Als pedantischer Philosoph hat man es mit den Magiern der Rampe nicht einfach. Versucht man rational zu argumentieren, hauen sie einem die Abstraktionen, ohne die sich nicht denken lässt, um die Ohren. Riskiert man direkt von den Brettern und Bildern zu reden, vom Spiel, Licht, von den Leibern und der Aktion, wittern sie »vorgefasste Denkschemata« und verlangen, erst einmal das Neue zur Kenntnis zu nehmen, das sich vor unseren Augen ereigne, statt es sogleich interpretierend in andere Zusammenhänge zu rücken. Natürlich haben sie recht. Eine Idee, die szenisch nicht sinnfällig wird, ist eine Idee, die nicht existiert. Kommentare zu Opernaufführungen, die vom theatralen Status absehen, kann man in die Tonne tun. Allerdings gebührt in Sachen Interpretation darum keineswegs schon dem passionierten Bühnen- und Medienpraktiker die Krone. Wie beschränkt gerade sein Glaube sein kann, Theoretiker verstünden eo ipso nichts vom Theater, zeigt sich an der Auseinandersetzung um die Bayreuther Parsifal-Inszenierung von Christoph Schlingensief.
Viele Kritiker dieser Produktion behaupten, Schlingensiefs Bilderflut drücke der Musik, auf die es doch bei Wagner vor allem ankomme, den Lebensnerv weg, definiere sie auf Untermalung und Illustration visuellen »Fließwerks« herunter.1 Interessanterweise wird dies aber mit gegensätzlichen Argumenten begründet. Die einen sagen, beide Ebenen hätten nichts miteinander zu tun oder seien »beliebig« zusammengemixt. Genuin Musikalisches werde einem privaten Phantasieexzess des Regisseurs geopfert, für den die Autonomie des Werks nichts als ein Ammenmärchen, historisch überholtes Alteuropa sei. Die anderen meinen umgekehrt, durch Schlingensiefs Videos und seine Personenverdoppelungen werde Wagners Werk überbestimmt: Indem jene zusätzlich visuell veranschaulichten oder kommentierten, was sängerisch ohnehin erzählt werde, zwängen sie dem Bühnenweihfestspiel die Struktur einer gigantischen Tautologie auf. Und verhinderten so eine Rezeptionsweise, die den Assoziationen und Phantasien der Zuschauer Raum gebe.
Das Erstaunliche an solchen Statements ist, wie wenig ihnen die eigene historische und begriffliche Abhängigkeit vom Konzept des Gesamtkunstwerks bewusst ist. Ob sie dafür oder dagegen sind, Musik oder Szene bevorzugen, ihre Thesen kommen daher, als seien sie vom Himmel gefallen, als hätten sie keine Geschichte. Dabei sind sie ein typischer Ausdruck der Risse und unlösbaren Spannungen von Wagners ureigenem Projekt.2 Von Anfang an war das Gesamtkunstwerk eine unmögliche Kategorie. In der Theorie sollten sich die beteiligten Medien je »nach ihrer höchsten Fülle« ins Gesamte einbringen, in der Praxis erwies sich die »höchste Fülle« des einen Mediums stets als Schwächung der beiden anderen. Das hat wenig mit empirischem Versagen von Regisseuren oder Dirigenten zu tun, aber alles mit einem Zwang in der Sache: Inszenierungen, die auf theatrale Dynamik und Plastizität setzen, drängen die Musik wie auch immer in den Hintergrund, sie können gar nicht anders. Nimmt man den Autonomieanspruch der szenischen Darstellung so ernst, wie er es verdient, kann man Bühnenvollzüge nicht gleichzeitig auch noch wie Funktionen kompositorischer Prozesse behandeln. Im Prinzip entspricht das der Position der Zürcher Schriften: Dort versucht Wagner der Musik jede Autonomie zu bestreiten und sie in Abhängigkeit von Sprache und mimischer Aktion festzuhalten. Liegt einem hingegen an der Konzentration auf die Musik, ist man genötigt, die Szene »abstrakt« und das Spiel der Personen »statisch« oder »choreographisch« zu gestalten. Dadurch wird zwar der Teil von Wagners früher Ästhetik außer Kraft gesetzt, der diese Kunst dezidiert als im Dienste gestischer und physischer Sinnfälligkeit stehend begreift. Aber bestens passt die zweite Tendenz zu seinem späten Votum, als er, am planen Bühnenrealismus der Zeit verzweifelnd, nach dem »unsichtbaren Theater« rief, das allein der Musik verpflichtet sein sollte. Offenbar ist die Vielfalt an interpretatorischen Möglichkeiten, die Wagners Werk enthält, so angelegt, dass sie zu einem Konflikt der Interpretationen selbst führt. Sie alle, jede für sich, müssen hybride das Ganze wollen und bleiben doch dazu verurteilt, allein Partiales zu erreichen. Statt miteinander als Teile eines Ganzen zu koexistieren, bekriegt man sich gegenseitig. Erst vor diesem Hintergrund und seiner Geschichte wird der Streit um Schlingensief fassbar.
