Richard Klein

Marc A. Weiners gespaltene Wagnerwelt

Der Punkt, an dem Diskussionen über Wagners Judenhass in jene Turbulenzen geraten, die an die Substanz gehen und bei denen jeder etwas zu verlieren hat, ist erreicht, wenn man nach der Präsenz dieses Hasses in den Werken fragt. Die einschlägigen Schriften, Briefe und auch Cosimas Tagebuchnotizen sprechen bei aller Diffusion im Detail letzten Endes doch eine so markante, um nicht zu sagen martialische Sprache, dass Versuche, die Bedeutung antisemitischer Ideologie für Wagner selbst zu ignorieren oder auch nur zu beschwichtigen, sich sofort widerlegen. Der Mann war eben nicht nur ein Kind seiner Zeit, sondern dieser in einem fatalen Sinn auch voraus. Er hat sich nicht allein gängiger antisemitischer Klischees bedient, sondern sie idiosynkratisch übersteigert und in die Welt hinausposaunt – noch dazu in einem Augenblick, als die liberale Assimilation sich behauptet zu haben schien und der Antisemitismus auf politischer Bühne Ruhe gab.1 Trotzdem steht nicht a priori fest, ob es sich bei all dem um temporäre Exzesse, um hemmungsloses Ausagieren von Paranoia in bestimmten Situationen handelt oder um ein konstant durchgehaltenes und womöglich künstlerisch ausgestaltetes weltanschauliches System.2

Ungeklärt ist insbesondere das Verhältnis von Biographie und Werk. Wenn an der zentralen Bedeutung des Antisemitismus im Leben Wagners kein Zweifel möglich ist, wie kann dieses Zentrum sich dann im Werk zum peripheren Moment wandeln, durch »fortschrittliche« Gegentendenzen relativiert, wenn nicht »ausgeglichen« werden? Kann der Judenhass im Leben aber überhaupt zentral gewesen sein, wenn er sich im Bannkreis von Dichtung und Partitur, Bühne und Orchestergraben lediglich als ein Aspekt unter anderen zu erkennen gibt? Es ist unwahrscheinlich, dass ein so tiefsitzendes Ressentiment in den Musikdramen keine Spuren hinterlassen hat. Handelt es sich darum aber schon um die Instanz, die, wenn man sie nur differenziert genug denkt, buchstäblich alles entscheidet? Welcher Art sind jene Spuren und wie präzise bzw. engagiert lässt sich über sie reden?3 Die Diskussion über solche Fragen ist bisher nicht sehr befriedigend verlaufen. Auf der einen Seite standen – und stehen – diejenigen, die von moralischem Idealismus getrieben Wagner geradewegs in die Vorgeschichte der Shoah einordnen; auf der anderen Seite wiederholt eine Heerschar von Philologen immerzu ihr Lieblingsleitmotiv, im Werk sei kein zweifelsfreier Beleg für antisemitische Agitation auszumachen: Beide Positionen waren lange nicht vermittelbar, ihre Vertreter hatten allergrößte Schwierigkeiten, auch nur miteinander zu reden. In letzter Zeit scheint sich dies geändert zu haben4, auch wenn die Fronten weiter bestehen – und, ein wichtiger Punkt, voneinander abhängig bleiben.

Damit kein Missverständnis entsteht: Gegenüber dem Versuch, Wagner unmittelbar als Vorläufer des Holocaust zu reklamieren, war das Beharren auf philologischer Solidität notwendig und richtig. Wahrscheinlich ist es überhaupt erst als Negation jenes monströsen Verdikts entstanden und hat diese Haltung dann habitualisiert, verinnerlicht. Das machte eine ganze Zeitlang Sinn, zog aber zunehmend auch eine Abhängigkeit vom Negierten nach sich, um schließlich in die Illusion zu münden, Wagners Antisemitismus sei allein oder doch im Kern ein Gegenstand von Philologie. Seit den 80er Jahren errang dieser Diskurs einen leichten Sieg nach dem anderen über jene militante Anti-Wagner-Fraktion, die bar jeder Differenzierung die Musikdramen für bloße Vehikel antisemitischer Propaganda nahm und in der Kritik an ihr selbst nichts als Symptome des »Mainstreams deutscher Verdrängung« erkennen wollte. Man wird aber wohl sagen dürfen, dass erst zwischen solchen Extremen die Dinge ernsthaft relevant werden, d.h. weh zu tun beginnen.

