich wie folgt: »Josephine Veasey, die am Covent Garden bereits große Erfolge als Fricka gefeiert hatte, [musste] fast zehn Tage in Berlin warten, bevor sie ins Aufnahmestudio gerufen wurde. Als es dann soweit war, zerlegte Karajan ihre Partie in einzelne Abschnitte und nahm sie häppchenweise auf.« (Aus dem CD-Booklet der Einspielung)/ 1981 präsentiert Leonard Bernstein einen Tristan in München, bei dem er jeden Abend (konzertant) nur einen Akt spielen lässt. / 1975 Planung des Ring-Zyklus an der Frankfurter Oper unter dem Direktor und Chefdirigenten Christoph von Dohnanyi und der Regie von Peter Mussbach, der mit der Götterdämmerung einsetzt (die wg. Zuschauerprotesten dann nur einmal aufgeführt wurde). / 1996 inszeniert Niels-Peter Rudolph an der Oper Nürnberg unter der musikalischen Leitung von Eberhard Kloke und dem Verzicht auf »die große Behauptung der Gesamtkonzeption« Das Rheingold ohne Anschlussproduktion. / 1999f. der Stuttgarter Ring unter Klaus Zehelein, der vier verschiedene Regieentwürfe (Joachim Schlömer, Christof Nel, Jossi Wieler, Peter Konwitschny) miteinander verzahnt und damit das erste echte Junktim aus Konstruktion und Dissolution herstellt. / 2004 Lars von TriersAbsage der Bayreuther Ring-Inszenierung, da dem Detaillierungsgrad seines Konzepts einer »bereicherten Dunkelheit« (En overdragelsesforretning. Logik for perlehøns, dt.: Eine Abtretungsurkunde. Logik für Perlhühner) organisatorisch wie technisch nicht entsprochen werden konnte. / 2007 eröffnet Sven-Eric Bechtolf seinen Ring an der Wiener Staatsoper mit der Walküre und einer Absage an eine »einheitliche Interpretation«; das Rheingold stellt er den drei Abenden als »Satyrspiel« hintan. / 2009 legt Martin Geck auf dem Symposium Wagners Siegfried und die (post)heroische Moderne an der Hamburger Staatsoper den Gedanken nieder, den Ring nicht mit dem Finale der Götterdämmerung enden zu lassen, sondern diesem den Anfang des Parsifal anzuhängen. Kurz, es wetterleuchtet, was die produktive Zerteilung des Ring-Materials anbelangt. Inszenatorisch jedoch ist allein dem Stuttgarter Ring bleibender Erfolg zuteil geworden. Zehelein schreibt es der Tatsache zu, dass diesem Projekt eine konzeptuelle Anlage vorausging, die dem Fächerungsgrad der Inszenierungen einen starken Rahmen bot. Der Stuttgarter Ring ist wohl zuerst und zuletzt ein Erfolg der Dramaturgie.
Richard Wagner am 1.1.1847 an Eduard Hanslick (Teil 2): »Schlagen Sie die Kraft der Reflexion nicht zu gering an; das bewußtlos produzirte Kunstwerk gehört Perioden an, die von der unseren fern ab liegen: das Kunstwerk der höchsten Bildungsperiode kann nicht anders als im Bewußtsein produzirt werden.«
Meinethalben, die Forderung, in Wagner auch einen Antipoden von Totalisierung und Gigantomanie wahrzunehmen, mutet ungewohnt an. Und doch gibt es dazu keine Alternative. Das große Gesamtkunstwerk ist haarscharf am Rand der Auflösung entlangkomponiert.
Eine einheitliche Interpretation des Ring ist natürlich möglich. Und sinnvoll. Und sogar zwingend. Aber je ernster man diese Einheit nimmt, desto mehr kristallisiert sich heraus, dass sie selbst nicht vorausgesetzt werden kann, sondern Titel eines Problems ist. Insofern ist Segmentierung bei uns eine notwendige Bedingung, um Einheit, Einheiten überhaupt begreifen zu können. In diesem Sinne ist Wagner auch experimentell. Experimentieren heißt, Einheiten auf der Grundlage von Detailforschung aufzubauen. Im Experiment wird auseinandergenommen und neu zusammengesetzt, was der Sache nach zusammengehört.