Schlingensief in Bayreuth – das ist eine spannende Ausgangslage. Jemand, der sich als dadaistischer Aktionskünstler einen Namen gemacht hat, inszeniert das Werk Wagners mit der statischsten Partitur und dem geringsten Anteil an Drama und Entwicklung. Zudem ist er natürlich gezwungen, seine heißgeliebte freie Aktion innerhalb eines Bühnenrahmens zu befrieden. Ziehen sich solche Gegensätze an? Dass es Schlingensief mit Wagner ernst meint, ist nicht in Zweifel zu ziehen. Die obsessive Intensität seiner Bilderflu(ch)ten spricht für sich. Nicht seine überzähligen und häufig erratischen Interview-Äußerungen oder gar der prätentiöse Qualm seiner intellektuellen Haustruppe bilden das Kriterium eines Verständnisses der Inszenierung, sondern diese selbst – in Spannung zu dem verstörenden Werk, das da inszeniert wird.
Verstörend ist der Parsifal bekanntermaßen wegen der in ihm entfalteten Sexualpathologie, die jeden aufgeklärten Liberalen, der Flagge zeigen will, ins Unrecht setzt. Aber es gibt noch andere gravierende Zweideutigkeiten. So ist dieses Werk einerseits ein Versuch, Religion in Kunst zu übersetzen und aus den abgelebten, ungeglaubten Elementen jener einen christlichbuddhistisch-sektiererhaften Gemischtwarenladen dieser herzustellen. Bedeutungsschwereres als eine Abendmahlsdarstellung kann es im Medium der Oper nicht geben. Andererseits handelt es sich beim Parsifal um die große Liebe Claude Debussys, d.h. um die Musik, in der Wagner sozusagen nachwagnerisch zu komponieren beginnt: eine Klangwelt von fast mediterraner Transparenz, nachhaltig reduziertem Pathos- und Ausdrucksaufwand sowie einer Ökonomie der instrumentalen Mittel, die teils mit leichten, ätherischen, teils mit kahlen, dunklen Farben arbeitet. Gleichzeitig bombastisch und mediterran, das wäre eine erste Formel zur Annäherung an den Parsifal.
Seit je hat das Bild einer Gemeinschaft, die sich durch religiöse und sexuelle Reinheit definiert und den, der davon abweicht, rigoros ausschließt oder terrorisiert, dem Verdacht antisemitischer Ideologie Nahrung gegeben. Ebenso gilt der Parsifal aber, und dies mit vollem Recht, als das »freudianischste« der Musikdramen. Wahnhafte Reinheit verkündet er als Ideal, aber was er realisiert, ist die Vermischung und Familienähnlichkeit der Parteien, ihr dynamischer Sinn, ihre gegenseitige Abhängigkeit noch im Zustand der höchsten Entfremdung. Wenn dieses Werk Antisemitismus enthält, dann so, dass es ihn auch zerlegt und dekonstruiert.
Pierre Boulez ist ein Glücksfall für Schlingensief, wie er es einst für Chéreau war (dieser allerdings erst recht für ihn). Dem jungen Wilden, der noch nie Oper inszeniert hat, gibt der avantgardistische Grandseigneur aus Paris den Freiraum und das Tummelfeld, das jener braucht. Chéreau brachte er bei, wie Wagner zu hören sei, Schlingensief lässt er jetzt gelassen sich in seinen Installationsexperimenten austoben. Beider Zugänge zu Wagner sind alles andere als deckungsgleich, aber wo steht geschrieben, dass die Musik abbilden müsste, was auf der Bühne zu sehen ist, oder die Bühne nachzuzeichnen hätte, was an kompositorischer Struktur vorliegt oder performativ umgesetzt wird? Selbstredend hebt Boulez’ Deutung die debussyistische Linie hervor: Mittelmeer gegenüber deutscher Metaphysikschwere.3 Was zu sehr nach Wunde, Blut, Salome, Heiligkeit und Devotionalienhandel ausschaut, tritt zur Seite. Aber es sind nicht allein die schnellen Tempi, die diese Interpretation so eindrucksvoll machen. Neben seiner enormen Differenzierung der orchestralen Schichten (Totale / Gruppen, Einzelfarbe / Mischklang) tritt bei Boulez heute eine Fähigkeit zur Agogik und metrischexpressiven Nonchalance hervor, die bei diesem integralen Dirigenten früher nicht zu hören war. Ineins mit der Entspanntheit der Klangverhältnisse, die von einer fast traumwandlerisch durchgehaltenen Balance zwischen Strukturtransparenz und atmosphärischem Verschwimmen leben, kommt es so zu einer Innenspannung der musikalischen Zeit, die keinen Moment lang nachlässt: Harmonie in dem Sinne, dass das, was