Friede, Freude, Gänsekeule

„Ho, ho, ho!“, rief Detlef in die Kamera, die an der Pforte vor der Villa die Besucher kritisch beäugte. „Der Weihnachtsmann ist da!“

„Sie sind zu spät. Nun aber hurtig“, krächzte eine geschlechtsneutrale Stimme aus der Sprechanlage, und die Pforte öffnete sich lautlos.

Detlef, Gerd und Rüdiger marschierten die Kiesauffahrt hinauf. Passenderweise fing in diesem Moment der Schnee leise zu rieseln an.

Vorn an der Villa trat eine Dame mittleren Alters vor die Tür. Sie trug ein graues Kaschmirkleid mit Perlenkette und einen äußerst gestrengen Blick. „Etwas zackiger, meine Herren. Wir hätten beinahe schon mit der Gans angefangen. Das wird sich auf Ihr Trinkgeld auswirken!“

„Heiligabend ist immer die Hölle los, gnädige Frau.“ Detlef lächelte entschuldigend. Dem Lächeln von Detlef konnte man eigentlich nicht widerstehen, schon gar nicht, wenn er wie an diesem Heiligabend in einem leuchtend roten Weihnachtsmannkostüm steckte. Kugelrund, verschmitzte Äuglein, breites Lächeln, Bassstimme – er spielte den Weihnachtsmann nicht, er war der Weihnachtsmann.

Die Kaschmirfrau widerstand seinem Lächeln dennoch. Hart wie Kruppstahl. „Das interessiert mich nicht“, erklärte sie. „Wenn ich Sie für fünf Uhr buche, dann will ich Sie auch um fünf Uhr hierhaben und nicht um …“ Sie sah auf ihre diamantenbesetzte Armbanduhr. „… um sechs Uhr zwo.“

Detlef nickte verstehend.

Zweimetermann Gerd neben ihm war als Weihnachtself in grüne Leggins und rote Zipfelmütze gehüllt, ein Zugeständnis an alle, die zu viele amerikanische Weihnachtsfilme gesehen hatten. „Merry Christmas“, brummte er und beugte sich vor, um der Kaschmirfrau einen Kuss zu geben. Detlef boxte ihm seinen dicken Ellenbogen gerade noch rechtzeitig in die Rippen. „Was denn?“, beschwerte sich Gerd. „Sie steht doch unter einem Mistelzweig!“ Detlef und die Kaschmirfrau rollten synchron mit den Augen.

Rüdiger beschlich ein ganz ungutes Gefühl. Er gab in diesem Szenario das typisch deutsche Christkind. Ja gut, eine Frauenrolle, aber er war auch nur die Aushilfe und musste froh sein, dass er überhaupt noch einen Job bekommen hatte. Das sicherte ihm die Miete. Zehn Auftritte bis Mitternacht, 200 Euro bar auf die Kralle.

Rüdiger trug ein weißes Spitzenkleid und eine wallende Blondhaarperücke. „Joyeux noël“, rief er, improvisierend, um dem Multikultigedanken Rechnung zu tragen. Er gab heute die Mère Noël.

Detlef warf ihm einen warnenden Blick zu. „Fröhliche Weihnachten“, korrigierte er.

„Jetzt noch nicht“, erklärte die Hausherrin barsch. „Drinnen warten schon alle. Ich hoffe, Sie wissen, was Sie zu tun haben?“ Sie wedelte mit der Liste, die die drei Männer in Kopie auch schon von der Weihnachtsmannagentur erhalten hatten: die Namen der Anwesenden sowie eine Übersicht der Geschenke und die Reihenfolge des Verteilens.

„Keine Sorge, gnädige Frau, wir sind Profis“, versicherte ihr Detlef und nickte. Gerd nickte auch.

Rüdiger nickte ebenfalls, hatte aber in diesem Augenblick noch keine Ahnung, worauf er sich da eingelassen hatte, sonst hätte er zweifelsohne seine Christkindbeine in die Hand genommen und wäre gerannt, gerannt, gerannt …

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Rüdiger war Schauspieler. Eigentlich.

Leider kein guter. Und selbst die guten hatten ja schon Probleme, an Engagements zu kommen. Im Seniorenwohnheim Sonnenberg las Rüdiger bisweilen Rilke- oder Hesse-Gedichte und im Kinderferientheater Brausemaus war er bereits eine feste Größe als Mädchen für alles, aber die Bretter, die die Welt bedeuten, kannte er noch nicht wirklich. Und seine Fernseherfahrung beschränkte sich auf einen Joghurt-Werbespot, in dem man ihn für exakt 0,2 Sekunden von hinten auf einer Kuh reiten sah.

Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Gelegenheitsjobs, die er aber immer für sich zu nutzen wusste. Wenn er für Clean & Easy putzen ging, gab er den polnischen Putzmann und führte in seiner Tupperdose polnische Dauerwurstwaren als Pausenimbiss mit sich. In der Autowaschanlage Wash & Clean mimte er den Proll aus dem Ruhrpott und trug unter der orangefarbenen Autowaschanlagenuniform ausnahmslos Netzhemd. Schauspieler, das war für Rüdiger eben kein Beruf, sondern Berufung.

Und nun hatte er diesen Job als Christkind in der Weihnachtsmannagentur bekommen. Als Krankheitsvertretung. Ein Anruf in letzter Minute. Nachdem Rüdiger beschlossen hatte, die Rolle französisch anzulegen.

Detlef und Gerd dagegen waren alte Hasen im Gewerbe. Dachte Rüdiger. Da irrte er sich. Nur halb, aber immerhin. Also, alte Hasen ja, aber anderes Gewerbe.

Detlef und Gerd waren nämlich gar nicht Detlef und Gerd. Der echte Detlef und der echte Gerd lagen gefesselt und geknebelt in der Umkleide von Rent-a-Santa.

Aber das wurde Rüdiger erst klar, als Detlef mitten hinein in die Runde der Messerschmidts trat, eine Schnellfeuerwaffe aus seinem Weihnachtsmannsack zog und mit seiner donnernden Bassstimme „Hände hoch und keine Bewegung!“ brüllte.

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Die Messerschmidts gehörten zu den oberen Zehntausend der Stadt. Schon seit Generationen.

„Ohgottohgottohgott“, flüsterte Maximilian Messerschmidt der Dritte, das derzeitige Oberhaupt der Familie. Er sackte auf dem Sofa zusammen.

„Reiß dich zusammen, du Memme!“, blaffte seine Frau. „Das wagen Sie nicht!“, herrschte sie Detlef an, der ihr die Diamantuhr vom Handgelenk streifen wollte.

„Und wie ich das wage.“ Detlef gab, nur mal so zur Warnung, eine Schnellfeuerrunde in die Stuckdecke ab.

Leise rieselte der Putz.

Im Salon befanden sich noch die erwachsenen männlichen Zwillinge des Ehepaares mit ihren jeweiligen blondierten Gespielinnen sowie die pausbäckige Haushälterin der Familie. Deren zehn Arme waren längstens oben. Nun folgten widerwillig auch die Kaschmirarme von Frau Messerschmidt, um eine Armbanduhr leichter.

„Na bitte, geht doch“, schmunzelte Detlef.

Kurz darauf saßen alle verschnürt und mit ihren Socken beziehungsweise Feinstrumpfhosen im Mund auf dem Perserteppich.

„Und du?“, fragte Detlef und richtete die Mündung des Schnellfeuergewehrs auf Rüdiger. „Bist du für uns oder gegen uns?“

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Rüdiger stand wie zur Salzsäule erstarrt vor dem Kamin. Sein Hintern wurde zunehmend heißer, aber jedwede Bewegung war ihm unmöglich. Schockstarre. Wo war er hier hineingeraten?

Es schien ihm alles so unwirklich.

Das Ambiente um ihn herum war beschaulich-weihnachtlich: riesige Nordmanntanne, geschmückt in Rot und Gold. Leise Weihnachtsmusik – natürlich nicht O du fröhliche wie in Plebejer-Wohnzimmern, vielmehr intonierte ein Knabenchor das Weihnachtsoratorium von Bach. Die Duftwolken von Plätzchen, einem Erzgebirgeräuchermännchen und Gans mit Apfelrotkohl waberten in der Luft.

Aber in krassem Gegensatz dazu Detlef als Weihnachtsmann aus der Hölle mit dem Schnellfeuergewehr im Anschlag.

Rüdiger schluckte schwer.

Er war nicht zum Helden geboren. Schon die Androhung von Gewalt ließ ihn erzittern. Er war eine rückgratlose Memme und würde seine eigene Familie ans Messer liefern, wenn man ihm nur ein wenig Zigarettenrauch ins Gesicht blies.

Gerd lief derweil nach oben in den ersten Stock der Villa, vermutlich um den Schlafzimmertresor auszuräumen. Oder wo reiche Menschen sonst so ihre Habseligkeiten horteten. Rüdiger hatte keine Ahnung. Er zuckte zusammen, als Detlef sich vor ihm aufbaute. „Was ist jetzt? Bist du mit von der Partie?“

Rüdigers Adamsapfel hüpfte.

