Johanna Dombois

Wagner und die Neuen Medien Zehn Thesen

§ 1: Der Zuschauer sieht mehr, als die Oper ihm zeigt

2011, Tinguely-Museum Basel: In der Ausstellung Under Destruction wird dem Publikum eine der performativen Arbeiten Jean Tinguelys vorgestellt (die »Flaschenzertrümmerungsmaschine«, Rotozaza II). Auf einer der Bänke in der ersten Reihe ein Vater und ein Kind. Wie angekündigt setzt sich die Maschine Schlag 15:30 in Bewegung, die Aktion beginnt. Der Vater hebt seine Videocam auf Augenhöhe, klappt den Kontrollmonitor hoch und schaltet auf Aufnahme. Im selben Moment greift das Kind in eine Tasche, es holt ein Spielzeugschaf daraus hervor, drückt es kurz, demonstrativ, an sich und hält es dann so hinter den Monitor der Kamera des Vaters, dass dieses via Übertragungsbild »beobachten« kann, was auf der Bühne vor sich geht. Bewegungen wie mit einer Handpuppe – vorne wird eine Flasche zerschossen, hinten zuckt das Tierchen zusammen, das Kind lacht etc. Es sind folglich vier Betrachter, die die Szenerie verfolgen: der Vater, die Kamera, das Schaf sowie das Kind durch die Augen des Schafes.

Blendenwechsel. Spielzeit 2007/2008, Theater Freiburg, Neuinszenierung der Walküre (Regie: Frank Hilbrich). Zum Orchestervorspiel des I. Akts ist eine Videoprojektion in Szene gesetzt worden, die dem beklemmenden Schub der Wagnerschen Partitur an dieser Stelle in nichts nachzustehen scheint: Gefilmt als Retrospektive im Zeitraffer sieht man zunächst den Knaben Siegmund in dem Augenblick, da seine Familie überfallen wird, dann, wie er zur Flucht ansetzt, aus Angst vor seinen Häschern in Spurt fällt, welcher zur Überlebensform mutiert – die Bildfrequenz erhöht sich – der Knabe reift während der Beschleunigungsattacken zum Mann heran – psychotische Motion-Blur-Effekte – der Wald, die Lichtungen, die Täler rasen vorbei – Morphing der Lebensalter – die Zeit selbst überschlägt sich, indem sie filmtechnisch verknappt wird. Wir sehen einen Entwicklungsroman, der in zwei Minuten rund zehn Jahre durchmisst, und erst die Möglichkeit, per Videozuspielung das panische Durchqueren von Raum und Zeit darstellen zu können, das uns Siegmund der akuten Aufführungssituation entgegentreibt, scheint diese Szene zum ersten Mal strukturell verständlich zu machen. Hilbrichs Arbeit wirkt wie ein Update der Wandeldekoration des Parsifal.

Dann jedoch kommt die Sollbruchstelle. Notwendig muss Siegmund aus dem Film heraus-, in den realen Bühnenrahmen eintreten. Während die rotativen Formeln der Musik eine Klimax gerade durch mehrere brachiale Stockungen erreichen und somit insinuieren, dass der Wälsung aus dem gestreckten Lauf heraus auf der Schwelle vor Hundings Hütte, man möchte fast sagen: spektakulär und punktgenau zusammenbricht, begreift Hilbrich die musikalischen Frakturen bloß als Entschleunigungsformeln, die ihn dazu bringen, seine Videosequenz am Schluss motorisch auszudünnen, zu verlangsamen und schließlich ganz abzublenden zugunsten einer Figur, die nicht ins Haus hereinfällt, sondern nur mehr hereinschleicht. War Siegmund im Film atemlos, auf der Bühne ist er atemleer. Im Grunde schummelt er sich jetzt über die Türschwelle – die beschleunigte Vergangenheit wird einer lahmenden Gegenwart preisgegeben. Und zwischen diesem und jenem liegt ein Verlust, der mehr enthält als einen inszenatorischen Lapsus. Mit Hilbrichs choreographischem Rückzug erschlafft der medientechnologische Zugriff in toto. Das Video, das in die Welt der Oper einzubrechen suchte, fährt in dem Moment aufs Riff, da es ihre »Realität« behaupten soll. Die Motivverzweigung der Medien entlarvt sich als Effekt oder zumindest als Fanal ohne Echo und bleibt bezeichnenderweise auch die einzige Passage nicht nur in dieser Inszenierung, in der eine Auseinandersetzung mit Neuen Technologien stattgefunden hat.

Sprung zurück. Zwischen Freiburg im Breisgau und Basel mag an Kilometern wenig liegen, sozialpsychologisch liegt in unserem Fall dazwischen eine Welt. Es ist eine Parabel: Diesseits der Grenze das Ausweichen vor einer dauerhaft gespaltenen Wahrnehmung, ja, Ausdünnen von Wahrnehmungsfaktoren, die schon einmal als bekannt vorausgesetzt worden waren. Jenseits der Grenze ein inmitten verschiedenster, ältester wie neuester Medien aufgespanntes Wahrnehmungsfeuerwerk. Es stellt sich die Frage, warum wir der Oper nicht an Mediendichte zugestehen, was im täglichen Leben mittlerweile der kleinste Zuschauer spielend erledigt?

§2: Medienzivilisierung, nicht Medienverwahrlosung

Gerade das Werk Richard Wagners scheint für Neue Medien und Technologien disponiert, die wechselseitigen Bezüge sind vielfältig und tiefgreifend. Das reicht von Wagners eigenen bühnentechnischen Erfindungen über die Tatsache, dass, wie Friedrich Kittler nachgewiesen hat, die Musikdramen in musikalisch-dramaturgischer Hinsicht Vektoren einer modernen Medienästhetik darstellen, bis hin zu inszenatorischen Patterns für die Opernbühne. Theoretisch wie praktisch verdient diese typisch Wagnersche Mediengeschmeidigkeit eine Auseinandersetzung, die über Gag, Allüre und Jargon hinauszielt.

Dafür ist zuallernächst einem Generalverdacht zuvorzukommen. Es ist weder nötig noch wünschenswert, das gesamte Werk Wagners mit Hilfe neuer Mittel, Methoden, Formate oder Techniken auszuinszenieren. Nicht das ganze Werk muss zwingend durch Cyberhöhlen, Internetforen und VJing-Sessions hindurchgeschleift werden, bloß um es mit einem ohnehin fragwürdigen Zeitgeist abzusättigen. Weder kann es darum gehen, Wagners Œuvre durch die Datengalaxis zu schicken noch es in der Totale virtuell wiederzuerfinden. Gute Gründe gäbe es sogar, ein solches Vorhaben in sich für unkünstlerisch zu halten, denn vor allem der Hype pauschalisiert. Geradewegs könnte ich mir vorstellen, die Waldeinsamkeit Siegfrieds in einem Naturtheater am Land in Szene zu setzen. »Neu« daran wäre das jetzt betont veraltete Medium, weil es uns ein Spielformat liefert, das im Verhältnis zum Status quo des Opernbetriebs experimentell dasteht und erst so zu einer Sicht der Dinge führt, die für die Beschaffenheit dieser Szene adäquater ist als die, die der jüngste Marktschrei uns oktroyiert. »Neu« ist immer nur relativ zu dem, was die Umgebung als »alt« oder »tradiert« wiederzuerkennen sich geeinigt hat. Das Neue an den Neuen Medien ist insofern nicht um des Neuen willen interessant.

Wohl aber um des Medialen willen. Denn Tatsache ist, dass Wagners Werk medientechnische Angebote macht. Nicht-Linearität, Interaktivität und Biofeedback, Parallelweltlichkeit und Projektionstechnologie, Simulation und immanente Selbstreferenz – all dies mag neutönerisch klingen, de facto gehört es in den Einzugsbereich dessen, was Wagner selbst künstlerisch präfiguriert hat.1 Wir sollten uns deshalb der Möglichkeit nicht entziehen, diese Angebote auch angemessen weit an die Rampe zu spielen. Die Mittel dazu sind zahlreicher und die Gelegenheiten günstiger denn je. Mehr noch: Die einzige Reform, die vollkommen im Sinne Wagners wäre, ist die mediale Reform. Sie nicht durchzuführen oder nicht ernsthaft zu durchdenken, brächte uns in den Verdacht, dem Wagnerschen Werkgedanken im Grundsatz untreu zu sein. »Werktreue« kann eben auch besagen, einem Stück jenes inszenatorische Rüstzeug zukommen zu lassen, auf das es implizit bereits verweist, zum Zeitpunkt seiner Entstehung explizit aber noch verzichten musste. Beispiel »Wagner und die Glühlampe«:

Nur zwei Jahre trennen den Parsifal, Wagners Weltabschiedswerk auch in technischer Hinsicht, von der Patentierung des industriell nutzbaren elektrischen Glühlichts. Sämtliche Effekte, die Wagner selbst mit Argand-Leuchten für die Lichtdramaturgie in Bayreuth durchgeführt (und im Klavierauszug auch notiert) hat2, lassen darauf schließen, dass er Elektrizität künstlerisch avisiert hat, ohne über deren technische Mittel zu verfügen. Man könnte sich folglich auf den »historischen« Standpunkt stellen, den Parsifal mit Hilfe von Glühlampenlicht zu inszenieren, sei dem Werk gegenüber untreu. Wo aber blieben dann Wagners Innovationspotential, sein Witterungssinn, seine technisch-mediale Fühligkeit, die über den historischen Bestand hinausdrängt? Darin liegen Antworten zur Haltbarkeit von Licht, Vernetzbarkeit, Flussspannung und Lichtausbeute je schon bereit, und nur weil sie noch Möglichkeiten sind, kann nicht bedeuten, dass sie der Verwirklichung entbehren müssten. Plausibler scheint, gerade dem Parsifal die für ihn maßstäblich neueste Lichttechnik zuteil werden zu lassen. Im Moment entspräche das LED-basierter Verarbeitung. NB: Die Gralslämpchen für die Uraufführung 1882 in Bayreuth hatte die Fa. Siemens gestiftet. Das meint, Neue Medien sind auf struktureller Ebene relevant. Unsere Prospekte und Maschinen allein machen nicht das Medienzeitalter aus. Erst die tausendfältigen Ein- und Ausgabe-, Übertragungs-, Verteilungs-, Rasterungs- und Kommandoprozesse wirken geschichtsbildend und schreiben sich so in unsere alltäglichen Lebensvorgänge und Entscheidungsfindungen ein. Unhintergehbar ist, dass unser Stil sich verändert, sobald sich unsere Mittel verändern. Das fängt mit naiver Zahlengläubigkeit an und endet in der Vorstellung, dass unser Gehirn einem Computer vergleichbar sei.3 Diese neuen Strukturen zu negieren hieße, sich selbst zu negieren. Sie mögen einem schmecken oder nicht. Im einen wie im andern Fall ist es unersetzlich, dass wir uns auch in der Oper mit Medientechnologie beschäftigen. Ihr Passepartout ist groß und repräsentativ genug.

Das beinhaltet, dass digitale Phänomene mit analogen Methoden nachgeschaffen werden können. Sie werden dadurch nicht notwendig undigital. Wenn die erste Partiturseite des Rheingold noch als Scan die Textur der ersten Partiturseite des Rheingold transportieren kann, bleibt auch die ästhetische Virulenz, sagen wir: eines Barcode erhalten, wenn dieser mit Ölfarben auf eine Leinwand kopiert würde. Ähnlich könnte ich mich, um die Gittertechnik der Wagnerschen Leitmotive darstellbar zu machen, diverser Vektorgrafiken und Wireframe-Einstellungen für szenische Aufbauten bedienen. Diese auf einer traditionellen Bühne etwa mit Hilfe von Schnür- und Gummibändern nachzubilden, nähme ihnen nichts von der durchs digitale Milieu erzeugten und Wagners Kompositionstechnik vollkommen angemessenen architektonischen Komplexion. Ihre Struktur verbleibt digital, einem digitalen Denken verpflichtet, die Schaltgatter könnten noch aus Zuckerfäden gesponnen sein.

