Die ATL – ein Plädoyer von Liliane Juchli und Ursula Geißner

Die ATL (Aktivitäten des täglichen Lebens) – eine Ordnungsstruktur im Kontext eines ganzheitlichen Menschenbildes

Liliane Juchli

Zur Bedeutung der ATL, wie ich sie im Verlaufe meiner Arbeit am Krankenpflegelehrbuch über eine Zeitspanne von mehr als 25 Jahren (1969 – 1997) entwickelt und beschrieben habe, möchte ich einige Grundüberlegungen an den Anfang stellen.

  1. Die Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL, engl. ADL = Activities of Daily Living) sind zwölf Elemente, die zwar als Ordnungsstruktur ein umfassendes Pflegeerfassungsinstrument sind, das aber nicht isoliert, sondern nur als Teil eines ganzheitlichen Pflegemodells zur Anwendung kommen sollte.

  2. Die Orientierung an den ATL ist demnach ein methodischer Zugang zur Erfassung des Menschen – ob gesund oder krank. Sie bleibt so lange ab„strakt, solange sie nicht in Beziehung gebracht wird mit dem Grundsatz jeglichen Lebens in seiner Lebendigkeit, wie auch in seiner steten Entwicklung und Veränderung.

  3. Das Leben lässt sich nicht in Begriffsystemen und Ordnungsstrukturen einfangen, aber wir brauchen diese, um menschliche Fähigkeiten, Ressourcen und Probleme erfassen und beschreiben zu können.

  4. In der Wahl eines Systems treffen wir eine Grundsatzentscheidung, die aber erst wirksam wird, wenn wir sie einlösen. Diese Einlösung aber kann so oder so geschehen. Das heißt: Ich verhalte mich, und indem ich mich verhalte, greife ich in Situationen ein.

  5. „Sich verhalten“ ist ein Beziehungsausdruck des Menschen in der Welt. Dies kommt insbesondere in der zwischenmenschlichen Begegnung – im Sein und im Handeln – zum Ausdruck. Die menschliche Begegnung ist somit die essenzielle Basis der Pflege überhaupt. Mein Kernwort „Ich pflege als die, die ich bin“ verbindet demnach die Art und Weise, wie ich den Menschen sehe, wie ich auf ihn zugehe, und bestimmt die davon abgeleitete Sorge und Pflege. Die Ordnungsstruktur ATL kann und darf demnach nicht isoliert vom zugrunde liegenden Menschenbild betrachtet werden.

  6. Der kranke Mensch, der Pflege braucht, ist darauf angewiesen, dass er ganzheitlich gesehen wird. Ohne diesen Zusammenhang kann jedes Tun zur Funktion und können selbst die ATL zur reinen Technik werden. Unverzichtbar ist und bleibt deshalb die Frage nach dem Menschen in seiner Ganzheit. Damit steht und fällt eine sinnvolle Anwendung der ATL als vertretbare und taugliche Grundlage sowohl für die Erfassung und Beschreibung von „Pflegediagnosen“, wie auch die „Anwendung von Assessment-Strategien“ in der Pflege, wo es um das konkrete Umsetzen des Pflegeprozesses geht (erfassen, einschätzen, steuern und bewerten).

Ein ganzheitliches Pflegemodell, wie ich es verstehe, basiert somit auf

Alle Modelle haben eines gemeinsam: Sie erfassen nie das Ganze. Dies gilt für jeden Erklärungsversuch, sei dieser bezogen auf das Weltbild, das Menschenbild, das Gottesbild oder ein Pflegeleitbild.

Zwar versuchte ich über Jahrzehnte – von Auflage zu Auflage – eine Sichtweise vom Menschen in seinen Bezügen darzulegen wie auch deren Beziehung zu den ATL in ihrer Verknüpfung untereinander aufzuzeigen. Was ein Buch aber nicht leisten kann, ist die Umsetzung, deren Wirksamkeit im Pflegealltag abhängig ist von den Menschen/den Pflegenden, die ein Instrument gebrauchen.

Menschenbild und Pflegeleitbild Es ist hier nicht der Ort, um meine Theorie vom Menschen zu beschreiben oder zu begründen. Kurz zusammengefasst sehe ich den Menschen in seinen Bezügen

Es ist mir bewusst, dass auch die beste Beschreibung vom Menschen in seiner Ganzheit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt und sie immer nur ein fragmentarischer Erklärungsversuch sein kann. Das war mir vor 25 Jahren ebenso bewusst, wie es mir heute noch immer ist. Vielleicht bin ich dabei einfach etwas bescheidener geworden meinen eigenen Bemühungen gegenüber, wie auch gegenüber den Erklärungsversuchen, die uns die Wissenschaft anbietet.