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Einer Antwort wurde er Gott sei Dank enthoben, weil über ihnen plötzlich ein entsetzliches, Blut in den Adern erstarren lassendes Geschrei ertönte. Die unmenschlichen Schreie entrangen sich eindeutig der Kehle von Gerd. Wie schützten die Messerschmidts ihre Wertsachen? Mit eisernen Fußfallen? Die Schreie schienen nicht enden zu wollen.

Detlef fuchtelte mit dem Schnellfeuergewehr. „Was ist da los?“, verlangte er brüllend zu wissen.

Die gefesselten und geknebelten Messerschmidts guckten nur, wie man als Geisel eben guckt. Ängstlich. Bis auf die Hausherrin in Kaschmir, die guckte empört.

„Geh nachsehen!“, befahl Detlef und schubste Rüdiger in Richtung Treppe.

Rüdiger hob das weiße Spitzenkleid an, pustete sich eine blonde Kunsthaarlocke aus dem Gesicht und stieg vorsichtig die Stufen hoch. Der Gedanke an Flucht keimte kurz in ihm auf, aber Detlef stand mit dem Gewehr in der Tür und beobachtete mit dem rechten Auge die Geiseln und mit dem linken Auge ihn. Dabei half ihm, dass er von Natur aus schwer schielte.

Stufe um Stufe näherte sich Rüdiger den Schmerzensschreien von Gerd. Vielleicht hatten die Messerschmidts im ersten Stock ja auch einen Bodyguard-Schrägstrich-Ninja versteckt, der Gerd gerade mit gezielten Handkantenschlägen vierteilte? Rüdiger konnte kein Blut sehen. Sein Adamsapfel hüpfte schon wieder. Konnten Adamsäpfel Muskelkater bekommen?

Als er den Treppenkopf erreicht hatte, sah er, was das Problem war. Ein riesiger, gescheckter Pitbull hatte sich in Gerds grünes Weihnachtselfgesäß verbissen.

Rüdiger hatte einmal gelesen, dass es unmöglich war, den Kiefer dieser vierbeinigen Kampfmaschinen auseinanderzuhebeln, wenn sie sich erst mal verbissen hatten. Das sah nicht gut aus für Gerd.

„Mach doch was!“, schrie Gerd.

Rüdiger öffnete die erste Tür rechts. Ein Badezimmer. Ziemlich edelkitschig mit vergoldeten Armaturen. Auch hier Weihnachtsdeko in Form von weißen Keramik-Engeln. Er füllte einen Zahnputzbecher mit Wasser, trat wieder hinaus auf den Flur und schüttete das Wasser über den Hund.

Wenn in diesem Augenblick Hund und Opfer etwas einte – außer der Tatsache, dass sich die spitzen Hauer des einen in die Weichteile des anderen verbissen hatten –, dann der verächtliche Blick ihrer Augen. Der Blick galt Rüdiger.

„Hilft nicht“, konstatierte Rüdiger.

Gerd sah aus, als hätte er Rüdiger am liebsten erwürgt.

Der Hund knurrte.

„Isch sagé Detlef Bescheid“, erklärte Rüdiger und trat den strategischen Rückzug an.

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„Hat er wenigstens schon irgendwas einkassiert?“, wollte Detlef wissen, nachdem Rüdiger ihm Bericht erstattet hatte.

„Äh … isch ’abe nicht gefragt …“ Rüdiger schürzte die Lippen.

Jedem anderen hätte ein Kerl wie der falsche Detlef in diesem Moment den Lauf der Knarre gegen die Nase gerammt, aber nicht Rüdiger. Rüdiger war das personifizierte Unschuldslamm. Naiv und lieb. Aber auch strunzdumm.

„Dann geh hoch und frag ihn“, raunzte Detlef. „Hier, nimm das Messer mit und schneid der Töle die Kehle durch.“ Alle Messerschmidts gaben Jammerlaute hinter ihren Socken beziehungsweise Feinstrümpfen von sich, sogar die Kaschmirfrau, aber die vermutlich nur, weil sie Angst hatte, die Putze könnte die Blutflecken nicht aus dem Teppichboden bekommen.

Rüdiger stapfte die Treppe hoch. Er hatte noch nie etwas getötet. Nicht, dass er Vegetarier war, aber was er aß, pflegte bereits tot zu sein. Und im Grunde mochte er Hunde. Wer wusste schon, ob nicht Gerd in diesem Fall der Böse war und ob er den braven Haushund grundlos getreten hatte? Vielleicht handelte es sich seitens des Hundes um reine Selbstverteidigung?