Immer wieder dreht es sich darum zu begreifen, was uns verwandelt, selbst auf die Gefahr hin, dass wir dafür interpretatorisch neue Umwege gehen müssen. Vor allem beinhaltet es, dass wir gegen Technik »an sich« keinen Ideologievorwurf mehr erheben sollten. Gegen Technik, allzumal gegen Medientechnik zu sein, ist nur eine wiederaufgebrühte Form der Mystifikation. Wer den aktuellen Bedeutungsgrad der Medien plattredet, begeht genau jenen Fehler, den er einer verrohenden Mediengesellschaft vorzuwerfen sucht. Es hilft nichts, unsere Lage wird sich verändern. Wir können einzig entscheiden, ob mit oder ohne uns. Für unsere Unentschlossenheit können die Medien selbst nichts, und dass sie im Theater gegenwärtig zum Modernitätsbeweis werden, muss nicht automatisch das Schlechteste bedeuten, bloß weil mancher die Romantik in falscher Erinnerung hält. Inszenatorisch geht es am Ende nicht um »Aktualisierung«, so wie wir sie von Regietheater-Szenarien her kennen, vermengt mit tagespolitischen Stellungnahmen. Zum einen weil die Signifikanz dessen, was heute »aktuell« genannt wird, sich gerade selbst in dem Maße überlebt, wie die Ansprüche des Regietheaters daran verrauchen. Zum anderen ist es mit Blick auf die derzeitige Lage der Oper schlicht nicht politisch genug, allein den News-Tickern hinterherzuinszenieren. Oper kann erst politisch sein, wenn sie alternative Produktionsformate zulässt, entwickelt und positioniert. Die Frage nach der Technik fällt ineins mit der nach dem Politischen. Es geht um mediale Adäquanz. Mit anderen Worten um die Überlegung, wie wir Wagners Werk in angemessenen Darstellungsformen präsentieren können. Solchen, die uns wie ihm entsprechen.

§ 3: Die Neuen Medien sind die alten Medien in neuer Gestalt

Was sind »Neue Medien« überhaupt? Bzw.was sind sie für das Musiktheater? »Neu« ist ein uraltes Wort und fadenscheinig. Die Oper selbst hingegen, die manchem wie Methusalem vorkommt, ist taufrisch im Vergleich zu anderen Kunstrichtungen, der Malerei etwa, die rund 35.000 Jahre alt ist und nicht süße 400. Offenbar stehen wir vor einer Schieflage.

Rein technisch gesprochen lässt sich zunächst festhalten, dass man unter Neuen (oder auch: erneuerten) Medien apparatebasierte Kommunikationssysteme versteht, deren Grundlage das Digitalisat ist. Der Binärcode ist in seiner rudimentären Form ein Übertragungsprotokoll: Er speichert, sortiert, korrigiert, transformiert und distribuiert analoges Material in digitalen Maschinen bzw. setzt Produkte frei, deren technische oder künstlerische Notwendigkeit er auf Dauer selbst erzeugt. Im Klartext, immer noch rein technisch gesprochen: Kein Neues Medium ist undigital. Die Oper hat deshalb erst einmal gar nichts mit Neuen Medien zu tun.

Verdächtig ist nur, dass sie selbst hart an dieser Auslassung arbeitet. Ihrem ästhetischen Ehrenkodex scheint es zu entsprechen, in wirklich neuen Dingen aktiv nichts zu tun. Sowohl in der Sparte Produktion als auch in der der Rezeption herrscht im Opernbetrieb zurzeit ein amykläisches Schweigen darüber, was es heißt und zu welchem Ende man Neue Medien in Gebrauch nimmt. Man könnte die Oper eine Materialschleuder nennen – in den Betriebsbüros der großen Häuser surren die neuesten Laptop-PCs, die Bühnentechniker lächeln über die alten Walkie-Talkies und verständigen sich längst über Cellphone oder Voice-Over-IP, die Bühnenmaschinerien werden von Regelwerken angetrieben, deren Leistungsvermögen einen Vergleich mit jenen der Bank of America nicht zu scheuen braucht, und über 1000 Scheinwerfer stehen jeden Abend in Position. Auf der Bühne aber, vor allem der Bühne fürs Repertoire, sehen wir: eine Videoinstallation, einen Fernsehmonitor, eine Telefonanlage (unverkabelt), ein Bügeleisen (kalt), eine Waschmaschine (leer), dann wieder ein Video, drei oder vier Bildschirme, zwei Handkameras, ein Video usw. Damit soll nicht gesagt sein, dass das uninteressante Stilmittel wären. Sie sind bedienungsfreundlich, kostengünstig und vor allem reaktionsschnell. Nur: Neu sind sie nicht. Höchstens sind es alte Neue Medien, und es kommt mir mit ihnen oft so vor, als stünde backstage ein Raketenpark bereit, um frontstage eine Zigarette anzuzünden. Der Film ist ein Leitmedium seit über einem Jahrhundert, Videokunst gibt es seit 50 Jahren, seit 20 wird sie in Museen archiviert. Es ist insofern geschichtsblind darüber zu streiten, ob eine Inszenierung heute zu modern sei, nur weil sie mit Videosignalen arbeitet. Eher müsste man sie als Beitrag zur Medienarchäologie würdigen. Als Fossil aus dem Analogzeitalter. Dann aber wären wir wieder nicht auf der Höhe der Zeit, und die Not, die einem gegenwärtig zuwächst, weil selbst der private Alltag von codierten Steuerungsmechanismen durchpflügt wird, fände auf dem Theater keine Entlastung mehr, weil keine Anverwandlung geschieht. Tilmann Buddensieg hat den Fehler in unserem System auf den Punkt gebracht: »Wir wissen mehr über die Produkte der Keramikindustrie im Perikleischen Athen als über die Formgestaltung der Elektrogeräte im Wilhelminischen Berlin.« Von der digitalen Revolution ganz zu schweigen. So grassiert ein medialer Analphabetismus konträr zum überbordenden Medienkonsum frei nach dem Motto »Wir wollen vom Wasser nichts wissen, in dem wir ertrinken«, und diesbezüglich wirkt es symbolhaft, dass auf der Opernbühne die Leinwand momentan ein so häufig gebrauchtes Mittel ist. Sie ist flach – »film« bedeutet im Englischen ursprünglich »das Häutchen«, eine dünne Schicht –, und sie stellt damit aus, wie wenig durchgreifend unser Technikverständnis wirklich ist.

Tatsächlich stehen wir vor einer Schieflage. Die Oper auf der einen Seite ist jünger, als sie uns weismacht. Fragen wir auf der anderen Seite nach dem »Neuesten« an den Neuen Medien, bekommen wir nach einem modischen Fachvokabelcocktail Methoden an die Hand, die durchaus ein historisches Fundament besitzen. Virtual und Realtime Environments, Augmented Reality und Augmented Virtuality, Computergrafik, Netzkunst, Software-, Satellite- und Noise-Art, Microblogging, Web 2.0 und Web 3D, Cloud-Computing, Spieltheorie, Game Culture – all diese Module und die aus ihnen entstehenden Hybridformen der »Mixed« und »Multiple realities« setzen uns instand: a) räumliche Fluidität und dynamische Architekturen und b) zeitliche Tiefe auf die Bühne zu bringen. Sie bieten also einen Fundus an Differenzierungsmöglichkeiten. Und diesen will ich gerade für das Werk Wagners prüfen, weil er von ihm mitentwickelt wurde. Auch bei Wagner geht es plurimedial um die Erzeugung und Darstellung von Realitäten. Ergo: Im Gegensatz zur Oper sind die Neuen Medien älter, als sie uns weismachen. Gewiss, rein technisch sind sie so wie heute noch nie dagewesen. Rein technisch aber lässt sich nicht bis zum Ende sprechen. Denn das Technische ist nicht alles an der Technik. Kleist in seiner Marionettentheater-Schrift: »Er erwiderte, daß wenn ein Geschäft, von seiner mechanischen Seite, leicht sei, daraus noch nicht folge, daß es ganz ohne Empfindung betrieben werden könne.«4 Essentiell sind die den »neuen« Ausdrucksformen zugrundeliegenden Fabeln, Bedürfnisse und Psychopraktiken. Und dort nistet hinter dem Digitalen eine Welt, die noch sehr viel älter ist als die, die man quasi-nostalgisch derzeit die analoge nennt. Wie schon bei Wagner gehört zur Technik ein Illusionsbegriff, zum Apparat die Imagination, zum Schaltplan der Mythos. In den Neuen Medien muss darum das Tradierte freigelegt werden, sofern das Alte wirklich erneuerungsfähig bleiben soll.

§ 4: Multimedia ist nicht Medienkunst

Fraglos liegen das Klügste und das Dümmste nirgendwo so dicht beieinander wie in den medialen Metaversen. Dass eine virtuelle 3D-Rekonstruktion der Berliner Mauer (Virtuelle Mauer / ReConstructing the Wall, Museum für Kommunikation Berlin, 2008) historisch betrachtet suboptimal ist, ließe sich diskutieren unter der Prämisse, dass manch einer ästhetisch daran noch etwas finden mag. Dramaturgisch indes ist es inakzeptabel, auf diese Art einen »Erinnerungsraum zur Verfügung (zu stellen), der es ermöglicht, [...] Vergangenheit zu erforschen«.5 Der Coup de théâtre des Internets war ja, dass es schrankenlos sei. Per Definition kennt das Web keine Mauern. Und mögen Avatare selbst des (virtuellen) Schusswaffengebrauchs fähig sein, sterben können sie nicht. Es wirkt insofern nicht nur seelentaub, sondern aggressiv verdummend, auf den Schauwert eines Objekts zu setzen, nur weil dieses gut ausschaut, sobald es medialisiert ist. Negiert Medialisierung durch die Herstellung einer visuellen, akustischen oder auch taktilen Oberfläche das, was ihr Objekt im Kern ausmacht, fruchtet alle Medienarbeit nichts. Diese setzt sich dann genau über den Gehalt hinweg, den sie zu moderieren vorgab; Form wird zur Kinderei, Sinn fällt durchs Sieb. Im Falle der Mauer wird auf diese Weise nicht nur nicht in Erinnerung, sondern zum Vergessen gebracht, dass sie undurchlässig war. Bezogen auf Wagners Musikdramen bringen ebenso wenig Verfahren etwas, die Oberflächenverbindungen etwa zwischen dem Schicksal der Walküre und einer »Firewall« oder einem »Witty Wurm« und dem II. Akt Siegfried herstellen, bloß weil »Medien« damit irgendwie touchiert sind.

Natürlich liegt die Gefahr für Wagners Werk besonders nahe, alles Mediale auf sich zu beziehen. Es ist groß genug, um Auffangbecken zu sein für alles Mögliche und vor allem Unmögliche. Zu Vieles wollte Wagner bekanntlich selbst darin unterbringen. Das scheint Legitimierung zu bieten auch für die Bereiche Rezeption und Interpretation, und übergangen wird, dass gerade das Unmögliche Strukturfestigkeit braucht. Verwunderlich aber ist es nicht, dass »Multimedia« mittlerweile oft als Synonym für »Gesamtkunstwerk« gebraucht wird – man macht sich damit selbst fix »moderner«: »Multi« ist eine wie auch immer aufgefrischte Variante von »Gesamt«, »Media« eine von »Kunstwerk«.

Die eigentliche Gefahr liegt dabei in der Ungenauigkeit. Multimedia kommt oft als Hauruck-Verfahren, neigt zu ästhetischem Klotzen, und zuallernächst sollte man damit nicht den Dingen auf den Leim gehen, die man Wagner selbst einmal vorgeworfen hat. Abgesehen davon, dass multimediale Visionen in sich einer technischen wie geschmacklichen Verfallszeit unterliegen – schon 1995 wurde »Multimedia« von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gewählt zusammen mit »Datenautobahn« und »Reichstagsverhüllung«, so lange ist das her – so trifft, wer Wagner denkt und Multimedia sagt, häufig zu schnell ins Ziel für einen Gewinn, der nachhaltig bleiben soll.6 Das muss nachdenklich stimmen in einer Phase, in der Neue Medien auch zu Überwachungs- und Überwältigungsstrategien eingesetzt werden. Freilich mag es damit zu tun haben, dass das Gesamtkunstwerk meist akkumulativ verstanden wird. Es klingt so schön: Die am Theater beteiligten Künste emanzipieren sich voneinander, um hernach als gleichberechtigte Diskutanten in die Manege zurückzukehren. Darüber jedoch wird vergessen, dass Wagner sich in seinen Spätschriften deutlich von der Vorstellung einer disziplinären Parität distanziert, wenn nicht gar verabschiedet hat. Vor allem im Beethoven-Aufsatz von 1870 stellt er das Gesamtkunstwerk unter den Primat der Musik. Das »Gesamte« dieses Werks wird am Ende von der Kunst der Künste durchschossen. Anders ausgedrückt, Multiples wird bei ihm zugunsten einer zu Metaäußerungen fähigen, hypersensiblen, all-einen Kunst nach oben weg verschlankt. Nicht »Multimedia« wäre dafür nun die passende Entsprechung, sondern »Unimedia«. Statt um den Kessel Buntes geht es um Konzentration, produktive Komplikation. Zwischen dem, was »Multimedia« ist und eigentlich »Medienkunst« sein sollte, tut sich eine Kluft auf wie jene, die zwischen Vertrieb und Verfertigung liegt. Einem Fatum scheint es in dieser Hinsicht geschuldet, dass das derzeitige Leitungsteam des Bayreuther Festspielhauses um Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier die Neuen Medien in Gebrauch genommen hat, ohne die Frage zu problematisieren, was Medien an und für sich sind und leisten können. Fast ließe sich sagen, diese Frage nicht zu stellen, ist bereits »unmedial«, zeugt zumindest von keinem künstlerischen Anspruch im Sinn der Medien selbst. Ausweichend werden »Siemens Festspielnächte« auf den Plan gerufen. Das erste Mal in der Geschichte der Bayreuther Festspiele wurde am 27. Juli 2008 eine Inszenierung per Live-Streaming auf die Großbildleinwand einer kostenlosen Public-Viewing-Zone auf den Bayreuther Volksfestplatz (am Rande des Stadtzentrums, sic!7) übertragen. Man beabsichtigte, wie es hieß, Richard Wagners Credo einzulösen, dass Festspielbesuche umsonst und grundsätzlich jedermann zugänglich sein müssten. Allein, das Argument bekommt etwas Ruchbares durch den Umstand, dass es Katharina Wagners eigene Inszenierung war, nämlich die der Meistersinger von 2007, die dem »Volk« ans Herz gelegt wurde, nicht etwa Stefan Herheims Parsifal aus der Saison 2008 selbst. Premieren bleiben etwas für die Happy Few, oben, auf dem Hügel. Der Multimedia-Event rückt in die Nähe von Propaganda. Allzumal ausgerechnet diese Bayreuth-Darbietung vom Publikum mit Deutschlandfahnen bejubelt wurde, die man noch von der Fußball-Europameisterschaft übrig hatte und kurzerhand für Wagner umfunktionierte. Das steht quer zu jeder seriösen Kulturpolitik. Das heikle Moment in den patriotischen Passagen der Meistersinger musste einer Auseinandersetzung fremd bleiben, und beispielhaft zeigt sich, dass mediale Umgebungen, deren Voraussetzungen nicht geprüft werden, die Spurrille bieten, auf der Unterhaltung in Gedankenlosigkeit umkippt.

