Johanna Dombois

Eine Medizin, die wie Wein schmeckt: Jacques Offenbach

Für Jörg Wirbelauer und seine Schenke ›Rheinwein‹ in Köln

 

»Nur trinken! Und dann zum Schlaf so in die Gosse sinken!«

»Womit bedeckt?«

»Vom Himmel!«

»Unter dem Kopf?«

»Ein Stein!«

»Und wann geweckt werden?«

»Nie mehr!«

HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN

Am Grabe Jacques Offenbachs folgende Szene: »Was – den wollen Sie ausgraben? Nichts da – den mach’ich lebendig!« Dieses wunderbare Stückchen Satire, von Karl Kraus einst in die Fackel gesetzt, sagt wohl auch heute noch viel über Wesen und Werk jenes großen Operetten-Komponisten aus, dessen Todestag sich am 5. Oktober (2005) zum 125. Mal gejährt hat. Derselbe Offenbach, den die Satire für tot erklären musste, um ihn hernach umso lebendiger zu machen, scheint nämlich in Wahrheit nie gestorben zu sein – der Erstickungsanfall, durch den der Mensch Jakob wirklich umkam, wirkt wie das Negativprofil jenes überragenden Märchens, das der Künstler Jacques le Grand mit Atem gefüllt hat. Tatsächlich ist Jacques Offenbach für das Theater über die Jahre hinweg so oft wiederbelebt worden, dass er sich schadlos gehalten zu haben scheint gegenüber dem Andrängen der Zeit, die verfließt. Er ist wie die Vergangenheit selbst, die nicht vergeht. 1976 schrieb Maurice Tassart: »Just imagine that a topical music-hall show, launched in 1976, should still be wildly popular in 2085! Incredible, isn’t it? And yet, such has been the fate of La Vie parisienne.« Addiert man, was fehlt, so würde das Werk, uraufgeführt 1866, von heute ab eingerechnet des einen Jahres, um das sich Tassart vertan hat, noch bis 2115 gespielt werden. Offenbach also fast ewig und überall. Die Gedrängtheit von Zeit und Raum, die Karl Kraus als Stilmittel für die Operetten Offenbachs ausgemacht hat, scheint ebenso für dessen Schöpfer zu gelten. Und wenn Kraus auch meinte, dass die meisten noch »weiter (gehen) als ich. Denn sie erblicken schon darin, dass er sich bei ihren Inszenierungen im Grab umdreht, ein Lebenszeichen« – »Es dreht sich alles und hernach / Im Grab sogar der Offenbach« –, so ist Offenbach, dieser gewichtslose Harlekin und Jettatore, dem Ähnlichkeit mit jenen Wiedergängern aus den Erzählungen E. T.A. Hoffmanns bescheinigt wurde, denen er selbst zur Unsterblichkeit verholfen hat – kreuzhässlich soll er halt gewesen sein, ein bisschen dämonisch gar, in der Erscheinung wie eine Mischung aus Hahn, Heupferd und Bachstelze –, dieser Offenbach ist eben doch nimmer unterzukriegen. Stimmt es, was Jacob Burckhardt annahm, dass unsere Kultur zu Renaissancen neige, so trifft dies allemal auf ihn zu. Was das Vergrabensein anbelangt, wird man für Offenbach deshalb mit den Worten seines Biographen Siegfried Kracauer behaupten können: »Es verkehrt sich das gewohnte Bild der Welt. Vieles, was unten zu sein scheint, befindet sich oben«. Dass die Stadt Köln, aus der Offenbach stammt, seit jüngstem ausgerechnet die Durchgangsstraße in einen Tunnel verwandeln will, die vor dem »Offenbach-Platz« verläuft, auf dem heute das Opernhaus steht, passt vollendet dazu.