Wenn es um »Einheit« geht, dann eben nicht mehr um Einheit im Stil (der meist als Handschrift beginnt und als Marke endet), sondern als Einheit im Verfahren. Erst dies macht es möglich, ein inszenatorisches Gewebe herzustellen, das Rücksicht auf ästhetische Eigenheiten und Bruchkanten nimmt. Mit anderen Worten: Mir ist wichtiger, dass das Stück wiedererkennbar ist, denn dass ich selbst als Regisseur wiedererkennbar bin. Jedes Werk muss sich in der Form zeigen können, die es benötigt.
Wir müssen den Ring auseinandernehmen, weil er eben ein Ganzes ist.
Meine Montage sukzessiv heterogener Szenen soll kein Aplomb gegen das Werk, sondern ein Verfahren sein, dessen Voraussetzungen zu analysieren, d.h. die Struktur zu zeigen, nach der sie funktionieren. Ich möchte darstellen, wie atemraubend, kompliziert, oft gewaltsam das zeitlich-musikalische Fortschreiten bei Wagner sein kann und wie wenig es sich von selbst versteht.
»Nach einem Thema ist Wagner immer in Verlegenheit, wie weiter. Deshalb lange Vorbereitung – Spannung [...] das Improvisatorische«. (Friedrich Nietzsche: Notiz aus dem Nachlass [1878])
Der Perückenkopf für Siegfried in der Bayreuther Maskenbildnerei – lebendig durch Narben, Verwandter des Angelus Novus, Geschichte als Gesicht. Was für ein Bild. Gnomus und Elfe gleichzeitig, hat dieses Antlitz etwas unwirklich Starres, doch es ist nirgends brachial, und besitzt doch Fragilität, ohne je ganz zu zerfallen. Klobig, alt, stumpf, entsetzlich, hautlos, schier, bis auf die Struktur abgewetzt, eine Mundfalte, die zum Öffnen nie da war, die Zahlen, die Schrift, die Buchstaben wie Stigmata – und dann die Augen einer Ikone, die der Tränen fähig. Weder ein inneres noch äußeres Profil besitzt dieses Gesicht, das nur Modell ist, aber in Gänze präsentiert sich ein pastoses Relief. Wo ist das Reliefartige? In der Einheit von Figur und Struktur, Darstellung und Herstellung, Theater und Kritik, Spiel und Analyse. So wie dieses Gesicht sähe für mich ein Wagner-Theater aus, das unserem Äon entspricht. Gewiss ein Bild auch dafür, wie sehr Repertoire Experiment sein kann: In der Kontur des Tradierten zeigt sich schon dessen Zukünftigkeit. [Abb. 1]
Abb. 1: Perückenkopf für Siegfried aus den Werkstätten des Bayreuther Festspielhauses, 2007.
Warum ins Bild rücken, was zu verdecken üblich ist? Warum die Produktionsbedingungen des Ring zum Teil der Inszenierungsästhetik machen? – Weil Wagner im Gegensatz zu Monteverdi oder Mozart mit der Eisenbahn zum Zahnarzt gefahren ist.
Indem man die Produktionsbedingungen zeigt, wird etwas ernst, das in Wagners Werk selbst angelegt ist und durch dessen Figuren ausagiert wird. Von Wotan zum Beispiel: seine erste Aktion ist Traum. Also Spekulation, Einblick ins »Machwerk«, Denktheater.
Mit dem Musikdrama hat Wagner ein nicht zu unterschreitendes Niveau der Selbstreflexion angelegt. Der Ring ist überall auch ein Stück über den Ring, sein Theater eine Analyse des Theaters.