Ins Bild passt, dass die Bayreuther Festspielleitung den Zuschauern neben dem Volksfest auch die Möglichkeit bot, sich ins Internet einzuwählen, um Katharinas Inszenierung mitzuverfolgen. Der Zugang kostete 49,00 Euro und war auf 10.000 Aboplätze beschränkt. Wie gehabt: Wenn etwas am Internet ein Novum darstellt, dann, dass es sich seiner Kundschaft erst einmal ohne Kontrollfunktion zu versichern weiß. Doch wie die Dinge stehen, überträgt Bayreuth die alte Idee der Verknappung einfach auf die neuen Mitteilungskanäle. Man möchte an McLuhan denken: »the official culture still strives to force the new media to do the work of the old media. But the horseless carriage did not do the work of the horse; it abolished the horse and did what the horse could never do.«8 Die Mittel mögen sich in Bayreuth verändert haben, sie wirken nun basisdemokratisch. Die Weltanschauung dahinter aber lässt Demokratisierung nur unter Vorbehalten zu und ist damit gleichbleibend elitär. Medientechnologische Überbietungsdynamik auf der einen Seite (»Die neun mal zehn Meter große Leinwand steht auf dem Bayreuther Volksfestplatz, einer riesigen Fläche ...«), Untertanenlogistik auf der anderen (»... außerhalb der Stadt. Für 15.000 ist der Platz zugelassen. [...] Kurz nach Beginn des ersten Akts lassen die Ordner erst mal keinen mehr aufs abgesperrte Gelände.«9). Richard Wagner: »Bayreuth war ein Unsinn!«10 Man muss kein Technologiemönch sein, um erkennen zu können, dass dieser Umgang mit den digitalen, multiplen und interaktiven Formaten aus künstlerischer Sicht deskriptiv gesprochen: ein Problem darstellt. Und zwar weil überhaupt kein solcher künstlerischer Umgang existiert. »Medien« werden begriffen als Werkzeug für Vermarktung, Nachricht, Kalkül und Promotion. Dabei sind sie nichts von all dem oder wenn, dann alles zusammen: Katalysatoren unserer Kommunikation, die zum Vorschein bringen, wie frei oder unfrei wir den Mitteln gegenüberstehen, derer wir uns bedienen. Dass Bayreuth im Moment allein auf die passive Verfasstheit seines Publikums setzt, wird die grassierende »digital illiteracy« weiter befördern statt beheben. Von Läuterung, gar Erkenntnisgewinn durch Musiktheater keine Spur. Medien decken hier nichts auf, sondern zu. Einem Ahnen, dessen Werk im Innersten um die Ambivalenz zwischen Verschleiern und Aufzeigen, Mythos und Technik oszilliert, könnten Erben keinen größeren Bärendienst erweisen.

In ähnlich falsche Richtung bringt uns die immer wieder erneuerte Behauptung, Richard Wagner würde heute, so er noch lebte, in Hollywood Filmmusik produzieren. Oder aber mit Pink Floyd zusammenarbeiten, wie Roger Waters von Pink Floyd zum Besten gab. Ungeachtet dessen, dass Wagner heute, produzierte er überhaupt noch etwas, am ehesten mikrotonale Klaviermusik komponieren würde, scheint die Großmannssucht, die hinter der Kategorie solcher Behauptungen steckt, bereits von Multimedia infiziert und somit dubios. Denn rein dekorativ ist es, sich Gedanken darüber zu machen, auf welche je mächtigeren Medien ein Mensch der Vergangenheit heute setzen würde, bloß weil unsere Gegenwart Teil seiner Zukunft war. Medientechnischer Erfindungsreichtum lässt sich nicht proportional zur Entwicklung der Medien- und Technikgeschichte prognostizieren. Es gibt diese Proportion schlichtweg nicht – gerade darin liegt Erfindungsreichtum. Dass Wagner die Glühlampe avisiert hat, bedeutet nicht, dass er, versetzt in unsere Zeit plus jener zwei Jahre, um die er diese letztlich für Bayreuth verpasst hat, automatisch die nächste Generation Macintosh-Tools vorausgesponnen hätte. Vorausgesponnen hätte er eben genau das Unausdenkbare, das wir noch nicht denken können. Von daher ist die Vorstellung, das Festspielhaus müsse so etwas sein wie eine Frühform der Warner Bros. Studios, in jeder Hinsicht lachhaft. Womöglich hätte Wagner wieder mit dem Feuerstein komponiert. Fortschritt besteht manchmal in Zurücknahme. »Drum schonet mir [...] / Prospekte nicht und nicht Maschinen« (Faust I) – es sollte nicht vergessen werden, dass diese Aufmunterung einem Stück voransteht, in dem der Teufel seine Runden dreht. Medienkunst beginnt da, wo Multimedia endet: bei der Fähigkeit zur Kritik, nicht zuletzt an unseren Techniken selbst.

§ 5: Die Chiffre heißt Selbstreflexion

In seinem Aufsatz Weltatem hat der Medientheoretiker Friedrich Kittler bei der Auseinandersetzung mit der »Materialität« der menschlichen Singstimme11 die Entdeckung gemacht, dass Wagners Figuren an vielen Stellen vom Singen singen. Nicht nur in den Meistersingern, in denen Wagner Musik über Musik verfertigt hat, ist das – offensichtlich – so, sondern auch im Lohengrin, im Tristan oder im Ring: »Wie Wunder tönt, / was wonnig du singst [...] deiner Stimme Singen / hör’ ich süß«.12 Kittler schließt daraus zu Recht, dass Oper bei Wagner nicht nur als Ort erscheint, an dem Gesangstechnik eingesetzt, sondern in dem Gesangstechnik ausgestellt wird. Man könnte dies Wagners Hang zur Medienkunst nennen: Existenz von rauen Flächen, in denen etwas von der Struktur des Werks in den Plot hineinragt, das Musikdrama über sich selbst nachdenkt.

Dass Oper an sich die Medienkunst für hysterisch hält, Medienkunst die Oper dagegen für verzopft, hinter diesem Widerstreit verbirgt sich, dass es in der Tat die Betrachtung der eigenen Mittel ist, die das eine betrieblich derzeit so scharf vom anderen trennt. Ist der Terminus »Medienkunst« strenggenommen auch eine Tautologie (ähnlich wie »Regietheater«) – keine Kunst gibt es, die nicht im weitesten Sinn von einem Medium abhängt –, weist er im Bannkreis der Oper, Multimedia eingerechnet, darauf hin, dass eine Kunstform nur im Bewusstsein der eigenen Mittel dauerhaft avantgardefähig sein kann. In den neuen Communities herrscht darüber Konsens, und zwar unabhängig davon, welche Position vertreten wird, sobald es um die Definition dessen geht, was »die Medienkunst« überhaupt sei: Alles meinen die einen, nichts die anderen.

Die Nihilisten nehmen es dabei mit der Selbstreferentialität so genau, dass diese in Selbstaufhebung mündet. Falls es Medienkunst überhaupt je gab, sagen sie, sei sie jetzt im Verschwinden begriffen, weil im Informationszeitalter alle Kunst medial geworden ist und/oder genannt werden muss. Moderation sei kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Bezeichnend, dass es nur sehr wenige Künstler gibt, die mit dem Label »Medienkünstler« irgendwann in ihrer Laufbahn einmal einverstanden gewesen wären. Medienkünstlern ist es peinlich dazuzugehören, ihre fachliche Heimat liegt, da Medien überall stattfinden und per se keine haptische Realität besitzen, im Heimatverzicht bzw. generell »woanders«. Damit erinnern Medienkünstler an die Ursprünge des Theaterwesens, als Schauspieler noch auf die Walz gingen und auf Gastrecht angewiesen waren. »Smart flocks« – »flexible Schwärme« –, so bezeichnen sie sich selbst noch am ehesten. Medienkünstler sind Experten der Zwischenräume, Brückenbewohner.

Die praktischer orientierten Vertreter unter ihnen wenden das Profil in die Behauptung, Medienkunst sei immer dann am besten, wenn sie nicht in Erscheinung tritt. Das hat bei aller Negation etwas Zuwartendes. Es bedeutet, es gibt Medienkunst überall dort, wo sie sich nicht bemerkbar macht. »Medien sind gerade dann effizient, wenn sie selbst nicht in Erscheinung treten, sondern in dem verschwinden, was sie vermitteln. Je problemloser, selbstverständlicher und unauffälliger sie ihre eigene Rolle spielen, desto produktiver sind sie.«13 Erst wenn medienkünstlerisches Arbeiten ganz hinter das zurückgetreten ist, was es zu moderieren sucht, kann es virtuos sein. Mitnichten ist das Spiegelfechterei. Es liegt eine buchstäblich höher aufgelöste Form von Selbstbestimmung vor, die nicht außer Acht lässt, dass die meisten Zeitgenossen bei einem Apfel nicht mehr an Granny Smith, sondern Macintosh denken und bei »Opera« nimmer mehr an eine szenischdramatische Bühnenhandlung durch Musik, sondern den kostenlosen Web-Browser gleichen Namens. Insofern ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Medienkunst trotz nonkonformistischer Züge eine äußerst erfolgreiche Bewegung ist, viele Brands und Spin-offs sind längst börsenfähig. Und doch ist sie von Hause aus materiallos, kennt keine Rohstoffverfahren im traditionellen Sinn und definiert sich durch Determinanten wie Codierung, Speicherung, Reproduktion, Distribution, die sie ins Künstlerische hochgewertet hat.14

Die Positivisten setzen genau hier ihren Hebel an. Sie empfinden als Aufwertung, was die anderen als Abwertung. Das eigentliche Material der Medienkunst sei Reflexion, Vermittlung und Transzendenz selbst, konstatieren sie. William Gibson, der Erfinder des Begriffs »Cyberspace«15, gab einmal zu Protokoll: »We threw the baby out and brainstormed the marvelous potential of the bath water.«16 Der Träger, nicht das Getragene, das gestaltlose Objekt bzw. produktive Nichts ist zum Gegenstand der Arbeit geworden – eine Auffassung, die gewiss schon manchen Medienkünstler der Esoterik und Kunstreligion gefährlich nahegebracht hat. Devise: Nur Götter und Medien besitzen den allmächtigen Blick. Doch das Punctum saliens scheint zu sein, dass Medienkunst ab ovo Metakunst ist, eine Kunst der Künste, weil sie es in harter Kleinarbeit fertigbringt, das Flüchtige als Fundament zu materialisieren, wenn auch unter den Prämissen eines neu zu bestimmenden Materialbegriffs. Das erinnert wieder an Wagner und dessen Definition der Musik. Diese stehe an der Spitze einer hierarchischen Ordnung der Gattungen, viel mehr noch außerhalb dieser Ordnung, da sie sich nicht mit deren Kategorien beschreiben lasse. Etwas moderner gewendet: Musik ist ein Transzendenzwerk, das das eigene Referenzsystem mitliefert – Schopenhauers Musikphilosophie plus technische Reflexion. Genauso hat die Medienkunst ein avanciertes Verständnis von »Substanz« und »Stofflichkeit« in Umlauf gesetzt. Sie steht für Nicht-Tradition, ihre Instrumente sind post-industriell.