Der »Fall Wagner« trifft einen neuralgischen Punkt, er ist nicht allein eine Angelegenheit ästhetischer und wissenschaftlicher Verfahren, sondern wesentlich eine der politischen Kritik, des Eingriffs in den öffentlichen Diskurs. Wenn es zu Einsichten kommen soll, die ihren Namen verdienen, muss man beides tun: politisch und ästhetisch denken, die Autonomie der Werke auf Ideologie hin überschreiten und zugleich die ideologischen Gehalte an die Sprache der Formen zurückbinden. Eine Reflexion des sozialen Kontextes, die die komplexe innere Organisation der Musikdramen zugunsten weltanschaulicher Essentials hintansetzt, bleibt, ob »revolutionär« motiviert oder nicht, bloße kulturpolitische Strategie.5 Die reiche Selbstreferenz dieser Werke zum Schutzwall gegen alles Böse draußen hochzustilisieren wie Wotan sein Walhall, läuft umgekehrt auf einen Idealismus hinaus, den sich keiner leisten kann, weil er sich durch sein eigenes leeres Pathos richtet. Über solche unproduktiven Extrempositionen hinausgelangen möchte oder sollte eigentlich wohl jeder. Aber das ist leichter gesagt als getan, wie das Buch von Marc A. Weiner exemplarisch zeigt.6 Mit Recht beklagt Weiner zuallernächst das allzu Parteiische und Persönliche der überkommenen Diskussion, den »Holzhammer«, den sowohl die Verächter wie die Apologeten Wagners zu schwingen verstünden. Entschieden wehrt er sich gegen die Reduktion des Problems auf philologisch entscheidbare Sachverhalte und gegen ein Ideal von Werkimmanenz, das Reflexion auf politische Zusammenhänge selbstredend ausschließt. Gegen den Fundamentalismus des Alles oder Nichts setzt er auf ein flexibles, hypothetisches Verfahren, das keine Scheu davor habe, sich »mit den Zweideutigkeiten und der beunruhigenden Vermengung von Ideologie und Ästhetik auseinanderzusetzen, die sich in Wagners Werk manifestieren«.7 Hervorgehoben wird zumal die wechselseitige Verflechtung von Werk und kultureller Rezeption, die ein statisches Verständnis der Musikdramen nicht zulasse, dafür umso mehr eine Hermeneutik der Metapher und der Anspielung benötige.8 Antisemitismus sei bei Wagner gerade keine bloß externe Ideologie, sondern ein Bedeutungskomplex, der bis in die Innereien der künstlerischen Formensprache hineinreiche.

Das klingt alles ausgezeichnet. Aber es kommt anders: Weiner sagt de iure ja und tut de facto nein. Sein Plädoyer für plurale Deutungsangebote ist zu Ende, sobald er selbst zu deuten beginnt. Wäre dies ein rein rhetorischer Sachverhalt oder eine Frage des Temperaments, wäre die Sache kaum der Rede wert. Aber es geht um mehr. Zwar kann die Möglichkeit anderer Interpretationen kein prinzipieller Einwand gegen eine bestimmte Interpretation sein, wohl aber, sofern diese sich weigert, sich überhaupt in ein Verhältnis zu jenen anderen zu setzen. Weiners postmoderner Habitus, der wie selbstverständlich für sich jene Offenheit reklamiert, die er seinen vorzugsweise deutschen Gegnern abspricht, hat, wie sich bei der Lektüre relativ schnell zeigt, mehr eine salvatorische oder strategische Funktion, als dass er einen Theorieunterbau der eigenen Deutungen selbst begründen oder einsichtig machen könnte.9

Wie soll man einem solchen Buch gerecht werden? Schauen wir uns zunächst das methodische Verfahren an. Befremdlich ist bereits Weiners Versuch, den Antisemitismus im Werk Wagners als »Programm«10 mit einem ausgeklügelten, aber verschlüsselten metaphorischen Gesamtsystem dingfest zu machen.11 Denn um dieses Ziels willen vergisst der Autor jede gute hermeneutische Kinderstube. Er mischt Briefzitate mit Dramenversen und Dramenverse mit Partien der Schriften, Spekulationen über musikalische Sachverhalte mit allgemeinen Überlegungen zur Kulturgeschichte und Belege aus Wagners Pariser Jahren mit den schlimmsten Stellen der späten Pamphlete. Ringt man sich trotzdem dazu durch, ihm das als polemische Übertreibung mit Wahrheitskern anzurechnen, wird man sogleich damit konfrontiert, dass Weiner jede methodologische Kritik an seiner Methodik als Ausdruck der ideologischen Befangenheit des Kritikers aufnimmt: »Wenn also die Konservativen die Methodik ihrer Gegner angriffen, dann versuchten sie damit, Kunst und Politik zu trennen. [...] So wurde in Elmau immer wieder über die Methodik diskutiert, während es doch um die Ideologie ging.«12 Dass einsinnige Methodenkritik leicht zu einer Abwehrformation gerät, wird keiner bestreiten wollen, schon gar nicht, wenn es um Wagner geht. Aber rechtfertigt diese Erfahrung eine Ideologiekritik, für die der antisemitische Subtext dem Werk Wagners a priori »zugrunde liegt«, ohne dass sie darauf reflektiert, wie dies im Detail zu zeigen und plausibel zu machen wäre? Es ist abstrakt richtig, Kunst und Politik nicht zu trennen, sondern ihre möglichen Verbindungen nüchtern zu analysieren. Nur spricht eben ziemlich viel dafür, dass dies ein Mehr statt ein Weniger an methodologischer Reflexion zur Folge haben müsste. Ideologie ist schließlich kein handgreifliches Ding, das in der Realität herumliegt, man muss sich schon Gedanken machen, wie sie in einem konkreten Fall bestimmt und abgeleitet werden kann. Solche grundsätzlichen Defizite bringen die gar nicht wenigen Momente, wo Weiner an Nervenpunkte der Sache rührt und mit allem Recht kritische Reflexion einklagt, um ihr Problembewusstsein und ihre intellektuelle Produktivität. Hier ist eine große Chance vertan worden, was auch daran deutlich wird, dass von dem von Weiner zunächst so emphatisch beanspruchten Ideal kulturhistorischer Erkenntnis am Schluss allein die geistige Ruine des »Partikularismus«, d.h. die umstandslose Reduktion von Ideen und Universalien auf empirische Interessen und Gegebenheiten zurückbleibt.13