Oben war es in der Zwischenzeit noch lauter geworden. Gerd wirbelte wie ein Derwisch im Kreis und schrie gellend. Der Hund hing festgebissen an Gerds Hintern und rotierte in dieser Halbhöhe knurrend durch die Luft.

Rüdiger räusperte sich.

Gerd bekam in seiner Raserei davon nichts mit.

Der Hund sah Rüdiger, sah das Messer, sah die Butter an dem Messer und machte sich weiter keine Sorgen.

Auf dem Teppichboden lag der Weihnachtsmannsack von Detlef. Vorhin war er noch schlaff gewesen, jetzt blähte er sich prall auf. Bestimmt voller Beute.

Rüdiger nahm den Sack an sich.

Er schaute noch einmal den Hund an, von dessen wild glühenden Augen er immer nur bruchstückhaft etwas sah, wenn der Pitbull an ihm vorbeigeflogen kam. Rüdiger ließ das Buttermesser fallen.

Gerds Geschrei tat seinem Trommelfell weh.

Rüdiger schulterte den Sack und ging wieder nach unten.

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Detlef stand nicht mehr in der Tür. Er stand vornübergebeugt am Esstisch und schnupperte.

„Rieche ich da etwa eine Hefeteigfüllung?“ Er schnupperte geräuschvoll. Der falsche Detlef war begeisterter Hobbykoch. Er sah zu der Haushälterin. „Mit einem Sirup aus Honig und Sojasoße eingestrichen?“ Er fuhr sich mit einer fleischigen Zunge über die Lippen.

„Du, Detlef“, sagte Rüdiger und vergaß dabei seinen französischen Akzent nicht. „Gerd ist unabkömmlisch, und das Messer war nicht scharf genüg für die ’ünd.“

„Und was ist in dem Sack?“, wollte Detlef wissen, richtete sich auf und trat einen Schritt auf Rüdiger zu.

Dummerweise hatte Rüdiger schon vor Detlefs Frage mit dem rechten Arm Schwung geholt, um ihm den Sack zuzuwerfen. Der Sack traf Detlef folglich unvorbereitet volle Kanne mitten ins Gesicht, weswegen er nach hinten stolperte, den Halt verlor und rücklings zu Boden ging. Dabei löste sich eine neue Salve aus dem Schnellfeuergewehr. Alle kauerten sich zusammen, auch Rüdiger. Er hörte noch einen dumpfen Knacks, dann Stille.

Die Stille des Todes.

Also, abgesehen von Gerds Schreien und dem Knurren des Hundes aus dem oberen Stockwerk. Und dem immer noch oratierenden Knabenchor aus den teuren Bose-Boxen.

Detlef lag reglos vor dem Esstisch. Auch seine Brust hob und senkte sich nicht mehr.

Rüdiger tippte auf finalen Genickbruch.

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Wenn Rüdiger in seinen 22 Lebensjahren etwas klar geworden war, dann, dass er nicht zu den hellsten Köpfen auf diesem Erdenrund gehörte. Zum Nachdenken brauchte er immer etwas länger. So stand er und stand er und erwachte erst aus seinem Grübelkoma, als es mit einem Schlag totenstill wurde. Die Knabenchor-CD war verstummt und aus dem oberen Stockwerk hörte man weder Schreie noch Knurren.

In diese Stille hinein reifte in Rüdiger spontan eine Erkenntnis. Er steckte zu tief drin. Ein Anruf bei der Polizei stand mittlerweile außer Frage. Ihm kam zugute, dass die Agentur ihre Aushilfen schwarz beschäftigte und er deshalb einen erfundenen Namen hatte angeben können: Jacques Clouseau, französischer Austauschstudent.

Nein, es gab keinen Weg zurück. Er musste auswandern, irgendwohin weit weg, Patagonien oder Frankfurt an der Oder. Er würde sich etwas Geld von den Messerschmidts ausleihen und andernorts noch mal völlig neu anfangen.

Aber man durfte ihn unterwegs nicht erkennen. Also fing er an, Detlef auszuziehen.

Detlef war im Übrigen nicht tot, nur komatös. Das feuerrote Weihnachtsmannkostüm war Rüdiger definitiv zu groß und hing formlos an seinem hageren Körper herab, aber egal, dann sah er eben aus wie der Weihnachtsmann nach einer Weight-Watchers-Diät. Er wollte ja keinen Weihnachtsmannschönheitswettbewerb gewinnen. Hauptsache, man erkannte ihn nicht als Rüdiger.