Gerade aber weil ihre Tools codebasiert sind, ist im Zentrum der Kunstproduktion ein Abstand zur eigenen Lebenswirklichkeit entstanden. Der Alltag von Medienkünstlern wird durch die Erfahrung bestimmt, dass vor jeder Äußerung eine Transmitterleistung erbracht werden muss, um sich überhaupt äußern zu können, vorausgesetzt, die Transmitterleistung selbst wurde nicht bereits als Äußerungsziel deklariert. Alles muss in jedem Fall durch das Nadelöhr des Binärcodes hindurch. Das hat am Ende zu einem Spiel mit der eigenen Künstlichkeit geführt. Medienkunst stellt ihre Verfahren zur Disposition, sie sind die eigentlichen Ergebnisse. Will sagen: Wahrnehmung an sich ist das Thema. Medienkunst ist das Genre, das sich erfand, um zu zeigen, wie weit man sich selbst problematisieren kann, ohne unergiebig zu werden. Von daher steht sie einerseits für kritischen Technologieeinsatz, andererseits für ein nicht zu unterschreitendes Niveau der Selbstreflexion. Backslash: Wotan ist in den Momenten am besten, in denen er das eigene Existenzrecht in Frage zu stellen versteht. Es ist eine Dynamik, die sich bis in das Konzept der »Werkstatt Bayreuth« hineinstaffelt, durch das Modelle zur Hervorbringung des Wagnerschen Werks immer wieder neu hinterfragt, definiert, überarbeitet, angepasst werden können. Hier wie im Bereich der Neuen Medien wirkt das »Update« als Sicherungsverfahren. Und wo Werk, Interpretation und Rezeption zusammenfallen – da ist Medientheater.

§ 6: Wahrnehmung durch Technik gleich Medienkunst

Neben vereinzelten frühen, nicht industriefähigen Experimenten mit olfaktorischen und gustatorischen Umgebungen hat die Medienkunst ihre Domäne in visuellen, akustischen und taktilen Objekten und Interfaces gefunden.17 In seinem Programm für Bayreuth hat bereits Wagner diese drei Bereiche als kommunikative Schnittstellen in Anschlag gebracht. Zunächst plädierte er für eine neue Form des Sehens. Mit Bezug auf immanente Prozesse seiner Werke wie auch auf deren Wiedergabe und Wirkung im Publikum beschrieb er, wie der äußere Blick ausgeschaltet werden müsse, damit das innere Sehen wirksam werden könne, das im Eigentlichen erst das Musikdrama als »erschautes Traumbild«18 konfiguriere. Unterstützt vom Lichteinzug im Zuschauerraum, dem neuen Vorhangmechanismus19, der scharfen Perspektivverjüngung der Scherwände sowie dem doppelten Proszenium wird der Sehstrahl des Publikums in Bayreuth demnach auf so direktem Wege der Bühne zugelenkt, dass Bernard Shaw alles Recht hatte, diese eine »pictorial stage«20 zu nennen. Verfahrenstechnisch haben wir es mit dem Petrefakt einer optischen Täuschung zu tun, die dem Zuschauer zu einem »besseren«, rezeptiven Sehen verhelfen soll, regelrecht einem Sehschacht, in dem sich physische Reize in psychische Prozesse verwandeln. Es ist ein medialer Durchstich, weil jedem einzelnen Besucher, der dadurch zum User wird, anvertraut wird, das Kunstwerk als Produkt der eigenen Innenschau zu empfangen. Virtuelle und cyber-motorische Anordnungen fabrizieren heute nichts anderes. Der Sehnerv stellt die Kommandobrücke zwischen cerebralen Impulsen und theatralen Ambientes dar, die sich eins aus dem anderen speisen – Projektionsmetaphern fließen über in Projektionstechnologien. Es wird nachvollziehbar, warum Packer / Jordan Wagners Proszeniumsblende als »interface at the stage«21 klassifiziert haben. Das Publikum hilft also, die Bedingungen mitzuerschaffen, unter denen Wagners Kunstwerk sich manifestiert. Es ist Partizipationskunst. Ein aktueller Begriff dafür lautet »Interaktivität«. Grosso modo geht es um den schöpferischen Blick, durch den die Bilder des Sehens selbst medialisiert werden. In diesem Sinn basiert auch Wagners Theorie des Sehens auf dem Prinzip der Rückkopplung – das Auge ist nicht nur fähig, Bilder aufzunehmen, sondern auch, Bilder auszusenden. Das Musikdrama ist ein Mischprodukt aus Mystifikation und Fabrikation. Heinrich Porges charakterisierte Wagners Werk als das »in die Wirklichkeit hinausgesetzte [Traum-]Bild unserer eigenen inneren Einbildungskraft«.22 Jens Roselt: »Der Einsatz neuer Medien ist [...] auch ein Beitrag für eine Kultur des Zuschauens, die sich nicht als bloßer Bildkonsum verstehen lassen will.«23 Die reale Bühnensituation in Bayreuth ist insofern ein Ferment der Wahrnehmungskapazitäten ihrer Zuschauer, und festhalten lässt sich, dass Wagner damit medientechnologische Abläufe präfiguriert hat, die heute Phänomenen wie »Nutzerorientierung«, »remote control«, »Echtzeit-Programming« und »Biofeedback« zugerechnet werden.

Die visuellen Metaphern werden sodann zu akustisch-auditiven gesteigert und gehen letztlich in diesen auf. Wo sich das Auge nach innen wendet, ist laut Wagner das Ohr das ultimative Wahrnehmungsorgan. Die argumentative Schraube geht bei ihm so weit, dass er am Ende von der »›Sehkraft‹ [...] des Gehöres«24 spricht, was Nietzsche veranlasst hat zu parieren: »Der dramatische Musiker muß nicht nur Ohren, sondern auch Augen in den Ohren haben«.25 Da die radikale Form des Sehens bei Wagner aber tatsächlich nach innen zielt, wird plausibel, dass ästhetisch ein Klangraum eröffnet wird, der aus dem Festspielhaus ein biomorph-akustisches Gehäuse macht: nicht allein beseelende, sondern beseelte Architektur sollte es sein, was sich technisch bescheinigen lässt, zieht man die unvergleichliche Resonanzfähigkeit der Baumaterialien in Bayreuth in Betracht. In jedem Fall hat Wagners Prävalenz im Akustischen, sei es durch die Einführung neuer (oder wiedererfundener) Instrumente wie Basstrompete, Holztrompete und Waldhorntuben, sei es durch den Bayreuther Schalldeckel oder auch die Dramaturgie des Mischklangs, Parameter ausgebildet, die gegenwärtig in den Bereich der akustischen Immersion sowie jenen »Sonic Space« münden, den die Medienkunst der letzten Jahre zu einem Wirtschaftsfaktor gemacht hat. Hier wie dort dreht sich experimentelle Kunstproduktion um den »acoustic turn«.

Taktile Interfaces bleiben notwendig am ehesten an Hardware gebunden – vom Datenhandschuh bis zur Touch-Screen. Wagner bietet hierfür das Modell – vom Bestuhlungskonzept bis zur Applausordnung. Das auf infrastrukturelle oder architektonische Rahmenbedingungen angewiesene Interaktionsobjekt stellt Imagination gerade über motorische Bindung her, und das Tool selbst, möchte man sagen, »spricht« mit der Perzeption seines Nutzers. Wenige Szenen bei Wagner sind in dieser Hinsicht medienkünstlerischer als die, in denen technisches Herstellungswissen zur Kunst gerät. In der Rohrschnitzszene im II. Akt Siegfried etwa wird durch ein Instrument Wahrnehmung selbst vernehmlich gemacht.

Die Medienkunst und Richard Wagner sind verbunden durch die Anwaltschaft für technologische Bezugssysteme in allen ästhetischen Fragen und Formaten.

§ 7: Siegfrieds Schwertschmiede – ein Modell medienkünstlerischer Arbeit

Beispiel Siegfried, Ende I. Aufzug: Weil er selbst keine Geschichte hat, tut Siegfried etwas, was im ganzen, personalstarken Ring zuvor niemand getan, geschweige denn gedacht hat und was großartig ist, weil es im buchstäblichen Sinn so kleingeistig daherkommt: Um das Schwert des Vaters neu schmieden zu können, zerraspelt er es bis auf seine geringfügigsten Bestandteile. Siegfried macht aus dem Stahl, wie er mitteilt, »Spreu«, aus den Stücken Metallstaub. Das heißt, er zersetzt, ja reduziert das heilige Material auf eine Vorform, die kaum mehr etwas mit dem zu tun zu haben scheint, was es ursächlich repräsentieren soll. Das geht so weit, dass Mime es materialtechnisch mit der Angst zu tun bekommt: »Du zerfeilst die Feile, / zerreibst die Raspel!«26 Augenscheinlich droht Siegfried noch die Werkzeuge zu zerkleinern, die er zum Zerkleinern angesetzt hat.

Vor diesem Prospekt war Adorno womöglich nicht genau genug, als er diese Passage einen »industriellen Arbeitsprozess«27 nannte. »Post-industriell« wäre die adäquatere Beschreibung. Man kann sie – auch – als eine Urszene der Medienkunst betrachten. Nicht weil Medienkünstler den Ruf weg haben, von Tradition nichts wissen zu wollen. Sondern weil der Stoff, um den es hier geht, für seine Weiterbearbeitung in skaleninvariante Fraktale zerlegt wird und exakt das mit der Verfahrensweise wie dem Materialdenken korreliert, das die Arbeit am Code selbst erfordert. Noch dem industriellen Stadium entsprechen die zerspleißten »Stücke« des Speers, die dem Handwerklichen verhaftet bleiben. Dem post-industriellen Stadium hingegen entspricht die bis (fast) unter die immanente Materialgrenze hinabreichende Pulverisierung des Stahls in »Späne«, die sich nun – als wäre während des Zerteilungsprozesses ein Paradigmenwechsel im Bearbeitungsmodus eingetreten – zum Speer verhalten wie Pixelkörner zum Gesamtbild.

§ 8: Friedrich Kittler hat das Theater vergessen (I)

Friedrich Kittler, der selbst die Chuzpe eines Siegfried besessen und auch noch nie mit »Bappe ein Schwert gebacken« hat, ahnte, dass es Detaillierungsformen sind, durch die die Neuen Technologien Wagner zu sich selbst bringen. Nachdem er in Grammophon, Film, Typewriter das Rheingold-Vorspiel als »historische[n] Übergang von Intervallen zu Frequenzen«28 analysiert, des Weiteren klar gemacht hat, dass das Musikdrama ein »akustischer Datenfluss«29 ist und nach Wagner erst wieder »Digitalcomputer [...] eine Sprache für Sound [bieten]«30, entwirft er in seinem Vortrag Illusion versus Simulation ein Inszenierungskonzept für das ganze Rheingold. Darin heißt es: »Man stelle erstens alle Differentialgleichungen aller beteiligten Instrumente samt all ihren Anfangs- und Randbedingungen auf. Man überführe diese computertechnisch unbrauchbaren Gleichungen zweitens in lauffähige Algorithmen, die dann drittens aus der jeweiligen Differentialgleichung den Grundton samt allen musikalisch relevanten Obertönen für alle Mikrozeiten errechnen. Das leiste der Algorithmus fünftens für alle Noten von Wagners Partitur, d.h. also einige millionenmal für jede einzige Mikrosekunde. Schon diese Forderung sprengt aber sechstens alle Leistungsgrenzen heutiger Computer. Bleibt also siebentens nur die Möglichkeit, die Klangwunder [...] zwar physikalisch zu modellieren, aber nicht in der Echtzeit seiner Aufführung. Eine Unmenge binärer Zahlen landet vielmehr auf einer Festplatte, deren Inhalt dann bei Gelegenheit wieder in den Arbeitsspeicher geladen und Mikrosekunde für Mikrosekunde über Lautsprecher ausgestrahlt wird. [...] Hinter jedem multimedialen [sic!] Effekt [...] steht eine immense Schreibarbeit, die ihrerseits nur eine noch immensere, aber automatisierte Rechenarbeit abgekürzt formuliert hat.«31 Kittler möchte also eine Inszenierung in Form einer Codierung. Zunächst ist das Verfahren einfacher, als es sich bei ihm anhört, obwohl er sich die denkbar größte Baustelle ausgesucht hat. Nicht ausgewählte Segmente des Stücks, sondern gleich das ganze Paket »Aufführung« soll durch den Code fabriziert werden. Um nun aber in der Oper mit Neuen Medien arbeiten zu können, muss eine Partitur erst einmal in die Sprache übersetzt werden, die vom Code verstanden wird. Wir müssen Vermittlungsmodalitäten (»Algorithmen«) finden, die es dem Code ermöglichen, unsere musikalischen Vorlagen zu erkennen und weiterzuverarbeiten. Konkret wird die Partitur dafür nach genau festzulegenden Sinn- und Strukturparametern durchkämmt und in kleinstmögliche Einzelteile zerlegt. In diesem Zustand wird sie ins »Digitalische« übersetzt. Um so – reziprok – wieder zu einem Ganzen zusammengefügt und als Bild- oder Klanggemisch vom Rechner ausgegeben werden zu können.