Es bleibt aber auch im 21. Jahrhundert wahr. Jedes Modell bleibt eine leere Hülle, wenn es nicht das Leben und das Lebendige ins Zentrum rückt. Auch der Begriff „Ganzheitlichkeit“ lässt sich im Letzten nicht beschreiben, stehen doch auch die Wissenschaftler vor einem im Letzten nicht Benennbaren, wenn sie zu erklären versuchen, dass „das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile“ (H. P. Dürr, Atomphysiker).

Aktivitäten des täglichen Lebens Die Auseinandersetzung sowohl mit den altgriechischen Gesundheitsmodellen wie auch mit den neueren Erkenntnissen in der Heilkunde und Pflege hat mein Denken immer wieder neu herausgefordert. Diese stete Neuorientierung lässt sich im Vergleich der verschiedenen Auflagen des Buches „Pflege“ leicht feststellen.

So habe ich in der 2. Auflage (1972) den „Regelkreis gesunden Lebens“ ein erstes Mal thematisiert, damals noch in Anlehnung an die Bedürfnispyramide von A. Maslow und den von Virginia Henderson in den Grundregeln der Krankenpflege beschriebenen „Grundbedürfnissen des Menschen“. Die nachdenkende Beschäftigung mit den Grundelementen der alltäglichen Wirklichkeit des Lebens, anlässlich einer eigenen schweren Krankheit und eines nachfolgenden zweijährigen Einsatzes in der Pflege, haben mich 1981 veranlasst, die Bezeichnung „Grundbedürfnisse“ zu ändern und von „Aktivitäten des täglichen Lebens“ zu sprechen.

Als „unterstützende und stellvertretende Übernahme“ sind sie seit der 4. Auflage, als Umsetzungsinstrument (Ordnungsstruktur) eines ganzheitlichen Menschenbildes, ein unverzichtbares Merkmal meines Pflegekonzeptes. Ich habe die Benennung und Bedeutung der einzelnen ATL im Verlauf der Jahre nur unwesentlich verändert und kann auch heute noch vollumfänglich dahinterstehen. Die ATL sind und bleiben ein Ausdruck des Lebens, und die Pflege dient dem Leben.

Die ATL aus heutiger Sicht Ich versuche im Folgenden auf einige kritische Punkte hinzuweisen:

Ein Beispiel zur ATL „Sich bewegen“ Datenerhebung im Fragen nach Fakten:

Der Patient klagt über Gehprobleme, er kann nur am Rollator gehen.

Im Unterschied dazu: Datenerhebung mit Blick auf die konkrete Situation dieses Menschen, in der Frage nach der Bedeutung des Problems. Es treten dabei neue Gesichtspunkte in den Vordergrund:

Der Patient hat intakte Bewegungsimpulse, ist aber vor drei Wochen gestürzt, hat Angst vor erneutem Fallen und verspannt nun seinen gesamten Gehapparat.

Eruiert wird hier nicht einfach ein Problem, sondern der eigentlich Handlungsbedarf des Patienten in der konkreten Ist-Situation.

Was ich mit diesem Beispiel aufzeigen möchte, ist dies: Mit der Veränderung der Wahrnehmung verändert sich auch die Beschreibung der Pflegediagnose und -planung, man spricht heute von „Pflegeassessment“. Eine große Bedeutung haben dabei die sog. Assessmentinstrumente, da diese innerhalb des Pflegeprozesses Aussagen zur Qualität ermöglichen.

Eine Pflegediagnose und -planung ist das Endprodukt einer Analyse der Situation des Patienten und der Beurteilung seiner Lage in Bezug auf Fähigkeiten, Ressourcen und Probleme. Dazu sind die ATL auch heute noch (neben anderen Konzepten) ein brauchbares Mittel zu einer ganzheitlichen Einschätzung und Bewertung von pflegebezogenen und situationsgerechten Aspekten.

Thiemes Pflege, Liliane Juchli und die ATL

Ursula Geißner

Die Abkürzung ATL für „Aktivitäten des täglichen Lebens“ ist deutschsprachigen Pflegenden vertraut. Liliane Juchli hat sie 1969 in das Lehrbuch der Pflege im Thieme-Verlag eingeführt und populär gemacht.

Tradition und Verbreitung sind gute Gründe, bei einem bewährten Konzept zu bleiben. Aber auch bewährte Konzepte sind bei jeder Neuauflage eines Lehrbuches immer wieder neu zu überdenken, ganz im Sinne von Liliane Juchli:

„Ich selbst habe von Auflage zu Auflage dazugelernt, habe mich mit den neuen Erkenntnissen auseinandergesetzt und nie aufgehört, im konkreten Praxisfeld der Pflege Erfahrungen zu sammeln, Gewohnheiten zu hinterfragen und Alternativen zu wagen“, schreibt sie im Geleitwort zur 9. Auflage, als sie ihr Werk in die Hände der nachfolgenden Herausgeber legte (Thieme, Stuttgart, im Juli 2000).