Leider ist das noch nicht alles. Vielmehr mündet, was so einladend als Plädoyer für das Aushalten unaufhebbarer Ambivalenz begonnen hatte, in eine Konstruktion, wie sie dualistischer, ja schizoider nicht sein könnte. Einerseits spricht Weiner von einem System aus »sicht- und hörbaren Zeichen des Hasses«, die als moralisch verwerflicher Subtext der »überwältigend verführerischen Musik«14 Wagners zugrunde liegen. Zugleich erklärt er, und diese Äußerung muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: »Ich für mein Teil lasse es schlichtweg nicht zu, dass Wagners Antisemitismus mich am Genuss seiner Werke hindert«, und er ergänzt: »Ich brauche [...] Wagners Werke nicht reinzuwaschen, um sie genießen zu können, wie irritierend das ästhetische Erlebnis für einen Juden auch sein mag. Ich glaube sogar, dass sie dadurch an Faszination verlieren würden.«15

Von der narzisstischen Pose solcher Sätze einmal abgesehen – Weiner meint gewiss nicht, dass die »verwerfliche Ideologie«16 an Wagner als diese zugleich das sei, was fasziniere und was man lieben könne. Allein, wenn die Ideologie so eindeutig und programmatisch konsistent ist, wie er behauptet, was bleibt da zum Lieben und Genießen übrig? Das »rein Künstlerische«? Das, was uns eine Gänsehaut verschafft? Erst im Nachhinein, dafür aber umso drastischer, tritt bei dem Literaturwissenschaftlicher aus Bloomington zutage, was bei den von ihm so engagiert befehdeten »deutschen Wagnerapologeten«17 am Anfang stehen soll: die Trennung von Kunst und Politik, Ästhetik und Ideologie. Weiner möchte den Wahn der Werke bis zur Wurzel aufklären, aber für das, was ihn dabei beglückt und begeistert, fehlt ihm jeder Begriff. Dieser Bereich fällt sozusagen als Faszinosum X aus der trotz allem total transparenten Ikonographie des Wagnerschen Judenhasses heraus; kategorisch bestreitet der Faszinierte, dass das antisemitische Programm durch faszinierende ästhetische Strukturen und Darstellungsformen irgend verändert, modifiziert, gebrochen oder verschoben werden könnte. Unvermittelt – und damit unbegriffen – bleiben die Unzweideutigkeit der verwerflichen Lehre und das abgründige Rätsel der Musik nebeneinander stehen. Sie können nicht einmal als Widerspruch, als Konflikt gefasst werden. In Abwandlung der Verse von Schuhmachermeister Sachs ließe sich insofern von diesem Buch sagen: »Es klang so neu – und war doch so alt.«

Anderes bleibt durchaus bedenkenswert. So zeigt Weiner, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Intensitätsgraden eine Imprägnierung von Kunsterfahrung mit dem kulturellen Code des Antisemitismus gang und gäbe war.18 Vorstellungen über die physiologische Andersartigkeit »des« Juden, über seine Sprache, seine sexuellen Eigenheiten, dass er nach Schwefel stinke, eine schrille Stimme habe, eine Hakennase und einen Hinkefuß, zu eigener schöpferischer Kulturleistung nicht fähig sei, sondern nur die der anderen imitieren könne usw., waren in einem Ausmaß verbreitet, das eine antisemitische Lesart von Wagners Musikdramen wesentlich mit ermöglicht hat. Im Gefolge dieser vorbewussten Imprägnierung konnten antijüdische Klischees oder Anspielungen wie nebenbei transportiert werden, ohne ausdrücklich als solche gekennzeichnet zu sein. Wenn man heute liest, wie selbstverständlich etwa Gustav Mahler von Mime als einem Juden19 oder Hans von Bülow von »typisch jüdischer« Musik sprachen20, ist man verblüfft bis zur Ungläubigkeit. Stand nicht bis vor kurzem noch in allen einschlägigen Titeln zu lesen, dergleichen habe (ex negativo) erst 1952 mit Adorno angefangen?21 Wenn Weiner sagt, dass die Voraussetzungen, diesen antisemitischen Vorstellungskomplex zu rezipieren, nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts in der Versenkung verschwunden seien, hat er im Prinzip ebenso recht, wie wenn er darauf insistiert, dass ein Werk, das eine solche Rezeption von Anfang an begünstigt hat, nicht einfach nur und nichts als »rein« sein kann. Die vielfach immer noch aggressive Abwehr des heutigen Wagnerpublikums gegenüber Hinweisen, dass in Figuren wie Mime, Alberich, Beckmesser und anderen auch die antisemitischen Ressentiments ihres Schöpfers erkennbar seien, beruht wesentlich darauf, dass uns jenes symbolische Repertoire nicht mehr zur Verfügung steht.