Das Problem ist, dass die Theorie hierbei notwendig an der Praxis scheitert und dass Friedrich Kittler einem imposanten Denkfehler aufsitzt. Er, der ausgezogen war, die Verwandtschaft zwischen Musik und Code zu beziffern, bemerkt nicht, dass er den Code letztlich haushoch über die Musik stellt. Träumend noch vom »Gesamtdatenwerk«, wie Roy Ascott Wagners Werk einmal nannte32, sucht er ein Aufführungsformat fürs Rheingold, was er aber herausbekommt, ist eine MIDI-Datei. Anders formuliert hat Friedrich Kittler vergessen, dass Analyse und Synthese nicht dasselbe sind und dass allzumal jedes musiktheatrale Werk erst in seiner Interpretation zu sich kommt bzw. diese Interpretation genuin ist.

Schon sein erster Satz macht seine Position anfechtbar: »Alle Differentialgleichungen aller beteiligten Instrumente« sollen samt »all ihren Anfangs- und Randbedingungen« aufgestellt werden, fordert er. Das meint, dass er alle Informationen der Partitur in den Code transponieren möchte. Alle Informationen einer Partitur aber können selbst auf einer durch und durch analogen Bühne niemals wiedergegeben werden. Die Oper ist ein lebendes Kunstwerk. In ihr gibt es kein Routinerelais. Genau dies aber braucht der Code, der abhängig bleibt von Determinierung. Welche Instrumente aus welcher Gruppe, welche Tonverbindungen, welche dynamischen Zuweisungen, welche Energiedichte, welche harmonischen Eintrübungen allzumal in Bezug auf welche mimischen Ereignisse, welche Schrittwechsel usw. – das sind keine Fragen der Verlegenheit, sondern solche, die klarstellen, dass sich eine Inszenierung gerade erst durch ihre Auswahlkriterien als eigenständige Kunstform erweist. Der Code selbst zwingt uns gar zu dieser Auswahl. Er will – bekanntlich – gefüttert werden. Er füttert sich nicht selbst. Kittler indes strauchelt über den Gedanken, dass die digitale Welt ein Automatismus sei. Darin wirkt er heute fast schon wieder gestrig und rückt in die Nähe von Multimedia-Unternehmungen, die mit der Medienkunst zwar die Mittel, nicht aber das gestalterische Ethos gemein haben.

§ 9: Friedrich Kittler hat das Theater vergessen (II) oder Die Neuen Medien sind musikalisch in sich

In einem Punkt behält Kittler allerdings recht. Und ohne ihn wäre es sehr viel schwerer, dafür zu streiten: Es ist sinnfrei zu glauben, Produkte der Medientechnologie seien Täuschungen, Trickbetrug, falsche Freunde, nur weil gelegentlich das Wort »Simulation« fällt. Mitnichten sind sie dies.33 Im Kontext der Oper führen sie uns idealiter so dicht an deren Grundlagen heran, dass man sagen könnte, sie fordern diese zurück, anstatt sich ihrer zu entschlagen. Geradewegs wirken die Neuen Medien in sich musikalisch. Warum? – Weil sie, in der Tat, digital sind.

Abgesehen von äußerlichen Übereinstimmungen wie der Tatsache, dass sowohl komponierte Musik als auch codebasierte Medien auf algebraischem Denken fußen, dass jedes Notationssystem eine Codierung darstellt und schon auf der Befehlsebene Ähnlichkeiten zu Programmierungsarbeiten bestehen (vgl. Commands wie »send output to«, »back to«, »do until if« etc.) sind Digitalisate im Kern prozessualisierte Zeit. Wie Musik vermittelt der Code die Erfahrung, dass Zeit formell ein Strom aus an- und abschwellenden Informationen ist. Die digitalen Schnitt- und Montagetechniken erfordern ein Denken in Zusammenhängen, vor allem Verlässlichkeit in Form, Proportion, Tempo, Dynamik, Ereignisdichte, in anderen Worten all das, was auch ureigens Musikalität ausmacht: Denken in Zusammenhängen, Verlässlichkeit in Form, Proportion, Tempo, Dynamik, Ereignisdichte. Coding verlangt demnach sogar die Erprobung komplexer Zeitstrukturen, und Neue Medien in einer Inszenierung einzusetzen, bedeutet zuerst und zuletzt, Zeitstrukturen zu verwalten. Es ist das Prinzip des Kompositorischen, das hier rücklings an die Musik herangetragen wird. Es geht um Fluss und Schnitt, um miniaturisierte Informationen und gleitende Übergänge auf allerkleinstem Raum. Der klassische Film wirkt insofern auf Wagner bezogen längst anachronistisch. Methoden des Coding, der Animation oder des Physical Modelling, in denen stetig mutierende, weiche, submikroskopische Einheiten prozessual miteinander verschaltet werden, ähneln viel eher der äußersten Beweglichkeit der kompositorischen Elemente etwa im Ring. Seltsam mutet es an, dass Friedrich Kittler gerade diesen Zusammenhang nicht gesehen hat und an seiner Statt – etwa beim Szenario der Schmiedelieder – immer wieder nur auf den »Härtungsprozess«34 des Materials zu sprechen kommt, den Wagner erfunden habe, weil er ein Zeitgenosse Alfred Krupps war. Das Aushärten des Stahls aber ist ein brachial unmedialer Gedanke; auf musikalischer Ebene entspricht er der Gelatinierung des Zeitflusses, auf physikalischer dem Rechnerabsturz. Auch in seiner Parteinahme für die Sound-Regie des »bedeutendsten Aufnahmeleiters der Schallplattenindustrie«35 John Culshaw bei der Decca-Ring-Einspielung Georg Soltis stellt Kittler persönliche Idiosynkrasien vor Interpretationsanalyse, die Relevanz eines Stereo-Setups als technikgeschichtliche Errungenschaft vor Soltis Arbeit am musikalischen Detail.36 Damit schafft er das Theater durch die Medien ab. Und hatte er einmal zu Protokoll gegeben: »Ja ich überleg’ mir auch ständig selber, wie wir das inszenieren können, das ZKM und die Hochschule für Neue Medien und ich zusammen in Bayreuth«37, so muss man dagegen den Einwand erheben dürfen: Überlegen reicht für das Theater nicht. An Manfred Jung, dem Siegfried des Chéreau-Ring, ist auch nicht das Wichtigste, dass er gelernter Starkstromtechniker war, und an Herbert von Karajan nicht, dass er einst Maschinenbau studiert hat. Geht man den entscheidenden Schritt weiter als Friedrich Kittler, vergisst den Anspruch auf Totalität und reklamiert, dass vor allem für die Arbeit am Code auch Theaterschweiß nötig ist, so könnte das Gesetz der Materialzerkleinerung bzw. -verfeinerung tatsächlich zu einer Chance für Wagner-Inszenierungen werden. »Miniaturisierung« ist auch in praxi das Axiom für den »grössten Miniaturisten der Musik«.38 Die Sache mit dem Code in der Inszenierungssituation ist nämlich, dass eine maschinelle steuerung von Bewegungsverläufen niemals dasselbe ist wie der Eindruck, den diese Bewegungen auf der Bühne hinterlassen. Nicht jeder Zahlenwert, der noch rechnerisch genau war, ist es auch szenisch – jede vom Code generierte Ton- oder Bildeinheit besitzt eine natürliche Trägheit gegenüber ihrer Datengrundlage, und jede Übersetzungsfunktion ruft Verschleifungen hervor. Das aber meint: Verbindlich wird der Code erst, wenn er Silbe für Silbe auf seine Übertragungsleistung hin geprüft wird. Wir sprechen von einer Explosion aller inszenatorischer Aufgaben. Und müssen anfangen, mit einer musikalischen Lupe zu arbeiten. Takt- statt Aktgenauigkeit ist gefragt unter der Maßgabe, dass diese gerade für ein Gesamtwerk von 16 Stunden Laufzeit durchgehalten werden muss, weil Unachtsamkeit im Bau eines einzelnen Bit das Gleichgewicht der ganzen Datenmasse gefährden würde. Ein Quick’n dirty hack wird Oper deshalb nie sein können. Wie der Code lebt sie vom Detailbefehl. Fast ist es als Paradoxon zu formulieren: Im Kontext der Oper ist für den Code so viel Detailbereitschaft erforderlich, dass die Neuen Medien auf der Bühne vielleicht nur deshalb keine Zukunft haben, weil zu viel an Handarbeit dafür nötig ist.

Dabei stehen sie im Eigentlichen für eine »Revolution von innen«.39 Der Code besitzt das Potential, die Oper musikalischer zu machen. Je kleinteiliger ich sein Datenmaterial behandele, desto elastischer wird meine Inszenierung im originär musikalischen Sinn. Fließgenauigkeit ist das Ziel, für ihn wie für sie. Auf dem Weg dahin gilt es sich erinnerlich zu halten, dass Wagners Werk selbst den Beweis anführt, dass eine Auseinandersetzung mit den Herstellungstechniken in der Oper nicht automatisch deren Entzauberung bedeutet. Die Magie unserer alten Fabeln wird durch die Neuen Medien nicht getilgt. Sie wird lediglich unter erneuerten Prämissen noch einmal – wie neu – aufgerufen.

§ 10: Let’s face it

Und wenn am Ende die Säle leer sind – möglich, dass die Oper erst dann frei genug ist, zu einer eigenständigen Ästhetik zu finden. In ihren Räumen spielen die Medien auf. Raum selbst aber ist auch Medium. Grundlage, ja Anfang. Ihn gilt es zu gestalten.

»Am Eros der Struktur arbeiten« Johanna Dombois im Gespräch mit Richard Klein

Zwischen der Oper und den Neuen Medien liegt eine Kluft. Gerade im Repertoirebetrieb fürchtet man, Musiktheater verlöre sein Gesicht, gäbe es sich den Interventionen medialer Bild-, Raum- und Klangwelten hin. Was aber sind Neue Medien überhaupt? Alles nur Hypes, die strikt nach dem Slogan »Kunst durch Strom« funktionieren? Oder nötigen sie uns nicht zu Fragen, die wir auch an die alten Medien richten müssen, wenn Oper als etwas Gegenwärtiges erhalten werden soll?1

*

KLEIN: Meine Damen und Herren, so weit Richard Wagners Rheingold-Vorspiel in der Inszenierung von Johanna Dombois. Es scheint mir ein idealer Gegenstand für die Doppelaufgabe zu sein, über die Neuen Medien im Allgemeinen und Wagners Ring im Besonderen zu sprechen, wirft es doch von sich aus die Frage auf: Wie überhaupt anfangen? Wie kann Neues entstehen?

Was mir an der Ring-Studie 01 als erstes auffällt, ist, dass sie mit den bildkünstlerischen Mitteln der Online-Welt Second Life® arbeitet, diese aber in den Dienst unseres »First Life« stellt: Das Ganze endet, wie wir gesehen haben, mit einer digitalen Apotheose nicht etwa des Internets, sondern des Zürcher Opernhauses [Abb. 1–2].2 Das könnte überraschen, sofern Sie womöglich eine Techno-Oper erwartet haben. Alt und Neu aber gehen hier eine Verbindung ein, bei der das eine das andere nicht ausschließt, sondern inspiriert. Fangen wir deshalb mit dieser Frage an: Warum Neue Medien in der Oper, warum in diesem Fall und warum überhaupt? Sodann: Was ist das Neue daran? Und wie verhält es sich zum Alten, zur »analogen Bühne«?