auseinanderstrebt, zusammengespannt bleibt. Während Boulez den Ring seinerzeit oft so dirigierte, als wolle er das 19. Jahrhundert mit seinen monumentalen Gesten aus Wagner exorzieren, gebührt ihm im Falle des Parsifal ohne Einschränkung die Palme. Nicht zuletzt verbindet ihn die Distanz seiner Interpretation zum deutschen Drang aufs große Ganze mit dem Entwurf des Regisseurs. Schlingensief ist Wagner seelenverwandt. Man kann das nicht genug hervorheben, nachdem so viele Leute versucht haben, ihn als »Toren«, d.h. als einen Parsifal-Typus hinzustellen, der von Natur aus nicht weiß und wissen kann, was das Opus Parsifal ist. Dass die Gesamtkunstwerkmentalität, der Hang zu Überforderung, das Entwerfen von Bilderfluten ohne Ziel, das obsessive Sammeln und Aufhäufen von Details, die »Anarchie der Atome« (Nietzsche) und der durch permanentes Assoziieren nur notdürftig überspielte Ernst im Grundsätzlichen – dass überall da eine Verbindung zwischen dem einen und dem anderen besteht, kann man nur leugnen, wenn man es seinen Ressentiments gestattet, seine Wahrnehmung zu trüben. Wagners Organisationsgeist freilich fehlt bei Schlingensief fast völlig, und das erweist sich als schwerwiegender Nachteil. Aber die Nähe ist da, und so viele Regisseure laufen nicht herum, von denen man gerade dies sagen könnte.
Zwei Momente sind es, die die Nähe vor allem ausprägen und in denen Schlingensiefs Originalität liegt: sein Einsatz filmischer Mittel und sein religiöser Synkretismus. Ein dritter Punkt ist das Thema Tod, das schon bei Wagner Züge eines Deus ex machina trägt und an dem Schlingensief scheitert.
Schlingensief ist beileibe nicht der erste, der solche Mittel einsetzt, aber die Film- und Videopartien seiner Inszenierung markieren einen Einschnitt der Wagner-Interpretation. Das gilt für die strukturierte Kinoleinwand zu den Verwandlungsmusiken, die an die Stelle der einstmals filmähnlichen Wandeldekoration tritt, nicht minder wie für die frei flottierenden Projektionen auf die Szene und ihren Hintergrund. Warum hat das eigentlich so lange gedauert? Adornos Wort vom Musikdrama als der »Geburt des Films aus dem Geiste der Musik« stammt von 19384, postmoderne Freaks haben es oft unverstanden nachgebetet, schon Wieland Wagner sprach flapsig davon, dass sein Großvater »heute« in Hollywood arbeiten würde. Cineastische Experimente hat man vereinzelt schon in den 80ern veranstaltet, aber erst jetzt, so scheint es, wird dieser Strang voll ausgefahren.5 Machte die Nähe des Mediums zur Oper lange Zeit eine puristische Position notwendig und relevant? Warum im Theater Filme zeigen, wenn die Musik schon filmähnlich ist? Wagners Unzufriedenheit über die bühnenrealistischen Mittel seiner Zeit war jedoch auch darin begründet, dass seine Bildphantasien eine entrealisierende Fluktuationsdynamik voraussetzten, die darstellerisch überhaupt erst mit dem Film einlösbar geworden ist. Ironischerweise stellt das heute gerade einen Anachronismus dar. Dass Bayreuth das Kino sei, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Nur ist das Bekannte, wie Hegel sagt, weil es bekannt ist, nicht erkannt.
Der Sinn von Schlingensiefs komplexer Neuerung zeigt sich zunächst im Hinblick auf das Moment der musikalischen Epik. Der Anspielungsreichtum der Gurnemanz-Erzählung erhält ein visuelles Pendant, nicht im Sinne platter Abbildung, sondern als ein Spektrum diverser Bezugs- und Erweiterungspunkte. Man mag das als Überforderung und auch Einengung rezeptiver Phantasie kritisieren, aber es ist nicht zu bestreiten, dass es hier gelingt, einen Freiraum gegenüber der Musik zu schaffen, der nicht verdoppelt, was erklingt, sondern aus unterschiedlichen Blickwinkeln kommentiert und assoziativ begleitet. Die doppelte Besetzung der zentralen Personen auf der Bühne verstärkt das weiter: Dass Kundry an der Stelle des I. Aktes, als sie plötzlich von der wilden Medizinjägerin zur wissenden Frauengestalt mutiert, ein anderes (weißes) Kleid trägt als zuvor, ist eine der vielen prägnanten Einfälle, die auf den II. Akt vorausgreifen, und keine Äußerlichkeit.