Nur, was ist damit eigentlich gesagt? Hier tut sich ein Problem auf, an dem bislang Wagners Ankläger wie seine Verteidiger gleichermaßen gescheitert sind. Auf der einen Seite lässt sich kaum bestreiten, dass die Musikdramen auf antisemitische Interpretationsmuster hin offen sind, dass sie diesen in unterschiedlichen Graden von Nähe und Ähnlichkeit entgegenkommen. Sich da auf den reinen Wortlaut des Textes zu versteifen22, hilft ebenso wenig wie die rigorose Bindung möglicher Antisemitismen im Werk an beweiskräftige Egodokumente des Komponisten.23 Insofern hat Weiner recht: Wer hier auf zweifelsfreie Gewissheit pocht, agiert bereits aus der Defensive heraus. Nicht objektive Tatsachen können das Ziel sein, sondern allein Plausibilität und perspektivische Evidenz. Aber das ist kein Mangel an wissenschaftlicher Objektivität, sondern die Erkenntnisart, die der künstlerischen Gestaltung solcher Probleme entspricht. Auf der anderen Seite stellt eine historische Dokumentation antisemitischer Klischees noch keine individuelle, ästhetische Kritik eines Musikdramas dar. Der von Weiner beschriebene Mix aus Geheimwissen, Common sense und Ressentiment im antisemitischen Code des späten 19. Jahrhunderts ist wirkungsgeschichtlich bedeutsam, aber kann er die Fragen beantworten, die wir auf der Basis gegenwärtiger Erfahrungen stellen müssen? Belege der Rezeption entbinden nicht von der kritischen Analyse der Werke jetzt und hier; umgekehrt kann, was Rezeption war, durchaus Werk werden. Unser Sprechen über das Werk ist wesentlich ein Effekt seiner Interpretationsgeschichte, es wäre eine Illusion zu glauben, wir könnten uns mit philologischer oder musikanalytischer Gründlichkeit aus dieser Geschichte herausreflektieren. Man kann schlecht sagen, der Parsifal sei über jeden antisemitischen Verdacht erhaben, wenn die Geschichte seiner Auslegung immer wieder von entsprechenden Motiven begleitet wurde. Ideologischer Missbrauch wäre unmöglich, wenn nicht Missbrauchbares in den künstlerischen Strukturen selbst vorläge. Es mag notwendig sein, »auf der Trennung zwischen Werk, Werkintention und Werkrezeption«24 zu bestehen, aber dieser Grundsatz sollte zureichend skeptisch grundiert sein, damit er nicht unter der Hand zur Rechtfertigung eines Defensivrituals gerinnt. Sind solche Trennungen doch unsere eigene projektive Leistung, denkend haben wir nun einmal keine Einzelteile vor uns liegen.25

Weiners Problem ist, dass er das Problem für die Lösung hält. Er glaubt, weil Wagner aus bestimmten deutschen Traditionen eine Vielzahl antisemitischer Stereotype ererbt und in den Dienst seiner extremen Idiosynkrasien gestellt hat, sei der Antisemitismus per se das Maß seiner Werke. Die perspektivenreiche Ausgangslage, die Weiner in Bezug auf Werk und kulturelle Rezeption zunächst so eindrucksvoll skizziert, wird im Verlauf des Buches auf den Kopf gestellt, so als ob dem Kritiker ein über jeden Zweifel erhabener hermeneutischer Generalschlüssel an die Hand gegeben worden wäre. Statt sich auf Wagners hochkomplexe Dramaturgie, ihr Ineinander von Gegensätzen und Konflikten, ihre Faszination für vermischte, »unreine« Beziehungen näher einzulassen (das Gesamtkunstwerk selbst ist ein Gattungsgemisch par excellence und gerade keine schlichte Adoration homogener Volklichkeit) und erst in diesem Licht den Ort antisemitischer Reduktionen und Reinheitsphantasmen zu bestimmen, wiederholt Weiner unermüdlich und ermüdend seine Lieblingsthese, dass Wagner unter dem Einfluss von Strömungen antijüdischen Denkens gestanden habe, die im 19. Jahrhundert weit verbreitet gewesen seien.