DOMBOIS: Da fällt mir als erstes ein Faustsches »Ach!« ein. Die Frage ist ziemlich komplex. Zunächst mal: Warum überhaupt Neue Medien? – Nun, weil wir es uns gar nicht mehr anders aussuchen können. Jedermann weiß, was gemeint ist, wenn man die Formel »Durchtechnifizierung unseres Lebens« in die Runde wirft. Eine Platitüde ist es schon zu sagen, dass maschinelle Steuerungsmechanismen unseren Alltag auf eine Weise durchpflügen, die uns nicht nur zu Zeugen, sondern zu Opfern eines evolutionären Sprungs macht. Die Neurowissenschaften haben ja längst bewiesen, dass sich die Struktur unseres Gehirns unter dem Beschuss digitaler Prozeduren verändert. Unsere Medien sind zu »Extremitäten« geworden. Bloß: Wie nahe lassen wir dieses Fatum an uns heran? Wir nutzen die Vorteile von Internet, Laser-OP und GPS im Auto. Aber die ökonomischen, sozialen und seelischen Folgen lassen wir nach hinten kippen wie den Teufel im Kasperletheater. Und wundern uns dann, dass wir überfordert sind von einer Umwelt, die eher uns schafft als wir sie. Der Punkt ist doch, dass immer weniger Menschen wissen, wie die Ressourcen funktionieren, von denen sie abhängig sind. Aber wenn wir mündige Bürger bleiben wollen, ist es höchste Zeit, denke ich, dass wir uns ins Verhältnis setzen zu unseren eigenen medientechnologischen Zurüstungen. John Cage sagte einmal: »Are we an audience for computer art? The answer’s not No; it’s Yes.« Für mich ist es gar keine Frage von Vorlieben, »ja« oder »nein« zu den Neuen Medien zu sagen. Es ist eine Frage der ästhetischen Not.

KLEIN: Höre ich recht, klingt da eine gewisse kulturkritische Saite, ein Unterton mit? Ist Technikkritik eine Voraussetzung Deiner Arbeit?

DOMBOIS: Das kann man wohl sagen! Ich bin von Hause aus Maschinenstürmer. Anfang der 1990er habe ich noch zu jeder Mahlzeit den Rechner ausgeschaltet und vor die Türe gehievt. Manche Klage von Leuten, die mich nicht verstehen, teile ich also aus vollstem Herzen! Nur ist dieser Maschinensturm eben nicht äquivalent mit Technikfeindschaft. Schon historisch ging es dabei nicht um die Zerschlagung, sondern um die Moderation der Mittel, um die Frage nach Gebrauchslogik. Das Messer, mit dem geschlachtet wird, ist ja nicht als solches böse – meine Großmutter nahm immer eine Filetierklinge, um meine Beulen zu kühlen. Kurz, meine künstlerische Auseinandersetzung mit den Medien begreife ich als Widerstand gegen die technische Hypertrophie. Und schlicht gesagt auch gegen die Verblödung, gegen dieses mutierte Bewusstsein. Medienkunst braucht den kritischen Impuls. Ohne ihn ist sie bloß Multimedia.

Abb. 1: Blick auf die Bühne des Zürcher Opernhauses in Second Life®. Ring-Studie 01 | Rheingold, Vorspiel. Inszenierung Johanna Dombois, 2009.

KLEIN: Normalerweise würde man denken, jemand, der Medienkunst betreibt, findet technische Innovationen per se cool und neigt allein aus Berufsgründen zum Zukunftsrausch. Was Du sagst, geht aber in eine deutlich andere Richtung.

DOMBOIS: Ich bin doch nicht blind und der Technik verfallen! Mich bringt jeder Kantinenkaffeeautomat, der nicht funktioniert, nach wie vor zur Weißglut. Bloß kann ich mich gleichzeitig an einem Sonntagnachmittag mit den technischen Prozessen einer Atomstation beschäftigen, ohne dass ich gleich den Moralischen kriege. Unsere Vorurteile gegenüber der Technik sind so stark ausgebildet, unsere Einsichten so schwach. Da stimmt doch etwas im Kern nicht. Das macht mich unruhig.

KLEIN: Eben. Für das Gros der Leute ist genau das nicht einfach zu verstehen, einerseits Zweifel am technischen Fortschritt, andererseits Faszination für maschinelle Umgebungen. Deswegen riskiere ich mal die Erstklässlerfrage: Technikkritik und Medienkunst, wie geht das zusammen?

Abb. 2: Blick von der Bühne des Zürcher Opernhauses in Second Life®. Ring-Studie 01 | Rheingold, Vorspiel. Inszenierung Johanna Dombois, 2009.

DOMBOIS: Dazu muss man erstmal sagen, dass es »die« Medienkunst gar nicht gibt. Das ist in Wirklichkeit eine Bewegung, die in zahllose Communities, Fachrichtungen und Foren aufgespalten ist, und typisch schien mir immer, dass die meisten Medienkünstler eine gewisse Pein empfinden, wenn man sie als solche bezeichnet.

KLEIN: Verstehst Du Dich als Medienkünstlerin?

DOMBOIS: Nein.

KLEIN: Das macht es mir leichter, ehrlich gesagt.

DOMBOIS: All die interessanten Netz-Aktivisten und Softwarekünstler, 3D-Animateure und -Modellierer, Sound-Artists, ASCII-Zeichner, Game-Designer, das sind eben Leute, die ihr Label von Anfang an in Frage stellen, die zur zweiten und dritten Generation von Konsolen-Cowboys gehören und mit dem klassischen Nerd nichts mehr zu tun haben. Da gibt es eine routinemäßige Ich-Evaluation. Allein schon deshalb, weil die Entwicklung der Werkzeuge so rasant ist. Blitzartig läuft man ja medienkünstlerisch Gefahr, etwas anders zu machen als der, der man eben noch sein wollte. Das berufliche Ego ist einem permanenten Erfindungs- und Differenzierungsdruck unterstellt. Und damit ist wiederum eine Infragestellung der Mittel und Techniken verbunden. Medienkunst hat immer ihre Verfahren zur Disposition gestellt. Oft sind ihre Produktionsbedingungen kaum mehr von den Produkten zu unterscheiden – ein Subgenre nennt sich nicht umsonst »Pure-Data-Art«. Das heißt, die Zeichenträger und Vorgehensweisen an sich sind in der Medienkunst zum Thema geworden. Deshalb würde ich sie geradewegs als »Metakunst« bezeichnen wollen. Natürlich gibt es auch viel Schotter, viel Amateur-Trash. Aber: Kritikfähigkeit ist den meisten medienkünstlerischen Arbeiten immanent, sonst wären sie nicht medienkünstlerisch. Es geht um die Ausbildung einer digitalen Zivilisation, und die ist gleichbedeutend mit Medienökonomie und kritischem Technologieeinsatz. Deshalb bietet gerade die Medienkunst keine Zielscheibe für Weltanschauliches. Das ist ein sehr bedauerliches Missverständnis.

KLEIN: Kritik der eigenen Voraussetzungen, Elementaranalyse als Teil des Kunstwerks: das scheint mir auf intelligente Weise altmodisch. Hegel hätte seine helle Freude daran. Es beantwortet aber noch nicht die Frage, worin das Neue der Neuen Medien besteht. Ich meine, es muss da doch zündende Erfahrungen, irgendwas Urplötzliches, Unvorhergesehenes geben, oder nicht?

DOMBOIS: Vor einiger Zeit saß ich in der Berliner S-Bahn, ein Teeny-Pärchen kam ins Abteil, Marke »Ey-Mann-ey«, und man musste nicht Opernregisseur sein, um sofort zu registrieren: Die hatten sich gestritten. Kein Wort, kein Blick, nur demonstrative Gequältheit. Nach einer ganzen Weile holt das Girl ein Handy aus der Tasche, hackt eine SMS hinein, schickt sie seltsamerweise nicht ab, sondern hält das Display mit hoch erhobenem Arm zwischen sich und den Lover. Pause. Dann: Lover greift nach Handy ohne Kopf zu drehen, liest die Nachricht, tippt eine Antwort in die Box, hält seinen Arm hoch, neue Pause, sie übernimmt wieder, und so geht es weiter, fünf- oder sechsmal. Bei der letzten Übergabe endlich die Klimax: Ihr Arm ist gerade oben, doch dieses Mal greift er nicht zum Gerät, studiert lediglich das Display, raunzt »Okay«, berührt ihren Arm und drückt – lieto fine – auf die Send-Taste! – Also was ist da jetzt passiert? Es war eine richtige Zeremonie, ich war hingerissen.

Klar, zunächst könnte man an den Untergang des Abendlandes denken. Wie armselig unsere Kommunikation geworden ist. Wie bitter es um die deutsche Jugend steht usw. Wenn man aber genauer hinsieht, hatte dieses Spiel wirklich anrührende Momente. Zum Beispiel besaßen alle beide ein Handy. Warum aber wurde die jeweilige SMS dann nicht verschickt? Vielleicht, weil es schon das Fanal einer Versöhnung war: sich instinktiv auf ein Gerät zu einigen. Ein gemeinsames Gerät erzeugt »Handwärme« und kann eine gewisse haptische Sehnsucht übermitteln. Und dann dieses ostinate Hochhalten der Arme! Nix also nur Entfremdung. Verständigung teilt sich hier bloß im Umriss einer neuen, technomorphen Infrastruktur mit, und gerade durch die simulierte Entfernung scheint die Sprachlosigkeit entschärft.

Vielleicht waren die beiden auch mordsdumm, ich weiß es nicht. Aber die produktive Struktur der Neuen Medien, die gibt es. In den prozessualisierten, dynamischen, fluiden Milieus liegt Erfindungsreichtum, und auf der Türschwelle zu neuen technologischen Ambientes entstehen Verlegenheitslösungen, die sich schon öfter als kreativ erwiesen haben. Das Körperwissen selbst bahnt sich andere Wege, glaube ich. Simulationen dürfen wir deshalb nicht als Täuschungsmanöver verstehen. Simulierte Bilder und Zeichen sind nur andere Erscheinungsmodi sehr alter Bedürfnisse, und das alles muss uns als Theaterleute interessieren.

Das erklärt wohl auch meinen eigenen, künstlerischen Zugang zu den Neuen Medien. Ein neues Gerät kann niemals so doof sein wie die Werbung, durch die es an den Mann kommt – suggeriert mir mein Trotzgefühl. Also rege ich mich erst mal nicht über die jüngste Freak-Phone-Entwicklung auf, sondern sortiere nach Geschmack, lausche hinaus, lasse dem Ding mehr Zeit, als es mir lässt. Eigentlich lote ich unentwegt nach Strukturen, und die zeigen sich erst im Gebrauch. Instinktiv nehme ich eine Anwendung vor der anderen wahr, stelle sie frei vom unmittelbar Nützlichen. Dann gibt es einen Einschuss. Und mit einem Mal ist die Struktur so etwas wie ein poetischer Anker.

KLEIN: Georg Picht hat einmal sehr schön gesagt, ob wir uns betätigen oder nichts tun, immer befinden wir uns in Medien, die uns und in denen wir uns darstellen: »Sobald die Feder das Parkett des unbeschriebenen Blattes betritt, kommt unwiderstehlich an den Tag, wie es um den Schreiber bestellt ist. Das ist keine Besonderheit des Briefpapiers – es ist eine allgemeine Eigenschaft der Bühne der Welt.«

Deine Story von dem S-Bahn-Pärchen scheint mir davon gar nicht weit entfernt zu sein: Die Leute verfügen weder über die Darstellungskraft der Schrift noch nutzen sie alle Funktionseinheiten des Cellphones – und entdecken doch Spielräume, in denen sie sich so oder so zu ihrer medialen Hörigkeit verhalten können. Berührt das nicht unmittelbar Grunderfahrungen der Oper? –

DOMBOIS: Neulich kamen zwei Meldungen mit derselben Presse: 1. Anna Netrebko lässt verlauten, sie habe keinen Computer, keinen Internetanschluss, kein Smartphone, lediglich ein altes und unbrauchbares Handy. Für alles Übrige interessiere sie sich nicht. 2. Dem neuen iPad liegt keine Gebrauchsanweisung mehr bei. Die Nutzung geschieht intuitiv. – Was für eine Diskrepanz, oder?! Hier geht es zweimal um Abwesenheit – einmal von Kenntnis, einmal von Unkenntnis.

KLEIN: ... Wie bitte? Anna Netrebko hat kein Handy?

DOMBOIS: Offenbar nicht. Und ich finde es ehrlich gesagt heute auch überhaupt nicht mehr kultig, so etwas in die Welt zu setzen. Zu sagen, seht her, ich bin techniklos. Was soll denn das heißen? Ist Anna N. deshalb ein besserer Mensch? Dieses »Ich habe keine Ahnung, bin nur dem Ursprünglichen verpflichtet, Computer sind unmenschlich« ist doch bloß eine neue Form plumpester Mythosmache – Plädoyer für eine Reinheit, die es nicht gibt. Diese Meldung selbst, mag sie nun stimmen oder nicht, kam doch über Twitter, nicht wahr! Also da würde ich mir dann einfach Konsequenz wünschen.

KLEIN: Ein Philosoph hat gesagt: »Die Verdeckung der Produktion durch die Erscheinung des Produkts ist das Formgesetz Richard Wagners.« Wird mit ganz viel Technik hergestellt, aber am Ende soll es wie Natur aussehen.

DOMBOIS: Genau. Deshalb inszeniere ich ja »die Natur« des Rheingold-Vorspiels in einer technischen Simulation. Da ist Natur. Ein ziemlich genaues Naturbild sogar. Aber es wird aufgerufen.