Eklig war der Bart. Rüdiger hasste Vollbärte. In denen lebten Suppennudeln, Zecken und anderes Kleingetier. Er spürte förmlich, wie die Eiterflechte zu wuchern begann, als er sich den Bart überstreifte. Aber es half ja alles nichts.

Als er sich rundum verkleidet aufrichtete und den Sack schulterte, hörte er auf einmal wieder das Knurren des Pitbulls. Nur sehr viel lauter. Und näher. Quasi direkt hinter ihm.

Rüdiger drehte sich um.

Und ja, da stand er. So nah, dass Rüdiger das Namensschild am Halsband lesen konnte.

Sonja.

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„Ho, ho, ho“, rief Rüdiger und versenkte das Messer tief ins Fleisch.

Es hatte etwas von einem Schlachtfest an sich.

Mit dem Tranchieren hatte er es nicht so: Soße spritzte auf, Gänsefetzen flogen.

Sonja sabberte erwartungsvoll.

Frau Messerschmidts Augenbrauen schossen nach oben. Sie hätte gern „Passen Sie doch auf! Das ist eine Bio-Freilauf-Edelgans, nach einem Lafer-Rezept geschmort!“ gerufen, aber sie konnte nicht, sie hatte ihre Wolford-Strumpfhose im Mund.

„Isch bedauere die Soßeflecke auf der Damasttischdecké, aber dursch diesen ekligen Bart se’e isch kaum etwas“, entschuldigte sich Rüdiger.

Man konnte ihm wirklich keinen Vorwurf machen: Es war ein billiger Einer-passt-allen-Rauschebart aus dem Fundus von Rent-a-Santa, für Rüdigers schmales Gesicht viel zu füllig und nach unsachgemäßer Reinigung zu urwaldgleicher Verstrupptheit föngeblasen.

Rüdiger warf Sonja einige Gänsehappen zu, ohne Knochen, dann säbelte er herzhaft weiter. Er hatte eine lange Flucht vor sich und brauchte unterwegs womöglich Stärkung. Als er der Prachtgans endlich beide Beine amputiert hatte, strahlte er glücklich: „Gänsekeulen-to-go!“

Die große Standuhr mit dem Westminsterschlag schlug 19 Uhr, als Rüdiger die Gänsekeulen – in Stoffservietten gehüllt – in seine Weihnachtsmannhosentaschen schob. Er schulterte den Sack, von dem er noch nicht wusste, dass eine Viertelmillion Euro in steuerhinterzogenem Schwarzgeld darin lag und die Köhlbrand-Messerschmidts den Verlust dieser Summe den dreißig Minuten später – aufgrund des Anrufs eines „anonymen Nachbarn“ – eintreffenden Streifenbeamten nicht mitteilen konnten.

Sie konnten nur den falschen Detlef (schwere Gehirnerschütterung, geprellte Halswirbel) und den falschen Gerd (Kreislaufkollaps nach Hundebissschocktrauma) wegen Einbruchsversuchs mit Geiselnahme verhaften lassen. Dass ein Dritter im Bunde gewesen war, verschwiegen die Messerschmidts. Und auch Rent-a-Santa breitete den Mantel des Schweigens über den nicht versicherten Schwarzarbeiter. Es war, als hätte Rüdiger nie existiert.

Die letzten Worte des sehr real existierenden Rüdiger an die Messerschmidts hatten gelautet: „Isch werde Rettüng für Sie verständigen, sobald isch genügend Vorsprüng ’abe.“ Nur nicht aus der Rolle fallen! Das hatte er aus einem Zeitungsinterview mit Robert de Niro. Hoffentlich gab es in Patagonien oder Frankfurt an der Oder eine Theatergruppe, der er sich anschließen konnte. Ihm würde sonst was fehlen.

Dann war Rüdiger hinaus in die Nacht geschritten.

Pitbull Sonja sah ihm nach, sah zu den Messerschmidts, sah wieder zu Rüdiger und lief ihm wackelnd hinterher.

Hund und Herr marschierten dem Horizont entgegen. Den Sonnenuntergang musste man sich dazudenken. Es war ja der 24.12. und somit um diese Zeit schon stockfinster in dem feinen Villenvorort.

Aber eins war klar, auch wenn es die beiden in diesem Moment noch nicht wussten: Sie waren auf ihrem Weg ins Glück.

Ein Weihnachtshappyend!