Ihre Spitze erreicht Schlingensiefs erste Innovation, das Filmische, wenn sie auf die zweite, den religiösen Synkretismus, trifft. Im Ritual, der Gralsburgszene des I. Aktes, ist die Wirkung der Bilderkaskaden noch viel stärker als angesichts der Assoziationsstrukturen des Epischen. Hier entfalten jene eine beunruhigende, verstörende Kraft, die man so selten gesehen hat und die einen auch nicht loslässt, unabhängig davon, ob man nun diesem und jenem Detail zustimmt oder nicht. Es wirkt, wie wenn jemand nach einem Afrikaaufenthalt eine bayrisch-österreichische Fronleichnamsprozession besucht und in der folgenden Nacht im Traum alles ineinanderfließt, harmonisierend und beängstigend zugleich: Amfortas, der aus einer Sänfte mit dem »Allerheiligsten« ein Gewand nimmt, auf dem seine Wunde dezent wie in Runen eingeschrieben ist; er legt sich auf (oder neben) eine schwarze Fetischpuppe mit blutigem Geschlecht, aus dem die am Ritual beteiligten Familien, Kasten, Ethnien am Ende »neues Leben schöpfen«, um damit dann Parsifals jesusähnliches Gewand zu signifizieren.
Dass es sich bei diesem Szenario weder um eine harmlose Multi-Kulti-Party handelt noch um eine europäisch-reaktionäre Mystifizierung des Voodoo-Kultes, lässt sich unter anderem auch an dem Drahtzaun ablesen, mit dem die beteiligten Gruppen ihren Lebensmittelpunkt voneinander abzugrenzen scheinen. Vielleicht wäre in Sachen Blut weniger manchmal mehr und andeuten besser als ausstellen gewesen, aber die Bilder verbreiten so oder so eine schlagende Intensität, der man sich erst einmal emotional aussetzen muss, statt wie im religionswissenschaftlichen Seminar sofort die Keule »Globalisierung« oder »Gegenaufklärung« zu schwingen. Schichten der monochromen Gralswelt kommen da ans Licht, von denen bislang zumindest das breite Publikum wenig ahnte: Das Element der Vermischung und Familienähnlichkeit, das implizit bereits bei Wagner gegen den Terror der Reinheit arbeitet, lässt Schlingensief so obsessiv wie gezielt wuchern, dass es sich vielleicht erst jetzt in seiner ganzen Reichweite zeigen kann. Gut möglich, dass künftige Inszenierungen den Konflikt zwischen Reinheit und Unreinheit stärker profilieren werden. Aber kaum vorstellbar, dass sich die Vermischung nach ihrer theatralen Scheitelhöhe hier aus dem Parsifal noch einmal wegdenken ließe. Allein darin liegt eine große Leistung des Bayreuthgreenhorns wie wohl auch seine Schnittmenge mit dem Gründer des IRCAM: Boulez wie Schlingensief akzentuieren – mit völlig verschiedenen Mitteln und Medien – die offenen Stellen des Parsifal gegen seine Hermetik, das Spiel der Perspektivenvielfalt gegen die Reinheit der einen Lösung [Abb. 1].
Abb. 1: Perspektivische Vielfalt eines Rituals. Parsifal, I. Akt. Inszenierung Christoph Schlingensief. Bayreuther Festspiele, 2005.