Der Ring des Nibelungen ist »ein musikalisches Tagebuch [...], in welchem der Komponist fortwährend das gleiche thematische Material aufgreift, um uns unaufhörlich seine Gedanken und seine Arbeit an diesen grundlegenden Entscheidungen mitzuteilen«. (Pierre Boulez: Die neuerforschte Zeit)
Wagner wusste so viel übers Theater, dass er es für nötig hielt, dessen Herstellung zu verschleiern. Gleichzeitig sprach er der Produktion so viel gestalterische Kraft zu, dass er ihre Bedingungen ausstellte. Mythisierung der Technik auf der einen Seite, Technifizierung des Mythos auf der anderen. Es ist ein polares Phänomen ähnlich dem, das sich in der Anlage des Bayreuther Orchestergrabens manifestiert: Wagner hat ihn verdeckt, damit die Musik nur umso besser daraus entweichen kann. Die Rede vom »›mystischen Abgrund‹« ist insofern stilbildend und eine Metapher zweiten Grades, geschaffen von einem Modernen, dem die technische Konstruktion der eigenen Ideen bereits so selbstverständlich war, dass sie ihm zur primären Größe geriet.
Bei Wagner liegen Phantasmagorie und Analyse der Produktion eng beieinander. Oft ist jene nur ein fast schon durchsichtiger Schleier, unter dem sich diese provokant verbirgt.
Noch einmal: Wagner verdeckt und entschleiert, simuliert und reflektiert, immer beides zugleich, Schein und Sein schließen sich bei ihm ein, nicht aus. Dies ist eine unaufkündbare Erfahrung der Moderne. Geht man insofern davon aus, dass das Theater per Definition »lügt«, so lügt es seit einigen Jahren und in den meisten Produktionen falsch.
Technik erschöpft sich im Ring nicht darin, partielle Effekte und Highlights zu erzielen, Technik stellt die Welt des Gesamtkunstwerks im Eigentlichen her. Erinnern wir uns daran, wie viele technische oder technikorientierte Erfindungen auf Wagners eigenes Konto gehen. An Instrumenten: die Basstrompete (für Rheingold ff.), die Holztrompete (für die Schalmeipassage / »Fröhliche Hirtenweise« im Tristan), die Waldhorntuben (auch Wagner-Tuben genannt / konkret: Tenortuba in B und die Basstuba in F, für Rheingold). An Bühnentechnik: die Bayreuther Linse (Wagner-Vorhang), die Wagner-Winde, der »Steam-Curtain« (Bühnennebel), das doppelte Proszenium (gemeinsam mit Gottfried Semper), die Laterna-Magica-Projektionen (für Walküre), die Wandeldekoration (für Parsifal). An zuschauerdramaturgischen Einrichtungen: die eigenständige Beleuchtungsanlage für den Zuschauerraum / den inszenatorisch bedingten Einzug des Saallichts (für Ring und Parsifal), die Applausordnung (für Parsifal). Nicht zu vergessen die Vielzahl technischer Räume und Prozesse, die er in den Kontext der Werke selbst gestellt hat: die frühindustrielle Spinnstube (für Holländer), die Sattlerei (für Meistersinger), das Bergwerk (für Rheingold), die Ambosspassagen (für Rheingold), die Schmiede und den Schmiedevorgang (für Siegfried), das Schnitzen des Rohrs (Instrumentenbau, sic, für Siegfried) etc.
Zur Technik gehört die Frage nach den Medien. Abgesehen davon, dass Wagner im Ring selbst medientechnologische Strukturen geformt hat2, können uns die Neuen Medien und die mit diesen zusammenhängenden Phänomene wie Medialität und Mediatisierung sowie der inszenatorische Wechsel zwischen einzelnen Mediengattungen heute in der Oper der Selbstbefragung als Vektoren dienen. Wenn uns die Medienkunst in den letzten Jahren etwas beigebracht hat, so kritisches Materialbewusstsein; sie hat dies der Oper um Längen voraus. Es steht darum an, meine ich, das Ineinander von theatraler Simulation und medialem Selbstbewusstsein, von Affekt und Analyse für den Ring szenisch fruchtbar zu machen. Und es ist diesbezüglich nicht mehr fünf vor zwölf. Davon ist zu lange gesprochen worden. Es kann nicht sechs Tage lang fünf vor zwölf sein. Wir müssen anfangen. Zu spät sind wir ohnehin.
Man sagt, die Medien verführten, so wie es einmal hieß, Wagner verführt. In solchen Fällen hat schon immer geholfen, sich der Macharten anzunehmen. Prüfen wir die Medien doch, wie wir einst Wagner geprüft haben. Möglicherweise kommt auch bei dieser Prüfung heraus, dass Medien viel weniger verführen als eine Quittung darüber ausstellen, welches die Bedingungen von Verführbarkeit sind, sobald Verführbares in die Hände von Verführern gerät.