Weil Verkehrung natürlich bereits Bestandteil der Offenbachiade ist. Bei Offenbach steht das Leben Kopf. Wenn eine große deutsche Tageszeitung die Situation des deutschen Fußballs neulich wie folgt kommentierte: »Was heute noch allzu sehr nach Operette klingt, kann morgen schon zarte Wirklichkeit sein«, so verkennt die große deutsche Tageszeitung entweder die Wirklichkeit oder die Operette (oder den deutschen Fußball, aber dafür sind wir hier nicht zuständig). Denn die Wirklichkeit, sie ist bei Offenbach selbstredend nicht das Gegenteil der Operette. Die Operette ist die Wirklichkeit, ja übertrifft diese sogar, was die Wirklichkeit sonst nur durch sich selbst vollzieht. Die erste Heldin der Offenbachschen Musiquettes, Hortense Schneider, hatte einen solchen Erfolg in Paris, dass es sie keine Mühe gekostet haben soll, während der Weltausstellung 1867 eines Tages in Kostüm und Maske beim Majestäten-Eingang vorzufahren – sie ruft der Wache zu: »Die Großherzogin von Gerolstein!« – man salutiert – die Pforte tut sich auf. Das ist die Grundlage Offenbachs. Es geht um seitenverkehrte Symmetrie, um das, was Volker Klotz eine »erheiternde Inversion« genannt hat. »Heilig, weil er so unheilig ist« (Arthur Kahane). »Seine Musik würde Tote wiederauferstehen lassen« (Francisque Sarcey). Wie »lacht da die Tragödie, und wie ernst nimmt sich die Komödie« (Oskar Bie). Und Nietzsche: Offenbach »erreicht [...] einen Zustand übermütigster Bouffonerie, aber in der Form des klassischen Geschmacks, absolut logisch.« Sprich absolut unlogisch. Karl Kraus fasst zusammen: Hier ist alles von »souveräner Planlosigkeit«. Von Ferne erinnert das an Richard Wagner, der Offenbach anfeindete, seinerseits aber den Typus des – frei nach Thomas Mann – »geniehaften Dilettanten« verkörperte. Immerhin wurde Offenbachs erste Oper Rheinnixen 1864 von der Wiener Hofoper bestellt fast zur selben Zeit, da man den Tristan dort ablehnte. Offenbachs Publikum allerdings, das nichts wissen wollte davon, dass ihr Maître plaisir sich zeitlebens nach der großen, der »richtigen« Oper gesehnt hatte, begriff noch dessen ernste Versuche als lustige und lachte wohlwollend über sie, während man Wagners Novitäten einfach nur in der Luft zerriss. Dieses wie jenes ist tragisch, das eine aber ganz anders als das andere. Man könnte es so formulieren: Bei Offenbach sind die Komplikationen elegisch, seine Vernestelungen – große Oper! Doch Vernestelungen sind es gleichwohl. Das Leben kommt bei ihm am Ende immer als Galopp heraus. Nur wer mehr weiß, hört hinter den Bocksgesängen das Gebet.

Man hat hervorgehoben, dass Offenbach in dieser Hinsicht viel dem Karnevalstreiben seiner Heimatstadt Köln zu verdanken hatte, sein Lehrer Bernhard Breuer war Karnevalskomponist. Nach eigenen Aussagen gehörten die närrischen Tage und die Vorstellungen im Kölner Divertissementchen sogar zu den Höhepunkten seiner Kindheit, bevor er dann 1833, 14-jährig, als kleiner großer Cello-Virtuose nach Paris ging. Dort freilich erwartete ihn nicht weniger, eher mehr. Diese pikante, revolutionär-sanguinische und doch so fedrige Tollheit der Zeit, die sich wie glühender Staub überall in der Metropole der Décadence absetzte, alles schien unter das Gesetz des Cancan zu fallen, jenem halb bewundernswerten, halb idiotischen Sturmangriff auf die guten Sitten: Man trug die Unterwäsche zuoberst, die Beine schlugen über Augenhöhe hinaus und gemeinsam stürzte man sich in eine Tiefe hinab, in der jeder sein eigenes Paradies fand. Der Diagnostiker Offenbach wurde im Bienenkorb zum Dialektiker. Bloß: Können wir das heute überhaupt noch goutieren? Verstehen wir das noch, diese Doppel- und Dreifachzüngigkeit? Die Operette an sich ist mittlerweile vielen suspekt geworden, sie gilt als »historische Rumpelkammer«, wie Paul Bekker schon 1909 konstatierte. Beziehungsweise ist sie inmitten unserer Hauptstadtrevuen inzwischen so publik geworden, dass niemand mehr ehrlich zu sagen wüsste, was sie eigentlich bedeutet.