Gelegentlich ist auch das interessant. Wenn etwa die spezifische Qualität der Kastrationsbilder im Parsifal mit Blick auf den ikonographischen Sonderstatus des verweichlichten und verweiblichten Juden thematisch wird, kommt ein realer Erfahrungsgehalt dieses Werkes zum Vorschein.26 Der Punkt ist dabei nicht, ob das Wort von der »Wunde, die nie sich schließen will«, tatsächlich auf den Aberglauben vom menstruierenden jüdischen Mann zurückgeht, sondern dass es der Diffusion des Geschlechts, der sexuellen Pathologie, die aus den Protagonisten des Bühnenweihfestspiels vorab Überwältigte macht, ein eindrucksvolles Bild gibt. Im Parsifal werden die Sphären exquisit miteinander vermischt: Klingsor, Amfortas und Kundry leiden alle, je verschieden, an der einen »Wunde«, die ihnen das Geschlecht geschlagen hat. Der Zaubergarten ist die Rückseite der Gralsburg. Und Kundry wirkt in beiden. Diese Affinität der Personen und Orte wird von Wagner bewusst gestaltet, und sie bleibt auch wegen der musikalisch-motivischen Querverbindungen und der Hinweise im Text unmissverständlich. Indem Weiner dies zugesteht27, gerät er in einen folgenschweren Widerspruch zu seiner Ausgangskonzeption. Einerseits kann er gar nicht oft genug behaupten, dass Wagner auch im Werk zuvörderst an der Sicherung eines ethnisch homogenen Deutschtums interessiert sei, was den Abgrund zwischen »Freund und Feind, Artverwandtem und Artfremden« für ihn zeitlebens unüberbrückbar gemacht habe. Sogar der skandalöse Inzest sei Teil des Programms der Reinhaltung eigener Rasse von fremdländischem Schmutz.28 Die Handlungsstruktur des Parsifal indes beschreibt Weiner auf einmal mit kategorialen Mitteln, die letztlich die Differenz von Antisemitismus und Psychoanalyse einziehen. Vermischung, Überlagerung ist aber etwas anderes als aggressive Ausschließung. Ja, der Versuch, Antisemitismus in der physiologischen Realität des Körpers als dem Medium ethnischer Exklusion und Aggression überhaupt zu begründen, kollabiert, wenn er als Vermittlung von Eigenem und Fremdem und als Analyse des Fremden im Eigenen durchgeführt wird. Gewiss bildet eine Phantasie des Unvermischten, in der sexueller und religiöser Reinheitswahn miteinander verkoppelt sind, den abstrakten ideologischen Rahmen von Wagners Spätwerk. Was dieses aber theatral wie musikalisch realisiert, ist die Vermischung und ihre Notwendigkeit, ihr dynamischer Sinn.29

Was ist das für ein Antisemitismus, der seine eigenen Voraussetzungen und Hintergründe aufdeckt? Dessen Agitation von Analyse nicht eindeutig zu unterscheiden ist? Und der das in und von ihm selbst abgewehrte Fremde eher darstellt und thematisch macht als ausschließt? Dieses Ineinander von Differenzierung und Abkürzung, von subtiler Ambivalenz und wahnhafter Simplifikation wird verständlicher, wenn man Übergänge zwischen den antisemitischen Potentialen und ihrem Gegenteil oder Korrektiv zu denken beginnt. Was als militante Attacke auf das Fremde ins Spiel kommt, mutiert zum einfühlsamen Porträt von Randexistenzen (zum Beispiel Alberich); was eben noch die Welt der psychoanalytischen Dekonstruktion atmosphärisch aufzusaugen schien, nimmt diesen Ausdruck des eigenen Unbehagens an der Kultur jetzt scheinbar in ein manichäisches Schema zurück (zum Beispiel Kundry). Mit anderen Worten: Zweideutigkeit bleibt und verstärkt sich sogar, aber Dualismus hat keine Chance mehr. Wenn die Rede von der Hermeneutik des Subtextes einen Sinn machen soll, muss sie sich dieser Erfahrung methodisch stellen. Sie kann nicht so tun, als gebe es bei Wagner eine versteckte, aber gleichwohl distinkte Botschaft, als ließe sich aus der hochgradigen Polyvalenz seiner musikdramatischen Sprache ein (un-)moralisch eindeutiges Programm herausoperieren. Zu schweigen davon, dass ein solches Verfahren schneller, als ihm lieb ist, an einen Punkt geraten kann, wo es sich der Logik des Gegners anzuähneln beginnt nach dem Motto: Der Sachverhalt mag so rätselhaft sein, wie er will, die antisemitische Kontamination steht fest.30

Es bleibt unsinnig, den Parsifal als antijüdische Tendenzoper zu brandmarken. Die Musikdramen sind keine Instrumente der Propaganda und waren als solche auch niemals gedacht. Entsprechende Meinungsäußerungen kann man auf sich beruhen lassen. Trotzdem ist die bürgerliche Kunstethik im Unrecht. Denn die Werke sind ebenso wenig Medien einer höheren Reinigung von Geschichte. Ästhetische Radikalität mag ideologische Absichten unterminieren, aber sie erlöst nicht vom Erdendreck schlechthin. Antisemitismus kann nicht darum schon im Parsifal als abwesend oder aufgehoben gelten, weil dieses Werk eine subtilere Struktur aufweist als, sagen wir: die Nürnberger Rassengesetze oder weil seine Mitleidsmoral fraglos dem Terror der Nazis widerspricht. Dass Elemente antisemitischer Paranoia camoufliert noch dort spürbar bleiben, wo Wagner »Freud antizipiert«, ist im Grunde sogar verstörender – und darum in der Sache gewichtiger – als die offenen Hasstiraden der Schriften und Briefe. Denn es gestattet uns im Gegensatz zu diesen keine klare moralische Distanznahme mehr. Gefordert ist ein Verständnis des Antisemitismus als ein Verständnis des Eigenen. Ein »Bruder Wagner« ist an der Zeit.