Dass Schlingensief am II. Akt scheitert, ist offenkundig. Zunächst einmal kann er keine Personen führen und will es wohl auch nicht. Das meint nicht nur, dass ihm die spezifischen Schwierigkeiten von Sängern auf der Bühne fremd sind. Vielmehr scheinen Personen für ihn generell schon etwas zu Konturiertes, Festes zu sein, als dass er ihr je individuelles Profil in sein »Fließwerk« einbauen könnte oder wollte. Ein schmerzlicheres Fiasko als die große Kundry-Parsifal-Szene bei ihm ist nicht vorstellbar. Diese Szene, wohl das psychodynamisch Reichste und Komplexeste, was Wagner je schuf, weist im Unterschied zu fast allen anderen Partien des Parsifal ein genuin dramatisches Entwicklungsmoment auf: Am Anfang, als sie aus der schwirrenden Weibesbildergalerie der Blumenmädchen als Inbegriff einer wirklichen Frau heraustritt, ist Kundry die große Mutter-Verführerin und Parsifal der kleine, unsichere Junge, am Ende er der erlösende Vater und sie die kleine Tochter, die sich nach Freiheit sehnt, beide ohne Unterlass vom verwirrenden Hin und Her zwischen Trug und Wahrheit bedrängt. Über diese fundamentale Differenz des II. Aktes zu den beiden anderen geht Schlingensief mit der Brutalität des Naivlings hinweg, der nicht weiß, dass sie eine ist. Es erweist sich als schlicht ruinös, wie in den Eckakten bloß die Figuren zu verdoppeln und den Szenenkontext durch ständig andere Bilder und Arrangements zu variieren. Wird doch auf diese Weise der Kern der Szene zerfetzt, ihre nicht zuletzt temporale Dynamik in Mosaiksteinchen aufgelöst, die nur noch notdürftig zusammenpassen. Natürlich »macht« Schlingensief eine Menge: Kundry und Parsifal stehen (wie in vielen anderen Inszenierungen auch) »egoistisch« je für sich; der Kuss findet im Beichtstuhl statt; während Parsifal I sich Kundry I wie vorgesehen verweigert, ist Parsifal II gegenüber einer mädchenhaften Kundry II, die ihn mit ihrer weithin sichtbaren Mens anlockt, deutlich weniger zurückhaltend usw. usf.
Sehen wir davon ab, dass das Multiplizieren des Blutmotivs in diesem Teil der Inszenierung ausufert und viel von seiner anfänglichen Bezeichnungsprägnanz verliert. Das Hauptproblem ist dies: Was im I. Akt als filmisch-szenische Potenzierung von Erzählung und Ritual überzeugt und sogar überwältigt, weil es dort, trotz Amfortas, nicht eigentlich um Seelendramen von Personen geht, scheitert im II. Akt, wo es um nichts anderes geht, auf ganzer Linie. Man ist versucht, mit Melanie Klein von einer archaischen Angst vor dem Objekt zu sprechen, bei der Kontur und Grenze eines Individuums als etwas so Bedrohliches erscheinen, dass seine Gestalt in konträre Imagines aufgespalten werden muss, damit seine Präsenz überhaupt erträglich wird.6 Aus den spezifischen Figuren der Bühne wird bei Schlingensief so eine Heerschar bloßer Funktionäre oder Ideenträger. Wagner ist kein Individualpsychologe. Aber er benutzt das Spiel dramatischer Personen, um an ihm komplexe seelische Grundkonflikte zu entwickeln. Wer das ignoriert oder in bunte Bühnenwerkelei übersetzt, hat etwas Entscheidendes nicht verstanden. Es ist wie im Anti-Oedipus, wo von dem Wunschmaschinenmonstrum andauernd gesagt wird: »es scheißt, es fickt«, nur um den Eindruck, es ginge am Ende um eine personale Beziehungsdynamik, gar nicht erst aufkommen zu lassen.7 Weil alles möglich sein soll, ist am Ende nichts wirklich greifbar. Eine paranoide Atmosphäre beherrscht den gesamten II. Akt. Die spielerische Offenheit, um die es Schlingensief offiziell zu tun ist, gerinnt selbst zum Zuchthaus.
Schlingensiefs Reichtum, seine Opulenz ist sein Problem. Das Fließwerk arbeitet konturenlos: Kostüme ohne Säume, Perücken ohne Frisuren, Bühnendekorationen ohne Ränder, Sounds ohne Schall, Mischfarben, uneindeutiges Licht, Akteure ohne personale Referenz, Interaktionen ohne Beziehung. Das hat, wie gesagt, sein Gutes, und es ist eine professionelle Gemeinheit, Schlingensief hier Beliebigkeit oder Hilflosigkeit zu unterstellen. Er hat eine genaue Vorstellung von dem, was er meint, und trifft immer wieder ins Schwarze. Aber er vergisst auch gerne, die Flut, die er in Bewegung bringen will, zu kanalisieren, ihr wenigstens in Ansätzen eine Grenze, eine bestimmte Gestalt zu geben. Das ist kein Plädoyer für ein theatrales Juste-milieu. Rezeptive Überforderung muss sein. Es wäre lächerlich, von einer Inszenierung zu verlangen, sie solle klar und sauber über die Bühne gehen. Aber auch die Überforderung sollte eine gewisse gestalterische Ökonomie erkennen lassen, wenn sie nicht zum bloßen Aufhäufen von Material degenerieren will. Sicherlich zielt Schlingensief nicht auf Letzteres. Aber es ist schwierig, ein Fließwerk wie das seine gegen den Sog der Indifferenz abzugrenzen, wenn man selbst mit Grenzen nicht wirklich umgehen kann. Dass es für ihn nichts Festes gibt, sondern nur Bewegungen, keinen Grund, sondern allein sich durcheinander auflösende Bilder- und Zeichenfluten, hat ihn in die Nähe zu Wagner gebracht oder getrieben. Aber die Frage wäre, ob er sich nicht doch um einen »Apoll« bemühen sollte, der seinen Fließ- und Werdeobsessionen eine wie immer prekäre Stabilität gäbe und über den der alte Klingsor allem »Schwimmen, Schweben«8 zum Trotz so ungeheuer verfügt hat. Auf seine Weise schleppt auch Wagner enorm viel Krempel mit, aber er weiß eben auch einen Freiraum zu schaffen, wo jener zu »verstauen« ist.