Vielleicht gibt es aber doch einen Zugang, der jedem nahe ist, weil er das »anmutige Wegspülen aller logischen Bedenken« mit sich führt (Kraus). Schauen wir auf Hoffmanns Erzählungen, I. Akt, 1. Szene. Es ist Nacht, Mondlicht, Leute sitzen in der »Kneipe«. Plötzlich taucht ein Gesicht auf, es ist frisch, es ist glänzend. Es ist die Muse Hoffmanns, sein Daimonion, und dieser entsteigt heuer ... einem Fass, ganz recht. Einsatz Gesang: Die »Geister des Weines und des Bieres« / »schäumt der Trunk im Glase, sind wir es!« Man teilt uns mit, die ganze Welt sei ein Schanktisch und jedermann ein Zecher im Weinberg Gottes. Der Gedanke ist so harmlos nicht, wo er sich mit »exhibitionistischer Sensualität« (Egon Friedell) trifft, und tatsächlich gibt es kein Stück bei Offenbach, in dem nicht gebechert wird, aber wie. Genever, Arrak, Punsch, Tokayer, Bier, Cognac, im Pariser Leben kommen dazu Burgunder, Champagner, Bordeaux. »Wie sollen wir uns betrinken?« – Durch »alles zusammen!« »Lustig und toll / saufet euch voll!«, so schließt der I. Akt der Banditen. In der Périchole wird das Trauungs- zum Suff- bzw. das Suff- zum Trauungsritual, der Alkohol allein hält die Geschichte und ihre Protagonisten zusammen. In der Grog-Episode der Grand-Duchesse wird der Wein buchstäblich zum entwaffnenden Wundermittel, vom Bacchanal im Orpheus zu schweigen.

Ein Resultat der Champagnerlaune scheint auch zu sein, dass sich die Geliebte Hoffmanns in dessen Erzählungen gleich zu drei Frauenfiguren vervielfacht. Man könnte meinen, Offenbach habe damit eine Parabel schaffen wollen für jene selig-weinseligen Momente, in denen man mehr sieht, als da ist. Oder ist es bloß Zufall, dass so vielen seiner Dramatis personae Namen zugedacht sind, in denen eine Konsonantendopplung steckt (wie in seinem eigenen, übrigens, der aufgeht in einer seiner schönsten Figuren – Offen-bach wird Hoff-mann)? Nein, il Signor Fagotto, Frau Patti, der Räuberhauptmann Falsacappa und der Polizist Bramarbasso, der Meister Peronilla und der Graf Panatellas, General Bumm und Fürst von Knippenhausen, Metella, Stella, Zanetta, Mastrilla, Fiorella, Berginella, Dapertutto, Immortelle – all das sind Würzmittel einer Kunst, die darauf aus ist, durch kobolzartige Beschleunigung und doppelte Perspektivführung eine verdichtete Wirklichkeit zu erzeugen. Gewiss, für Moralisten oder Pietisten ist das nichts. »Der Pietist würde verlangen, dass man von Kleie und Wasser lebt«, sagt Béla Hamvas in seiner Philosophie des Weins. Aber »der Pietist darf mit Schonung nicht rechnen«.

Keinerlei Schonung, denn die Menge der Trinker und Getränke ergibt ein so starkes Gemisch bei Offenbach, dass der Verdacht naheliegt, es ginge nicht allein um den Suff. Kraus reißt den letzten Schleier weg: »Offenbach ist ein Rausch.« Und das ist nun sicher etwas ganz anderes. Spätestens hier, wo sich das Pariser Leben vom Menuett zur rasenden Walzerorgie, der Orpheus zum »Höllengalopp« steigert, wo sich durch den Strudel des »Tout tourne« nicht nur die Erde, sondern auch die Zimmer zu drehen beginnen, dürfte die Einsicht Sinn machen, dass Offenbach sich losgerissen hat von allem, was banal ist: Seine Kunst läuft über und wird Bacchanal. Die Finali sind der Beweis seiner ungeheuerlichen künstlerischen Konzentrationsgabe. Und so befinden wir uns auf dem Weg zu einem Mann, der es ernst meinte mit der Ablenkung. Der nicht nur Hymniker des zweiten Kaiserreichs war, sondern dessen erster Kritiker. Offenbachs Parodien sind zugleich Verherrlichungen, darin liegt ihre Größe. Im Rausch werden insofern noch einmal all die Bilder zusammengesetzt, die eine allzu nüchterne Welt in Stücke geschlagen hatte. »Ach gebt uns den höheren Rausch / der fröhlichen Lieder! / Leben wir eine Stunde lang im Himmel!«, singt Hoffmann. Darin liegt neben der Frivolität echte Melancholie. Und Bangigkeit, etwas Zehrendes. Die Sehnsucht nach dem, was war oder was sein könnte. Offenbach selbst dürfte klar gewesen sein, dass die Rettung »des Lebensfaktums ins blaue Wunder« (Kraus) immer eine Operette bleiben musste. Unsere Wirklichkeit ist nicht klug genug für so etwas.