Über einen Punkt in Weiners Buch darf man sich deshalb besonders wundern: Der Antisemitismusforscher hat keinen Antisemitismusbegriff. Der Jünger Sander L. Gilmans untersucht allein »Körperbilder«: »In Wagners Welt war der Körper der Ort, an dem sich die Identität ablesen ließ. [...] Aus Körpern und Körperkontrasten las Wagner die Merkmale alles dessen heraus, was er in der modernen Welt verachtete«.31 Der Körper, so lesen wir, fungierte sowohl als Metapher wie als physiologische Realität, als Medium ethnischer Phantasien und als reale Beglaubigung der Themen und Probleme, die mit ihm metaphorisch assoziiert waren. In diesem Sinne besteht für Weiner eine Verbindung zwischen Wagners ideologischem Ideenspektrum und seinen Werken, d.h. den Texten, Regieanweisungen und der Musik. Ohne Frage ist mit »Körper« ein wichtiger Aspekt des Themas benannt. Wagners Judenfeindschaft ist nicht auf die Sprache zu reduzieren, physische Idiosynkrasie vielmehr das, was ihn schon früh von den antisemitischen Allgemeinplätzen seiner Zeit unterschied. Nur rechtfertigt das kaum, diesen Aspekt nun im Gegenzug zu einem Ganzen zu stilisieren, das alle Aspekte in sich einbegreift. Erstens ist nämlich die Frage, ob es sich beim Antisemitismus überhaupt um ein ursprüngliches und inhaltlich eindeutiges Syndrom handelt oder nicht vielmehr um einen abgeleiteten bzw. zusammengesetzten Komplex. Ist er die Plattform oder die Planke, die eigentliche Botschaft oder ein Vehikel für andere, welche verschwiegen werden? Geht es bei den Reinheitsphantasien tatsächlich um »die Juden« oder nicht doch eher um (Phantasien über) Kot, Kastration und Menstrualblut? So wie Weiner auf »Körperbilder« setzt, ist die Frage je schon zugunsten der primären Regung und der Plattform entschieden. Körper ist für ihn wie ein metaphysisch Letztes, die Superplombe für alle offenen Stellen der Kultur. Ein solch ungebrochenes Vertrauen in die Objektivität physischer Erscheinungen leuchtet aber umso weniger ein, als gerade Gilmans Forschungen zur Stereotypik westlicher Seelenkultur, an die Weiner so unverbrüchlich anschließt, die Frage nach den politischen und ökonomischen Bedingungen von Körperbildern, die sie konstant ausklammern, so unausweichlich machen.32 Wenn man die Dimension des Metaphorischen ernst nimmt, darf man nicht bei der Beschreibung von Bildern des Physischen im engeren Sinn stehen bleiben, sondern muss übergreifende Strukturen analysieren. Zweitens verblüfft es, dass Weiner, der doch die unterschiedlichsten Quellen herbeizitiert, wenn sie seinen Thesen auch nur irgendwie nützlich scheinen, die Linie des linken Antijudaismus und damit die historischen Artikulationen zur »Judenfrage« systematisch unerwähnt lässt. Antisemitismus gilt ihm gleich der ethnischen Diskriminierung des fremden Körpers, seine Funktion in der modernen kapitalistischen Gesellschaft hingegen ist tabu, und zwar das ganze Buch hindurch. Sogar Wagners frühe Begegnung mit Moritz Schlesinger in Paris wird im Lichte der späteren rassistischen Idiosynkrasien interpretiert – obwohl die Episode dafür keinen Beleg hergibt, aber einige für die Vermutung, dass Wagner den jüdischen Musikverleger nicht anders denn als Personifikation des ökonomischen Äquivalenzprinzips wahrgenommen hat und wahrnehmen konnte. Weiner stellt zwar völlig zu Recht fest, von den Erfahrungen Wagners in Paris rühre »sein endloses In-Verbindung-Bringen von Juden mit den Anfängen der Kulturindustrie her«.33 Aber das gilt ihm nur als weiterer Beweis für das Eigentliche des ethnischen Hasses – als ideologische Form eines an sich triftigen kapitalismuskritischen Motivs ist es für ihn ohne Belang.

