Zu spät?

Langsam falte ich den Brief zusammen.

Mir laufen Tränen über das Gesicht.

Er war da.

Er war bei mir, mein Paul.

Unser Paul.

Wir waren in demselben Raum.

Und ich habe ihn nicht erkannt.

Ich habe ihn nicht in den Arm genommen.

Und er mich nicht.

Ich habe nicht sagen können:

Paul, ich habe dich so vermisst.

Ich konnte mich nicht bei ihm entschuldigen.

Ihm alles erklären,

so wie es wirklich war.

Laura hat ihn angelogen.

Weshalb hat sie ihm nicht erzählt,

dass sie mich rausgeschmissen hat?

Und weswegen ich gehen sollte?

Hat Laura mir vergeben?

Nein, bestimmt nicht.

Sonst hätte sie Grüße in den Brief geschrieben.

Ich schlage mit den Fäusten auf den Tisch.

„Laura! Paul!“, rufe ich.

„Alles war ein Irrtum.

Ich konnte nichts dafür.

Für dieses Leben ohne Luft, ohne Liebe, ohne Worte.

Für mein Versagen.

Für mein Schweigen und meine Lügen.

Aber jetzt, jetzt kann ich es doch.

Laura, Paul, ich kann doch jetzt

lesen und schreiben.“

Aber es ist zu spät.

Erschöpft lehne ich mich auf der Bank zurück.

Der Sommer geht zu Ende.

Das Meer wird grau.

Die Sonne geht immer früher unter.

Ich kann nichts mehr wieder gutmachen.

Es ist zu spät.

Immer wieder lese ich Pauls Brief.

Es tut gut, und es tut weh.

Und dann beschließe ich:

Ich werde Paul schreiben.

Einen langen Brief werde ich ihm schreiben.

Ich werde Paul alles erklären.

Er soll alles von mir wissen.

Ich will keine Lügen mehr.

Und dann ist es endgültig vorbei,

aber wenigstens ehrlich.

Ich werde auch Laura schreiben.

Einen langen Brief werde ich ihr schreiben.

Ich will ihr erklären, wie alles für mich war.

Dieses Leben in ständiger Angst.

Diese ständige Angst, entdeckt zu werden.

Diese Angst, alles zu verlieren,

wenn die anderen es merken.

Und ich werde ihr schreiben,

dass ich sie immer noch liebe.

Und sie soll sehen, dass ich schreiben kann.

Auch, wenn es jetzt zu spät ist.

Am Abend zünde ich das Kamin-Feuer an.

Bei mir im Gartenhaus.

Ich zeichne nicht.

Ich male nicht.

Ich starre nur in das Feuer.

Plötzlich klopft es leise an meiner Tür.

„Herr Gärtner?“, fragt draußen eine Stimme.

Es ist Frau Hansen.

Sie spricht ganz leise.

Ich öffne die Tür.

„Ich möchte mich entschuldigen“, sagt sie.

„Ich habe etwas übersehen.

In meine Zeitung war eine Karte gerutscht.

Sie ist vorhin aus der Zeitung gefallen.“

Frau Hansen ist fast den Tränen nahe.

„Die Karte ist für Sie, Herr Gärtner.“

„Ist doch nicht schlimm“, will ich sie trösten.

„So was kann doch passieren.“

Aber Frau Hansen ist ganz aufgeregt.

„Kommen Sie doch rein“, sage ich.

„Draußen ist es zu kalt.“

Sie setzt sich in den Sessel zu mir an den Kamin.

„Lesen Sie“, sagt sie und zeigt auf die Karte.

Warum ist sie nur so aufgeregt?

„Lesen Sie laut!“, sagt sie.

Wie ein Befehl hört sich das an.

Sie kann es nicht erwarten.

Weil sie weiß, was da steht?

Ich halte die Karte in das Licht des Feuers.

Ich lese Frau Hansen vor:

Lieber Papa,

in meinem Brief habe ich das Wichtigste vergessen.

Deshalb schreibe ich noch schnell

eine Karte hinterher.

Ich bin stolz auf dich, Papa.

Mama gefallen deine Bilder auch.

Ich darf in den Ferien zu dir kommen.

Ich freue mich.

Dein Paul