Um jedoch diesen Offenbach erreichen zu können, müssten auch wir Kopffüßler werden und lernen, die Dinge anders herum aufrechtstehend zu sehen. Dass das »Gift« bei ihm wie »Zuckerwasser« schmeckt (Kracauer), darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Wein eigentlich eine Medizin ist. Geschmacksnerven aber ließen sich schulen. Allerdings müsste dann auch das Regietheater sich damit abfinden, dass Offenbachs kandierte Oberfläche einer dämonischen Unterseite angehört und dass dies nicht immer mit psycho- oder sozialanalytischem Besteck auseinanderzunehmen ist. Das Verdächtige der Offenbachschen Figuren besteht ja gerade darin, dass sie flach sind, Schemen einer Wirklichkeit, die mehr nicht hergibt. Tiefe zeigt sich an ihnen durch das Ausmaß der Oberfläche. Es ist bezeichnend, dass dem traurigen Hoffmann in der Giulietta-Episode das Spiegelbild entrissen statt vorgehalten wird.

Ergo: Offenbach, der als Begründer der Operette gilt, ohne sie erfunden zu haben – die eigenen Werke nannte er anfangs Musiquettes, später Opéra bouffe, Féerie, Folie musicale, Vaudville, Opéra fantastique ... –, diesem Offenbach könnten wir noch den Willen zum Ernst ablauschen. Die Stringenz, mit der bei ihm Komisches passiert, die Unvermeidlichkeit, mit der alles seinem Ende entgegenstürzt, die Zärtlichkeit, mit der der Tinnef gestaltet ist, diese intelligente Saturiertheit, mit der behauptet wird, dass die Späße nicht nur dazu da sind, die Zeit zu vertreiben, sondern auch, um diese einzuholen, all das ist eine große Kunst – die höchste und vielleicht auch die letzte. Möglich, dass wir heute zu locker sind, um das ganz begreifen zu können. Cocteau schildert eine Milieu-Szene aus Paris, die wahr sein muss, weil sie so unglaublich klingt: »1913, während der Wiederaufnahme der Schönen Helena sahen Freunde von mir in der benachbarten Loge eine ältere Dame in Tränen. Sie erkannten Cosima Wagner. Siegfried, Das Rheingold, Die Meistersinger – das verhilft einem Mann zur Unsterblichkeit, hindert ihn am Sterben. Aber Offenbach, das war Mode, Jugend, Erinnerungen an Tribschen, fröhliche Stunden, Nietzsche, der an Rée schrieb: ›Wir werden nach Paris fahren, um uns den Cancan anzusehen.‹ – Madame Wagner aurait pou entendre le Crépuscule des Dieux sans trouble. Elle pleurait à la Marche des Rois

In der Spielzeit 2004/05 kündigte das Kölner Opernhaus Hoffmanns Erzählungen mit dem Programmhinweis an: »Nicht für Kinder!« – Was das wieder bedeutet? – Jetzt kann uns nur noch Offenbach weiterhelfen. Oder aber wir entlassen ihn selbst in die Untiefen einer Welt, in der die Oper einmal den Mut zur Unmöglichkeit besessen hat.

»Und der das zuletzt erzählt hat, dem ist der Mund noch warm.« (Die Bremer Stadtmusikanten)