Dass Schlingensief nicht darum herumkommt, auf ein Jenseits des Fließwerks zu rekurrieren, zeigt sich an seiner eigenen Rede über »den Tod«. Auch das ein Topos, der originär zu Wagner gehört, und keine Erfindung der Wirkungsgeschichte. Tod hat bei Wagner die Funktion, seine Konstrukte des Ausweglosen, die nicht aus sich selbst zur Ruhe kommen, von außen abzubrechen und der eigenen naturwüchsigen Affinität zu negativer Dialektik die Projektion eines entkrampfenden Stillstands entgegenzusetzen. Über die Ideologie des Wagnerschen Erlösungstodes ist viel gesagt worden, auch über ihre Entstehung aus dem Scheitern eines revolutionären oder metaphysischen Großprojekts. Die Dinge liegen nicht eindeutig, aber zum »memento mori« taugt Richard Wagner auf keinen Fall. Unbeschadet aller Psychologie ist sein Blick auf den Tod gerade keiner auf das Ende des einzelnen Menschen. Gerade das aber insinuiert Schlingensief. Es war legitim, dass der Regisseur von seinem »Nahtoderlebnis« ausging. Wie hätte er den Parsifal inszenieren und im Ernst davon absehen können? Weder aber formuliert diese Extremerfahrung, bei allem nötigen Respekt, eine privilegierte Einsicht in die Sterblichkeit des Menschen, noch gibt eine Privatmythologie schon ein künstlerisches Gestaltungsprinzip an die Hand. Herausgekommen ist viel weniger, als Schlingensief sich so gedacht haben mag. Die Todesquadriga am Ende ist eine Verunglückung: Kundry stirbt, Amfortas stirbt, Parsifal steht kurz davor, schließlich der lange Abspann mit dem verwesenden Hasen. Im I. Akt bringt die Einführung des Hasenmotivs eine tiefe Seelensaite zum Klingen: das Lieblingstier unserer Kindheit, das wir niemals dem Jäger gegönnt haben, und jenen toten Hasen, dem Joseph Beuys »seine Bilder erklärte« – ein einzigartiges Beispiel für den unmöglichen, d.h. religiösen Dialog mit dem Tier, wie er auf andere Weise in Michael Ciminos The Deer Hunter (1978) zum ergreifenden Bild wird. Aber ausgerechnet hier verlässt Schlingensief seine Phantasie. Dass ihm an der paradoxen Kommunikation zwischen Mensch und Tier nichts liegt, hat man zu akzeptieren. Nicht aber, dass der Fließwerker hier platterdings zum Botschafter wird, indem er den Hasen als schlichtes Exempel für Verwesung auf die hintere Bühnenwand projiziert. Mitten im verabsolutierten Bewegungsfluss taucht auf einmal eine Message für uns alle auf. Der semiotische Overkill stößt auf eine semantische Conclusio, die sich umso programmatischer gibt, je weniger sie eine Darstellungsbasis in der Inszenierung selbst hat: »Und die Moral von der Geschicht’: Wir müssen alle einmal sterben und stinken.« Das hätte ein polemischer Kontrapunkt zum großen, hehren Wagnerschen Erlösungstod werden können, der ja überhaupt mehr eine Idee ist als ein materielles, körperliches Geschehen. Aber Schlingensiefs Entschluss, Beuys zu beerben, macht sich viel zu aufdringlich breit, um nicht bitter weit hinter dessen Szenarien der Erlösungssehnsucht zurückzufallen: Verabsolutierung von Bilder- und Zeichenflucht hie, didaktische Demonstration von Weltanschauung dort, das ist unkünstlerisch bis zum Anschlag.
Trotzdem ist dieser Parsifal eine Inszenierung, die haften bleiben und vielleicht sogar Geschichte schreiben könnte. Ihre Defekte sind das Ergebnis obsessiver Übertreibungen und Blindheiten, hinter denen jedoch erkennbar eine gewichtige künstlerische Potenz steht. Dass sie nicht stets schon da ankommt, wo sie im Prinzip anzukommen fähig wäre, spricht, auch wenn es zunächst anders aussieht, nicht unbedingt gegen sie. In der Kunst kann Versagen, sofern es aus einer entsprechenden Kraft hervorgeht, der Vorbote des Außerordentlichen sein. Kein Dionysos ohne Apoll.