So deplaziert es sein mag, Wagner zum Vertreter »herrschaftsfreier Kommunikation« zu ernennen, so indiskutabel bleibt der Versuch, ihn auf den Herold eines musikdramatischen Kreuzzuges gegen die Juden zu reduzieren. Die Extreme sind unwahr: Wagner denkt in Kategorien universalistischer Weltveränderung und der Biologie von Freund und Feind. Was bei Jens Malte Fischer im Mittelpunkt steht, das Zugleich von linkem Antijudaismus und (proto-)rassistischem Ressentiment, von »emanzipatorischen« und »anthropologischen«Voten, die sich gegenseitig das Feld streitig machen, diese ganze dramatische Inkonsistenz des Wagnerschen Antisemitismus, deren Lücken sich mit den schlimmsten Dingen stopfen lassen, kommt bei Weiner auch nicht ansatzweise als theoretisches Problem zur Sprache, geschweige denn, dass die Folgen für die Struktur der Musikdramen in Rechnung gestellt würden.

Nun ist, wie gesagt, keineswegs zu bestreiten, dass mit »Körper« etwas Wesentliches von Wagners Kunst getroffen ist. Immer wieder spricht der besessene Präsentist Wagner über ästhetische und musikalische Zeitprozesse in Körpermetaphern. Auch hat seine Klangdramaturgie Musik als Medium der Darstellung flüchtigster physischer Regungen, Reize und Atmosphären überhaupt erst erschlossen. Nietzsche wiederum liebte es, von Ästhetik als Physiologie zu reden und mit Nachdruck auf Erfahrungen körperlicher Fragmentation und Zentrifugierung beim Hören Wagnerscher Musik hinzuweisen. Weiners Interesse für diesen Bereich ist also verständlich, und es bleibt anzuerkennen, dass er sich um ein Verständnis musikalischer Sachverhalte bemüht.34 Nur setzt er dabei methodisch in geradezu absurder Einseitigkeit alles auf das Sehen, d.h. auf die Wahrnehmung des anderen Körpers als eines abgegrenzten gestalthaften Gegenübers, das ich entweder als »mir gleich« – und daher anziehend – anerkenne oder aber als »anders« – und deswegen abstoßend – zurückweise, von dem ich aber in jedem Fall distanziert bin.

Demgegenüber wird die ekstatische, entgrenzende, nichtdingliche Körperlichkeit des Klangraums der Musik auf ein sekundäres Moment heruntergestuft. Sie ist für Weiner lediglich Funktion des Ausdrucks monadischer Einzelgestalten, kein autonomes Weltmedium geschweige denn eine Sphäre des Dionysischen. Obwohl sich für diese Position nur die wenigen wenngleich prägnanten Textbelege (Siegfried gegen Mime, die Rheintöchter gegen Alberich) beibringen lassen, bleibt das Sehen dem Hören, das Auge dem Ohr en bloc vorgeordnet – als der Ort, der die Identität des Ganzen herstellen soll: »Die Musik [...] ist in Wagners Gesamtkunstwerk die symbiotische akustische Entsprechung zu den visuellen Eindrücken; das Hören erfüllt dieselbe Funktion wie das Sehen. Die Musik ist eine Kunst, die an einen anderen Sinn als das Auge appelliert – jedoch vor allem, um dieselben physiologischen Zustände zu vermitteln, die das Auge durch visuelle Eindrücke erkennt.«35

Sehen wir davon ab, dass Weiner die »semantischen Intentionen« der Musik abwechselnd »in der physischen Realität des Körpers« und dann in der »körperlichen Bilderwelt des 19. Jahrhunderts«36 gründen lässt, ohne über diesen Kategoriensprung je ein Wort zu verlieren. Noch wichtiger ist: Wie kann man die Musik so falsch hören? Und die Ästhetik des Musikdramas derart sinnwidrig reduzieren? Natürlich gebraucht Wagner in den Zürcher Kunstschriften dezidiert häufig Metaphern des Sehens. Sinn erhält diese Praxis aber erst im Kontext seiner Polemik gegen die Tradition. Selbstverständlich werden das szenische Geschehen und damit die visuelle Präsenz und Ausstrahlung agierender menschlicher Körper in jenen Texten nachhaltig aufgewertet: dies aber primär im Gegensatz zu einem Ideal von Oper, das, wie Wagner glaubt, »absolut« von der Musik und vom Sologesang her – und damit gegen Theater und Drama – gedacht ist. Von daher mögen sich manche Äußerungen im ersten Moment so lesen, als sei im Kunstwerk der Zukunft das Klangliche dem Sichtbaren unterzuordnen oder jedenfalls im Hinblick auf dieses zu funktionalisieren. Allein, eine solche Lesart verbleibt völlig im Bannkreis von Wagners eigener polemischer Situation. Über den damit verkoppelten, uralten Streit um die Priorität von Musik oder Drama im Musikdrama ist die Forschung, mit Verlaub, hinaus. Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass die Zürcher Schriften keineswegs in der Polemik gegen die »absolute Musik« aufgehen, sondern zugleich von einem romantischen oder rousseauistischen Ursprungsmythos dieser Kunst durchzogen sind – was nicht bloß eine geistesgeschichtliche Randnote, sondern mehr noch einen strukturalen Sachverhalt des Werkes benennt. Weiner ist hier schlicht nicht auf der Höhe der Diskussion. Paradoxerweise muss man sich der »vollkommenen Hörwelt« (Nietzsche) der Werke nicht einmal in actu aussetzen, um zeigen zu können, dass bereits auf der Ebene der Theorie die visuellen Körpermetaphern von Figurationen und Phantasmen des Klanglichen überlagert bzw. unterlaufen werden.