KLEIN: Wir kommen gleich dahin. Zuvor würde mich doch noch interessieren, was Deiner Meinung nach die Grunderfahrung der Oper ausmacht, und ob da nicht womöglich Dein Teeny-Pärchen näher dran ist als Frau Netrebko? Oper hat Menschen stets als abhängige, determinierte Wesen vorgeführt, die auf der Suche nach der kleinen Pforte sind, durch die Freiheit tritt – oder auch nicht. Offenbar kann man die Neuen Medien nur verstehen, wenn man sie nicht nur als neu versteht. Denn wenn man sie nur – also unhistorisch – als neu versteht, übersieht man die Spielräume, die sie auch geben. Die Frage wäre: Welche Freiheit zeigen uns die Neuen Medien in der Oper? Was ist das Neue an ihnen, das uns erlaubt, das Alte dieser Gattung neu zu zeigen?

DOMBOIS: Ich möchte vor allem mit der Behauptung aufräumen, dass das Neue der Neuen Medien allein darin liegt, dass sie digital sind. Die Medienkunst mag auf die Steckdose angewiesen sein, abhängig ist sie von ihr nicht. Ich habe einmal den Wireframe-Modus eines Bildschirmobjekts mit Schnippgummis auf einer hundsnormalen, analogen Bühne dargestellt, d.h. die Simulation simuliert. Das hat gestalterisch zwar Verschiebungen erzeugt, und um die ging es mir auch – um Risse in der Wirklichkeitswahrnehmung. Aber: All das ist noch immer ein medialer Zugang. Warum?

Weil wir das, was wir falsch vereinheitlichend »Wirklichkeit« nennen, unter dem täglichen Druck der Neuen Medien selber längst zerteilen und transformieren. Die Idee, einen Gegenstand von seiner Textur zu »entkleiden« und die ihm zugrundeliegende, technische »Muskulatur« zu zeigen, wäre mir ohne die Erfahrung des Digitalen gar nicht gekommen. All die interaktiven, kooperativen und netzwerkbildenden Verschaltungen haben in uns längst eine andere, computable Denkstruktur ausgelegt. Das ist das Neue an ihnen. Und so sind wir heute zahlen- und kurvengläubig, agieren und reagieren gleichzeitig, distribuieren zielloser als früher, sortieren dafür mehr, speichern weniger, haben kein deterministisches Verhältnis mehr zu Korrekturvorgängen, sogar unsere Frühstücksbuffets sind modular. Das bedeutet, einerseits sind wir flüchtiger geworden, andererseits spielerischer. Mit den Füßen stecken wir im Morast, aber im Kopf ist irgendwie eine offene Flanke entstanden. Und da glaube ich nun, dass genau dieses Moment uns ans Theater rückholen kann. Gerade das Fiktionale, Ergebnisoffene und Prozesshafte der Neuen Medien entspricht einem urtheatralen Anspruch und kann der Oper zurückgeben, was diese zusehends verliert. Neue Medien sind zu »struktureller Anverwandlung« fähig, behaupte ich. Längst bilden sie doch einen alltäglichen Erfahrungsbereich, der kollektiv wahrgenommen und genutzt wird. Da frage ich mich: Wieso müssen wir diesen Erfahrungsbereich ablegen, wenn wir ein Opernhaus betreten? Das ist ein ideologischer Anachronismus. Und zwar unabhängig davon, dass die Oper in sich ein technisches Supermedium ist! »Kraftwerk der Gefühle«, nennt sie Alexander Kluge – es wäre gut, den Akzent hier mal weniger auf das »Gefühl« als auf das »Kraftwerk« zu legen. Neben dem Orchesterapparat ist das technische Setup einer Hinterbühne der gewaltigste Musikgenerator, den wir haben! Möglicherweise führt uns Medientechnologie im Kontext des Musiktheaters sogar so dicht an dessen Grundlagen, »Grunderfahrungen«, wie Du es nennst, heran, dass man sagen könnte, sie fordert diese zurück, anstatt sich ihrer zu entledigen.

KLEIN: Das ist ein entscheidender Punkt: Es gibt für Dich eine Nähe der Neuen Medien zur Musik, nicht irgendwie oder im Großen und Ganzen, sondern konkret, in den Strukturen, in den technischen Details?

DOMBOIS: Ich würde so weit gehen zu sagen, dass die Neuen Medien in sich »musikalisch« sind. Abgesehen davon, dass sie eine Myriade von Software-Tools bereithalten, um Musik in Szene zu setzen, entwickelt sich ja der Code selbst prozesshaft-dynamisch, flüssig, schwellenlos. Dazu muss er alle ihm zugetragenen Informationen in Bits und Bytes zerlegen, bevor er sie weiterleiten kann. Exakt diese Atomisierung des Werkstoffs aber ist es, die ich für so grundstürzend halte. Dadurch besitzen wir, stark vereinfacht gesagt, viel kleinere Werkzeuge, um mit viel größerer Genauigkeit an der Umsetzung unseres musikalischen Ausgangsmaterials zu arbeiten. Und was ist Genauigkeit anderes als Poesie?! Als ich den Fidelio in Bonn machte, dessen Personal aus rein abstrakt-virtuellen Trägerfiguren bestand, in die der Orchester- und jeweilige Stimmsatz in Echtzeit eingespeist wurden, kam eine Zuschauerin zu mir. Sie sagte, sie habe weder Beethovens Fidelio noch sonst eine Oper jemals erlebt, sei aber von der musikalischen Geschmeidigkeit unserer Figuren so angetan, dass sie nun einmal in ein Traditionshaus gehen wolle. Der Zufall ergab es, dass ich sie nach ein paar Wochen wieder traf. Sie kam schnurstracks auf mich zu: Nein, sagte sie, sie sei dort gewesen, auch bei einem Fidelio, aber nach der Pause gegangen. Sie wusste gar nicht, wie neuartig meine Inszenierung gewesen sei, aber bei der alten habe sie von der Musik überhaupt nichts gesehen. – Nun, in einem Punkt würde ich ihr widersprechen: Ich mache eigentlich gar nichts Neues! Ich mache nur das Alte etwas genauer. Der Fidelio war nicht akt-, sondern taktgenau inszeniert. Die Arbeit mit und in einem Virtual Environment erzwingt das so, und kurioserweise rückten wir damit – quasi spiegelverkehrt – wieder an Fragen der »Werktreue« heran. In diesem Sinn möchte ich weiter am Eros der Struktur arbeiten. Weil ich davon überzeugt bin, dass wir damit gerade für die Oper zu Darstellungsformen gelangen können, deren Poesie frei von Sentimentalität bleibt.

KLEIN: Ich höre »Werktreue« – das Donnerwort aller Biederen! Aber in ihm steckt vielleicht auch eine kritische Einsicht, nämlich die Forderung nach Präzision, Transparenz. Deine Formel für den Fidelio »taktgenau statt aktgenau« verstehe ich just so, d.h. im Sinne eines neuen Deutlichkeitspostulats, vergleichbar dem, für das Sergio Morabito kürzlich votierte. Umso spannender dann aber die Frage, was Wagners Rheingold -Vorspiel mit Second Life® zu tun hat und wie die Idee der Deutlichkeit da hineinspielt. Die Beziehung des einen zum andern ist ja nicht unmittelbar evident.

DOMBOIS: Vielleicht doch. Wagners Rheingold-Vorspiel behauptet ja, dass ein ultimativer Anfang existiert, dass es so etwas gibt wie den reingewaschenen Tisch. Schaut man jedoch genau hin, generiert auch Wagner nur die Simulation eines Anfangs, eine nachgeordnete Schöpfung, weil der eine, der mythische Uranfang eben nicht mit Händen zu greifen ist. Second Life®, die wohl berühmteste Online-Spiel-Plattform der letzten Jahre mit dem berühmtesten aller Online-Crashs, ist konzeptuell genau dies: eine Welt, die als Simulation aufgerufen wird und deren Utopie darin liegt zu behaupten, dass wir noch einmal ein neues Archipel gestalten können [Abb.3]. All das zusammen ergibt dann ein phantasmatisches und verstörend sensibles Abbild unserer Realität, ergo: ein gestaltetes Chaos. Und das wiederum ist Wagner: In seinem Rheingold-Vorspiel hat das Chaos der Weltgenese eine Form gefunden. Ich meine, Second Life® wie der Ring sind auf ähnlich brüchigen Fundamenten errichtet, in denen das eigene Scheitern mitbegründet liegt – virtueller Bauboom und Entstehung der Welt fallen ineins. Insofern scheint es mir legitim, eine Hybridfassung unserer eigenen Wirklichkeit für Wagners Spiel mit dem Anfang in Szene zu setzen.

Abb. 3: Gestaltetes Chaos, chiffrierte Wirklichkeit. Aufbau des Zürcher Opernhauses auf der Sim »Swiss City« in Second Life®. Ring-Studie 01 | Rheingold, Vorspiel. Inszenierung Johanna Dombois, 2009.

Das Verrückte daran ist, dass wir genau mit dieser scheinbaren ästhetischen Entfernung dichter an unseren »Ursprungsstoff« herankamen, als dies je mit analogen Theatertricks hätte geschehen können.

Innerhalb von Second Life® konnten wir etwa die Plattform »Swiss City« als Spielort einsetzen, einschließlich der virtuellen Replik von Zürich, jener Stadt, in der Wagner das Rheingold ja komponiert hat. Die sl®-Dependance des Opernhauses Zürich bot uns die Möglichkeit, Oper in der Oper zu inszenieren und eben doch Bilder aufzurufen, die kenntlich machen, dass Wagners Vorspiel per se einen Nukleus und damit eine konstruierte, chiffrierte Wirklichkeit darstellt. Und natürlich hätten wir auch nirgendwo sonst auf dem »Grunde des Rheines« spielen können! Da Wasser das Kernelement in sl® ist und man es dort sogar als Baumaterial verwenden kann, konnten wir uns buchstäblich im Flussbett bewegen [Abb. 4], Szenen dort anlegen und einrichten, Bauproben abhalten etc. Das ging so weit, dass sich die Wellen der Wasseroberfläche so programmieren ließen, wie Wagner es in seiner ersten Regieanweisung diktiert hat: »rastlos von rechts nach links zu strömend«. Deutlichkeit ist hier also geradewegs das Gegenteil von Detailfetischismus. Deutlichkeit kann auch zum Beleg dafür werden, wie weit man sich mitunter von einem Werk entfernen muss, um dessen formale Spannweite erfassen zu können. Ist man zu nahe dran, sieht man keine Vielfalt mehr.

Abb. 4: Wasser als Bauelement: »Auf dem Grunde des Rheines« in Second Life®. Ring-Studie 01 | Rheingold, Vorspiel. Inszenierung Johanna Dombois, 2009.

Abb. 5: Die Wellen des Rheins als Datenfluss, durch den sie in Second Life® animiert werden. Ring-Studie 01 | Rheingold, Vorspiel. Inszenierung Johanna Dombois, 2009.

KLEIN: Das wäre aber eine irre Pointe. Das Internet – und nicht, wie man oft gesagt hat, der Film – macht es möglich, Wagners Wasserwogen szenisch in die Tat umzusetzen, und zwar ohne dass man sich damit einer nur oberflächlichenAktualisierung andient. Erst das Internet verfügt strukturell über diese, man könnte fast sagen: praktische Chaostheorie, die es erlaubt, ein System aus kleinsten Einheiten, »Atomen« herzustellen und zugleich im Großen flexibel, d.h. stets auflösungsnah zu entfalten. In den Bildfluktuationen des sl® vollzöge sich dann etwas Ähnliches wie im Wagnerschen Orchesterapparat.

DOMBOIS: Was Du »irre Pointe« nennst, würde ich tragfähige Grundlage nennen. Ansonsten: Ja, seit es das Internet gibt, wird es mit nautischen Metaphern assoziiert. »Datenmeer«, »Datenfluss«, »Datenstrom«, »Datenstrudel«, »Navigation«, »Surfen«, »Streamen« usw. – das sind alles Zuschreibungen, die einen Verflüssigungsprozess markieren [Abb. 5].

Unsere Bild- und Wissenskultur ist punktuell rezeptiver geworden und wirkt deshalb so flächendeckend. Gemessen an dem, was wir heute im Musiktheater zeigen wollen, sind Film und Videokunst also wirklich eine Sache von gestern. Gerade diejenigen, denen es in der Opernregie »zu wenig musikalisch« zugeht, sollten die verfeinerten Möglichkeiten code- und webbasierter Medien nicht verschmähen. Sie helfen uns, unsere Visualisierungsverfahren auf der Bühne detailfähiger zu machen, mehr Bilder auf kleinerem Raum zu produzieren und so eine größere Elastizität der Musik gegenüber zu erreichen. Dafür ist der Code, glaube ich, fast ein Geschenk der Theatergötter.