Die Erwartung, die sich da am Ende auszusprechen traut, mutet heute ein wenig wie ein frommer Wunsch an. Man könnte auch sagen, sie sei schon damals illusionär gewesen, weil sie Schlingensiefs Selbstverständnis ins Gesicht schlug, ihn mit einer ästhetischen Position zu versöhnen suchte, mit der er weniger als nichts am Hut hatte. Schlingensief wollte kein seriöser Interpret sein, der in einem Werk aufgeht oder gar hinter dieses zurücktritt, sondern ihm lag daran, alles Werkhafte zugunsten von »Aktionen« und »Installationen« zu überschreiten, die Grenze zwischen Kunst und Leben durchlässig zu machen, insbesondere als persönliches Ich mit einer unverwechselbaren emotionalen und religiösen Disposition sichtbar zu bleiben – und natürlich gerade damit zu wuchern wie zu werben. Auch wenn sich über Geschmack streiten lässt, das bleibt legitim, damit hat der Mann etwas bewirkt. Im Übrigen nahmen seine Besessenheit und sein Ernst für ihn ein, ein Leichtfuß war er bei allem Trara nie.
Indes zeigt die Entwicklung, die nach dem Parsifal so unverhohlen nach außen trat, was bereits in Bayreuth in eine verkehrte Richtung gelaufen war: die Selbstinszenierung des Regisseurs als Heiligenfigur. Nachdem Schlingensief noch 2008 Zeitungen mit Klagen überzog, weil sie von seiner Krebserkrankung berichtet hatten, entschloss er sich, sein Sterben in den Rang einer öffentlichen Angelegenheit zu erheben und seine letzten Worte, Gesten und Atemzüge für künstlerische Zwecke dokumentieren zu lassen. Bereits im September 2008 hatte, wie soll man sagen, die eigene Totenmesse zu Lebzeiten bei der Ruhrtriennale Premiere. Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir hing nicht bloß von der physischen Präsenz des Todkranken ab, der in der letzten Szene wie Jesus das Brot brach und dazu verzückt »Fluxus« in den Saal hinein murmelte, es fand auch wie unterm Vergrößerungsglas und abseits jeder formalen Disziplin so etwas statt wie die Wiederkehr des Schlechtesten an Wagner selbst: Privatzauber als Menschheitsbeglückung, Eigenwerbung als Kult.9 Dass der ehemalige Messdiener Schlingensief es schließlich auch nicht lassen konnte, urbi et orbi zu vermelden, den Krebs habe er sich natürlich in Bayreuth geholt, passte dazu nur allzu gut.10
Es war der Todesdiskurs, der bereits im Parsifal jene Schatten vorauswarf, die Schlingensiefs »späte« Produktionen so fragwürdig machten. Hier hat die intellektuelle Begleitmusik, die sonst kaum der Rede wert war11, auf das Bühnengeschehen voll durchgeschlagen: Ohne jede Umschweife hat man »Bühnenweihfestspiel« als »Totenfest« oder »Sterbefeier« akklamiert: »Der Schmerz und die Klage, die Todessehnsucht und das Loslassen, die Einsicht in die eigene Vergänglichkeit und Hilflosigkeit sind Elemente dieser Sterbefeier. Das Ganze ist nichts anderes als eine Auseinandersetzung mit dem, was jeder Lebende noch vor sich hat. [...] Und dies ist bei aller Unbeständigkeit und Ungewissheit, das einzige, worauf man sich verlassen kann. [...] Das Thema ist der Tod, der eigene Tod. Der Tod als einzige Erlösung.«12
Solche Sätze erheischen gestikulierend Respekt, aber die ehrwürdige Spruchweisheit des »mors certa hora incerta«, die sie wie ein Donnerargument aus der Tasche ziehen, hat mit Wagner nur sehr wenig zu tun. »Tod« ist bei ihm ein Motiv, das sich durch das gesamte Werk hindurchzieht: von den Entwürfen des Gymnasiasten bis zu den späten Sachen, politisch, psychologisch wie spekulativ. Aber eine im engeren Sinn existenzielle Perspektive darauf nimmt er an keiner Stelle ein, Auseinandersetzung mit Sterblichkeit als Menschenlos, mit dem Tod als Limes des individuellen Lebens, findet weder im Tristan noch im Ring statt, schon gar nicht im Tannhäuser und ebenso wenig im Parsifal. Dass die Protagonisten oft furios und wortreich bekunden, sich nach dem Tod zu sehnen, allein in ihm Erlösung und Frieden zu finden, signalisiert unterm Strich doch eher eine monologische Ichinflation als »Einsicht in die eigene Vergänglichkeit«, mehr einen metaphysischen Gewaltakt als Demut in Richtung Allerseelen. Man denke nur an die absurde Goldmedaillenpose des Holländers: »wenn alle Toten aufersteh’n / dann werde ich im Nichts vergehen«. Schlingensiefs Todesrede ist ein Lesefehler, wie er Enthusiasten nicht selten unterläuft, eine aus Distanzlosigkeit geborene projektive Verwechslung des eigenen Weltbildes mit dem des Gegenstands.