Die Musik ist bei Wagner, ob nun mit oder ohne Schopenhauer, »Funktion« und »Ursprung« des Dramas, sie bringt das Drama aus sich hervor, wie sie in das Wechselspiel seiner Teilsysteme eingeordnet ist. Und insofern sie gewissermaßen als Ursprung auftritt, wird in ihr und durch sie eine raumhafte Körperlichkeit inszeniert, die gewissermaßen weiter draußen ist als jeder gegenständliche Leib Einzelner, in der Stimmen wie von außen gehört werden und Grenzen physisch konturierter Personalität sich verwischen oder verloren gehen. Eine Analyse des Wagnerschen Antisemitismus, die sich über diese Ekstatik des Klangraums hinwegsetzt, weil sie ein Konzept antisemitischer Körperbilder, das jenseits klarer Subjekt-Objekt-Grenzen keine Basis hat, wie ein erstes Prinzip durchzuziehen sucht, verbaut sich den kategorialen Zugang zum wichtigsten Medium des Werks. Selbst angesichts dessen, dass die Auseinandersetzung mit der »Urlandschaft des Faschismus« (Adorno) ein nach wie vor dringliches Desiderat der Wagnerforschung darstellt, ist ein solcher Preis zu hoch – abgesehen davon, dass der Autor so ein weiteres Mal Möglichkeiten, seine eigene Faszination von Wagners Musik besser zu verstehen, von sich fernhält.

Dass solche Aufklärungsarbeit durchaus gelingen kann, sei wenigstens anhand zweier, sehr unterschiedlicher Beispiele angedeutet. Das eine ist jüngeren Datums, das andere fast ein Jahrhundert älter. In seiner Arbeit über den Parsifal verzichtet Stephan Mösch bewusst auf große ideologiekritische Formate, zeigt dafür aber in einer schmerzlich detaillierten Analyse von Dokumenten, wie tief die antisemitischen Ressentiments, die das Verhältnis von Wagner respektive Cosima zu dem Rabbinersohn Hermann Levi immer wieder beherrschten, in ästhetische und aufführungspraktische Zusammenhänge hineinspielen. Nur dass diese sich weder auf interne Vorgänge des Werkes noch auf ideologischen Missbrauch von außen säuberlich eingrenzen lassen. Das ist der Punkt: Die Irritation beginnt, wenn die Schemata unscharf werden, wenn das hie Kunst und dort Realität, zuerst das Werk und dann die Rezeption, sich nicht mehr halten lässt. Mösch belegt auch, wie selbstverständlich gerade der Parsifal bis ins 20. Jahrhundert hinein im Sinne eines Kampfs zwischen Judentum und Christentum rezipiert worden ist.37

Bedeutsames zum Thema lässt sich auch dem zu Unrecht vergessenen Wagnerbuch von Paul Bekker entnehmen.38 Bekker zweifelt keine Sekunde lang, dass das Werk Wagners antisemitische Porträts enthält. Aber das ist in gewisser Weise »kein Problem« für ihn. Er reagiert darauf nicht moralisch oder politisch, sondern ästhetisch. Auf eine heute kaum mehr nachvollziehbare Weise fragt er geradewegs nach dem künstlerischen Grund solcher Porträts. Nach ihm hat das keiner mehr getan, auch und gerade nicht adorno, der sonst weitgehend polemisch pointiert, wofür Bekker lange vor ihm die Worte fand. Es scheint, dass der Nationalsozialismus diese Fragerichtung für uns zum Verschwinden gebracht hat, sie posthum als anrüchig, als verdruckstgefühlige Rechtfertigung, zumindest Verniedlichung des Antisemitismus selbst erscheinen ließ. Sie wurde durch ein moralisch-historisches Verdikt ersetzt, das seitdem am Anfang jeder Beschäftigung mit dem Thema steht. Die Frage ist nun stets von neuem die, wie eine Kritik, die einmal so weit »außen«, nämlich mit dem Blick auf eine Menschheitskatastrophe beginnt, in die Kunst wieder zurückfindet, und ob sie solches überhaupt kann. Weil das eine nahezu aussichtslose Aufgabe darstellt, sind extreme Lösungen so beliebt: Philologie um jeden Preis vs. Propaganda pur.

Es war noch nie ehrenrührig, an einer großen Aufgabe zu scheitern. Erstaunt sein darf man allenfalls darüber, wie Marc A. Weiner seine eigene Theorielosigkeit für kritische Aufklärung halten konnte. Manche seiner Beobachtungen bleiben diskutabel. Die Diskussion steht am Anfang.