Wie ich schon sagte: Überprüfen wir unsere Mittel. Das heißt: Überprüfen wir unsere Medien. Denn sie sind unhintergehbar. Und überprüfen wir sie nicht, werden wir hintergangen sein. Dies ist kein Wortspiel. Dies ist, was Wagner im Diskurs zwischen Urteilskraft und Sanktion, Räson und Macht im Ring niedergelegt hat.
Aufgabe: Modelle aus der Medienkunst in die Opernkunst übertragen bzw. in diese einarbeiten, ohne der Oper selbst dafür das Mark ausschaben zu müssen. Dabei ist Medienkunst nicht mit Multimedia zu verwechseln. Darauf bestehe ich. Es kann nicht darum gehen, dem Ring Konzepte der Public-Relations-Industry überzustülpen, um ihn marktgängiger zu machen. Einzig geht es darum, eine diskrete, aus dem Triebwerk des Stücks heraus entwickelte Arbeit an den Strukturen zu leisten, die längst überfällig ist und sich als »Medienarchäologie« beschreiben lässt. Das hat mit Verkäuflichkeit gar nichts, mit Erkenntnis hingegen sehr viel zu tun. Ich verstehe die Ring-Studien auch als Versuch, eine szenographische Skala zwischen Oper und Medienkunst zu entwickeln, also eine Art Archiv unserer Mittel.
Neue Medien und Technologien haben gegenwärtig eine dermaßen starke gesellschaftliche Hubkraft, dass man Wagners Werk geradewegs untreu würde, bemühte man sich nicht, ihm neue Formen und Formate zuzuentwickeln. Ich bin der Ansicht, die einzige Reform, die vollkommen im Sinn Wagners wäre, ist die mediale Reform. Sie nicht durchzuführen oder sie zumindest nicht ernsthaft zu durchdenken, brächte uns in Verdacht, dem Wagnerschen Werkgedanken an sich untreu zu sein.
»Immerhin erscheint es mir unumgänglich, an der Gestaltung der eigenen Zeit mit zeitgemässen Mitteln mitzuarbeiten.« (Laszlo Moholny-Nagy, 1926)
Der Opernbetrieb hängt heute am Tropf des Aktuellen, das Brisante aber erkennt er scheint’s nicht.
... Denn was ist »politisches«Theater? – Jedenfalls kann es nicht mehr heißen, politische Tagesfragen im Kontext des Theaters zu verhandeln, und schon gar nicht, sich zum Exponenten von Wut und Enttäuschung zu machen wie dies noch das Theater der 68er getan hat. Es kann allein heißen, Theater auf politische Weise zu machen: Nicht die Inhalte, sondern die Formen des Theaters selbst sind als politisch zu begreifen, die Darstellungsweisen, die Produktionsbedingungen, die Aufführungsformate, die Theaterräume, die Reflexionen über Zuschauer und Zuschauen – dies muss zu einem Teil unserer Erzählungen werden. Vor allem in der Oper.
Frei nach Godard: Man muss nicht politische Oper machen. Man muss Oper politisch machen.
... »mein Werk ist dann politisch, wenn ich möglichst präzise gearbeitet habe«. (Anselm Kiefer: Zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels)
... und sich öffentlich weigern, dass das experimentelle Musiktheater immer weiter an die Peripherie gedrängt wird und zentrale Werke der Musiktheatergeschichte mittlerweile komplett aus Drittmitteln benachbarter Disziplinen finanziert werden müssen, nur weil ihr Ansatz strukturell quersteht zum Betrieb. Wofür sind die großen Häuser denn da wenn nicht für den Schutz? Für den Schutz der Stücke, der Künstler, der Gewerke, des Know-how, der Ansätze, des unmöglichen Kunstwerks, der wilden Streits und der stillen Tränen? Wir dürfen die Oper nicht entpflichten von dem, was unsere Zeit schmerzhaft und das produktive Leiden an und in den Werken sinnfällig macht. Und wenn sie uns entpflichtet, wir entpflichten sie nicht.
Wie alles weitergehen wird? Das wissen nur die Vorhangzieher.