Allein, man muss ihm dankbar sein, dass er seine Projektion zum Programm erhob. Denn das Thema als solches war fällig, irgendjemand musste es einmal tun, und man kann eigentlich nur bass erstaunt sein, warum das nicht längst zuvor schon geschehen war. Obwohl »Tod« bei Wagner so überwältigend und ubiquitär präsent ist, zeigt er sich als Problem weder in der Inszenierungsgeschichte noch in der wissenschaftlichen Literatur eingehender beäugt, die üblichen halbgebildeten Verweise auf Novalis, den Graf von Platen und Thomas Mann ausgenommen. Schlingensief hat hier den Bann gebrochen, und das war gut so. Nur zahlte er dafür einen hohen Preis. Er ging auf Wagners Spätwerk zu, indem er geradewegs auf das Ende setzte, dessen Problem in die Lösung umdeutete und eine Antwort gab, wo er Fragen hätte stellen sollen. Etwa die, warum in der Behandlung des Todesmotivs bei Wagner das Leben des sterblichen Menschen ausgeklammert bleibt13 oder immer schon an eine Idee gebunden auftritt, die den komplizierten Verwicklungen des Dramas als Urbild des Friedens respektive als der Liebe Ziel und tiefster Sinn entgegengestellt wird. Solche Standpunkte sind ja weder lebenspraktisch noch ethisch sonderlich evident. Gewiss, ebenso wenig lassen sie sich als ästhetischer Irrtum abtun. Ohnehin beginnt das Menschliche ja erst dazwischen. Schlingensief nahm Wagners Todesworte à la langue, auf den Gedanken, metaphorische Bedeutungsnuancen zu eruieren, kam er offenbar erst gar nicht. Dabei ist die Frage, welche »kleineren« Konflikte sich eventuell hinter oder in dem ganz großen Thema verbergen, so abgründig nicht. Oft genug kommen Tod und Erlösung bei Wagner wie Schemata von außen, und sei es auch nur, wie im Tannhäuser, weil das drohende Ende des Stückes nach einer finalen Lösung verlangt. Schlingensief scheint sich daran nicht zu stören, sondern agiert, als säßen wir in einer apokryphen Christenlehre mit ihm als Kaplan. Dass Wagner zuweilen nichts Besseres einfällt, als dass Frauen »entseelt zu Boden sinken«, kann aber beim besten Willen kein Beitrag zum Verständnis dessen sein, »was jeder Lebende noch vor sich hat«. Wer seine Worte so wählt, bezeugt weniger religiöse Authentizität als die Wiederkehr des Jargons der Eigentlichkeit unter postmodernen Vorzeichen: leerer Fundamentalismus inmitten eines Denkens, das immerzu »anders« sein möchte, insgeheim aber nur um sich selbst kreist, ohne dessen auch nur halbwegs gewahr zu werden. Ganz zu schweigen davon, was die Wendung zu Diskurs und Theater des »eigenen Todes« eigentlich heißen soll, wenn der Regisseur weder dramatisch noch psychologisch am Spiel von Personen interessiert ist.
Zum Schluss aber dann doch dies: Der künstlerische Makel, der Schlingensiefs Bayreuther Debüt-Inszenierung anhaftet, ist nicht geringer als der intellektuelle Irrtum, der ihn auf dem Gewissen hat. Trotzdem hat diese Produktion Wesentliches an Wagner neu sehen gelehrt. Sie tat ihm Gewalt an, aber dass es Schlingensief mit seinen religiösen Ticks gelungen ist, ungewöhnlich verstörende Blicke auf den Parsifal zu werfen, die vielleicht mehr in Bewegung gebracht haben als so manche saubere Inszenierung vor und nach ihm, bleibt bestehen – trotz alledem. Was er sagte, war unrettbar falsch, man hätte ihm vielleicht besser wie Papageno ein Schloss um den Mund hängen sollen. Aber was er zu zeigen vermochte, war ein Ereignis, wenn auch ein im Wortsinn fragwürdiges, eines, das auf der Kippe steht.