KLEIN: Götter lieben das Extreme, und das Rheingold-Vorspiel ist ein extremes Stück. Alles irgendwie Ordnung und Chaos zugleich, eine periodische Architektur und ein diffuses Tonmeer, und beides stellt sich auch noch gegenseitig her. Wagner verwendet hier stark konturiertes Material wie die Fanfare, arbeitet aber so damit, dass Effekte von Auflösung entstehen. Umgekehrt treten zu chaotischen Klangbewegungen gliedernde Bezüge, die sich erneut verlieren usw. Das alles sind Indizien für eine strukturelle Verwandtschaft mit Second Life®, wobei Verwandtschaft kein Abbildverhältnis und auch keine simple Analogie meint. Die Autonomie der Musik bleibt gegenüber der des Bildes gewährleistet. Wenn ich mir z.B. anschaue, wie Du die Klarinettenstelle in T. 81ff. inszenierst, dann nehme ich erst einmal einen Kontrast wahr. Das Dirigat nimmt die Passage überaus transparent, der Einsatz der Klarinetten wird nicht etwa verschleiert, sondern kommt präzise auf der Eins. Dein Bild hingegen zeigt uns Nebel, Wolken, atmosphärische Diffusion. Die Stelle hat ihren eigenen Effekt. Zuvor, beim Hörnerkanon und beim Bewegungszug der Celli, verschwimmen Höhe und Tiefe des Klangraums. Mit dem Klarinetteneinsatz aber werden beide Bereiche abrupt voneinander getrennt: prägnante Höhe hier – grummelnde Tiefe dort – dazwischen Leere.

DOMBOIS: Ja, das ist ein faszinierender Moment. Ein Augenblick fast wie auf dem Sprungbrett. Plötzlich schnellt das Werdemotiv in die Höhe, und mir schien immer, als reiße da ein Luftloch zwischen Himmel und Erde auf. Eine Art Signal, das uns anzeigt: Jetzt bildet sich Zwischenraum und mit ihm auch eine sukzessiv fassbare Welt. Und dieser Initialakt spielt nun bei uns in der erwähnten Unterwasserkaverne. Mit retardierten, »pränatalen« Kamerabewegungen loten wir dort zunächst die dämmernde, »subaquale« Landschaft aus. Bis in T. 77 eine schneller werdende Fahrt einsetzt, die auf den Ausgang der Höhle zusteuert und schließlich – wie von einem Wellenberg nach oben gedrückt – exakt zum Einsatz der Klarinetten in T. 81 durch die Wasseroberfläche sticht und in die Wolken hinausgeschleudert wird. Der Prüfstein für die Regie dabei ist: Was ist exakt?

Szenisch gilt es, einen äußerst heiklen Moment kenntlich zu machen, nämlich den Aggregatwechsel in einem Takt. Und da haben wir zum Beispiel das Problem, dass unsere virtuelle Handkamera eine gewisse programmiertechnische Trägheit besitzt. Sie kann zwar beschleunigen, aber nicht exponentiell. Man probt die Stelle 20, 30 Mal, und wohl gelingt es auch, die Wasseroberfläche zu durchstechen. Nur nie exakt genug. Die Rezeptivität der digitalen Bilder ist so groß, dass ein gewöhnlicher Abgleich mit den Klarinetten wie Schlamperei wirkt. Ständig sieht man etwas, was man noch nicht gehört hat oder hört, was es noch gar nicht zu sehen gab. Z.B. hört man plötzlich das Anblasen des Instruments, die Körperlichkeit des Instrumentalisten, das Verhallen des Klangs oder das Rauschen des Bühnenraums. Nicht nur den Ton also, sondern auch die medialen Bedingungen der Tonerzeugung, die ja auch zu diesem Stück gehören. Und so probten wir weiter ... Bis wir akustisch und visuell im Zehntelsekundenbereich angelangt waren. Doch das digitale Bild stockte noch immer im Vergleich mit dem Klarinettenton. Es war selbst einfach zu nervös. Bis ja bis schließlich unser Cutter auf die Idee kam, dass wir mit einem Schnitt erreichen könnten, was wir als Glissando gestalten wollten! Und das war tatsächlich die Lösung. Freilich eine, die die maximale Abweichung vom ursprünglichen Vorhaben bedeutete. Anstatt sich durch iterative Näherung immer kleinere visuelle Segmente vorzulegen, deren Zusammenschau den Bildverlauf fluide machen würde, setzten wir das visuelle Skalpell an, sezierten eine Sequenz heraus, versahen die Nahtstellen mit einer Blende, und siehe da: Das Wasser wurde zu Wolken, und zwar ganz ohne Bruch! Und trotzdem blieb der notwendige Sprung von der einen Materie in die andere erhalten. Will sagen: 1,8 Sekunden Nebel – der Widersinn schien perfekt. Aber wir brauchten das Diffuse, um ausdrücken zu können, was Exaktheit ist. Bzw. können eben auch Abweichungen supergenau sein. Second Life® führte uns jedenfalls auf ein neues Niveau an formalen Komplikationen, die der inneren Bedeutung des Wagnerschen Werks gerade entsprechen. Das ist das Experimentelle im Repertoire.

KLEIN: Nun ist das Ganze aber trotz allem keine Techno-Inszenierung. Das Stück endet, wie eingangs gesagt, mit der Apotheose eines Opernhauses. Das hat programmatische Bedeutung.

DOMBOIS: Sicher. Unsere digitale Version der Zürcher Oper soll ja nicht im Internet stecken bleiben. Sie soll auf einer herkömmlichen Opernbühne gezeigt werden. Das Rheingold-Vorspiel habe ich auch nicht aus purer Lust an der Freude als Digitalisat gemacht, sondern weil das strukturell eine Möglichkeit bot, die höher aufgelöste Wirklichkeitsebene darzustellen, um die es in diesem Stück geht. Bewusst soll schon das zweite Bild mit dem Rheintöchter-Gesang auf einer traditionalistischen Bretterbühne stattfinden. Wobei ich dann die allerletzte Einstellung aus unserem Vorspiel analog nachbauen lassen will – die utopische Ebene soll heruntergeschält werden, bis das sl®-Milieu im dritten Bild ganz nivelliert sein wird. Da werden wir schließlich in den Niederungen Walhalls angelangt sein, beim »Menschen Wotan«. Anders ausgedrückt: Das Digitale drängt ins Analoge, und in der Tat, das ist Programm. Keineswegs sollten wir unsere Opernhäuser abfakkeln! Oder sie durch digitale Surrogate unserem Theaterbedürfnis entwöhnen. Wir müssen nur Mittel und Wege finden, sie in ihrem zugegeben anachronistischen Dasein vital zu halten. Dazu haben die Neuen Medien das Zeug, meine ich. Und gleichwohl wäre es komplett unopernhaft zu denken, dass die Oper all diese neuen Angebote nicht in sich aufnehmen könnte. Wer die Oper wirklich liebt, wird ihr auch die Veränderungen zutrauen, die sie durchlaufen muss, um am Leben zu bleiben.

KLEIN: Ich stelle mir vor, dass sich das Publikum jetzt zu fragen beginnt: Wie weiter? Wir haben das Vorspiel zu Rheingold gesehen, aber der Ring ist ein Ganzes. Jeder registriert, dass Du über einen exorbitanten Sinn für Einzelheiten, Augenblicke und Sekundenbruchteile verfügst, auf der bildlichen wie der musikalischen Ebene. Solche handwerklichen Zärtlichkeiten machen gerade die Personenführung in der Oper erst wirklich aufregend. Aber was ist nun mit »dem Narrativen«, der linearen Handlung, dem dramatischen Plot? Wer takt- statt aktgenau inszeniert, erzählt zwangsläufig eine andere Story. Auch bei Lars von Trier wäre es wohl kaum mehr zum großen Weltentwurf gekommen. Du führst, soviel ist klar, eine andere Aufgabenhierarchie ein: Narration ist nicht mehr erstes Gebot, sie verlagert sich vielmehr in musikalische und medientechnische Zwischenräume. Andererseits soll ja bei Dir gerade nichts postmodern zerfallen oder zerbröseln. Der Ansatz beim Rheingold -Vorspiel signalisiert sogar ein demonstratives Interesse an der Idee eines Ganzen.

DOMBOIS: Wenn man am Anfang interessiert ist, ist man auch am Ende interessiert, also am Verhältnis von Anfang und Ende, also am Ganzen. Man kann das »Wiegenlied der Welt« nicht inszenieren, wenn man nicht auch eine Haltung dem »Weltenbrand« gegenüber entwickelt hat. Für das Übrige gilt für mich eine Bemerkung von Boulez, die ich sehr, sehr bewundere und ernst nehme: Das Höchste am Ring, heißt es da, und Boulez meint natürlich die Musik, sei »die Koexistenz zwischen monumentaler Dimension und schwindelerregender Kleinarbeit«. Auf dieser Basis will ich eigentlich etwas ganz Einfaches: ein möglichst präzises Verständnis dieses Schwindelerregenden, dieses »Gewimmels« in die Regiearbeit hineinholen, sie und das Werk selbst vom Sinn für Detailreichtum her entfalten. Wagner komponiert eine so radikale Diskontinuität, dass es mir diesem Werk zuliebe unsinnig erschiene, sämtliche Szenen über einen stilistischen Kamm zu scheren. Am »Stuttgarter Ring« war wichtig, dass er eine Verbindung zwischen Konstruktion und Zerteilung hergestellt hat. Und in diese Richtung sollten wir versuchen weiterzudenken. Ich möchte den Zerteilungsgrad weiter erhöhen, damit wir noch dichter an Wagners Elementarkunde herankommen.

Rein praktisch ist das ein Vorgang wie bei Siegfried, der das Schwert des Vaters auch erst zu Spänen zerraspeln muss, um es für sich gebrauchen zu können: Ich möchte den linearen Verlauf des Ring für eine gewisse Zeit aussetzen, um mich inszenatorisch zunächst auf einzelne, ausgewählte Passagen zu konzentrieren. Dabei will ich den Teil fürs Ganze setzen, um die nur ihm adäquate Darstellungsform zu entwickeln. Welche wechselnden medialen Formen und Formate das sind und wie sie warum aufeinander folgen, lassen wir jetzt beiseite. Jedenfalls wird jede Teileinheit separat aufgeführt. Und erst danach, wenn alle szenischen Kapseln prall gefüllt sind, sollen die »Ring-Studien« wieder nach ihrer originären Abfolge zusammengefügt werden – jede dann aber, und das wäre nun meine Utopie, vollgesogen mit einer eigenen Zeit- und Raumerfahrung. Und zwar nicht nur werkintern, sondern auch produktionstechnisch. Die Ring-Studie 01 trägt jetzt z.B. einen stilistischen Stempel des Jahres 2009. Nehmen wir an, 2013 hätte ich alle Sequenzen des Rheingold beieinander und könnte eine Gesamtaufführung anpeilen, so wird sich gerade angesichts der rasanten Verfallszeiten in der Medientechnik unser Second Life®-Vorspiel bereits stilistisch kategorisieren lassen: Was für manchen im Augenblick noch wie ein hypermodernistischer Ursprungsmythos wirken mag, wird sich als sichtbar überalterte Utopie einer neuen Welt zeigen – und das liegt nun genau im Sinn dieses Stückchens Welttheater. Ich denke, wir müssen formale und inhaltliche Aspekte des Werks und seiner Interpretation so miteinander verschalten, dass wir endlich an die Implosion des Zeit- und Raumbegriffs im Ring herankommen.

KLEIN: Ist das ein neues Ring-Konzept?

DOMBOIS: Konzept weiß ich nicht. Aber mit einer gewissen Scheu möchte ich sagen: Ja, es ist vielleicht eine neue Verfahrenslogik in Sachen Ring. Dieses Werk braucht dringend ein neues Referenzsystem, einen neuen Rahmen, in dem wir unterbringen können, was es heute an »Aktuellem« neben der Nacherzählung der Tagesschau noch zu berichten gibt. In einer Zeit, in der sich so vieles verschiebt, ist die Suche nach neuen Formen das eigentlich Politische, glaube ich. Unsere Mittel, Räume, Darstellungsweisen und Produktionsbedingungen müssen zu einem Teil unserer Erzählungen werden dürfen. Was im Übrigen urwagnerisch wäre – und urmedial.

KLEIN.: Darf ich unter diesen Vorzeichen fragen, was Oper für Dich ist?

DOMBOIS: Besser als die Wirklichkeit und dieser doch ständig auf den Fersen.

KLEIN: Die Oper also ein medialer Vexierspiegel! Halb zog sie uns, halb sanken wir hin ... Was wäre da das Wunschziel im täglichen Umgang mit einem solch märchenhaft sachbezogenen Handwerkszeug?

DOMBOIS: Zur Klarheit verführen!