In diesem Sinne ist es nicht nur gerechtfertigt, sondern auch gefordert, das Konzept der ATL zu überdenken. Passt dieses Konzept noch zu der durch Forschung und Wissenschaft weiterentwickelten Pflege? Passt es noch zu den Anforderungen an Pflegende, deren professionelles Handeln mitbestimmt wird durch verkürzte Verweildauer im Krankenhaus, durch den ökonomischen Druck, der auf der ambulanten wie stationären Pflege lastet, auf die Zunahme pflegeintensiver alter Patienten und der geforderten Anpassung an die Fortschritte der Medizin und der Technik?

Auch deshalb lohnt es sich, die ATL auf ihren Sinn und ihren Wert für die Pflege heute zu reflektieren.

„Vom Gesunden zum Kranken“ Grundlegend für das Konzept der ATL ist, dass das menschliche Leben in gesunden und kranken Tagen im Zusammenhang gedacht wird. Die ATL befassen sich deshalb immer zuerst mit dem gesunden Menschen sowie mit dem förderlichen Lebensstil und der gesund erhaltenden Lebensqualität (...).

Die Grundlage der Pflege wäre demnach (in Anlehnung an die alte Heilkunst) die „Kunst, Lebensqualität zu ermöglichen“. Mit anderen Worten,

Darin wird sichtbar: Der Pflege vorangestellt ist die Prävention, d. h. die Aufgabe,

Ganzheitliche Gesundheits- und Krankenpflege umfasst die Sorge für das Gesunde und die Pflege des Kranken, d. h., es müssen alle drei Stufen der Prävention berücksichtigt werden:

„Das Umgehen mit den ATL ist vor solchem Hintergrund eine große Herausforderung an uns – in unserem eigenen Gesundheitsverhalten wie in der beruflichen Pflege“ (Juchli, Pflege 1994, S. 49 – 50).

Ein Beispiel Wie Liliane Juchli sich diesen Zusammenhang von Gesundheit und Krankheit vorstellt, kann am besten an ihren eigenen Ausführungen festgemacht werden.

Atmen (ein Auszug) „Der gesunde Mensch soll in erster Linie eine gesunde Luft zum Einatmen zur Verfügung haben. Die ganze Problematik der bloß produktiven Nutzung der Natur ist damit angesprochen, die, so wie sie in unserem Jahrhundert gehandhabt wird, Umweltverschmutzung, Tod der Gewässer und Ausbeutung des Bodens zur Folge hat. Gesunderhaltung ist demnach ein Postulat, das alle angeht und auf der Stufe des Individuums (Rauchen, Energieverbrauch usw.) ebenso verwirklicht werden muss wie auf politischer Ebene (sinnvolle Nutzung der Natur).

Der Kranke, welcher die Unterstützung bei der Atmung bedarf, ist sehr krank. Atemstörungen treffen den Menschen vital (Vitalfunktion) und existenziell. Atembehinderung ist, wie es der Name für die schwerste Störungsform aussagt, eine Not. Atemnot ist damit immer von existenzieller Angst (Todesangst) begleitet. Es handelt sich dabei um eine Angst, die nicht wegdiskutiert oder weggenommen werden kann. Atemunterstützende Maßnahmen (Behandlung) wie Sauerstoffzufuhr, Oberkörperhochlagerung, Luftbefeuchtung usw. sind nur ein Bruchteil der Not abwendenden Maßnahmen. Betreuung und Begleitung sind ebenso wichtig. Der Atembehinderte braucht Luft (Sauerstoff, frische Luft = gelüftetes Zimmer), genügend Raum (er darf sich nicht eingeengt fühlen) und menschliche Zuwendung: eine gute Atmosphäre“ (Juchli 1998, S. 78).

Die interne Systematik Pflegende in der Ausbildung, aber auch ausgebildete Pflegende können sich, wenn sie dem Anspruch dieser Betrachtungsweise der ATL gerecht werden wollen, überfordert fühlen: „An was alles muss man denken, wenn man einem Kranken begegnet, das geht doch im Alltag gar nicht“, so oder so ähnlich stöhnen sie.

Deshalb weichen viele Pflegende aus: Sie achten nur noch auf die Symptome und konzentrieren sich auf die Symptombehandlung.

Sind sich Pflegende allerdings weiterhin bewusst, dass die Behandlung eines Symptoms nur eine sicherlich notwendige Handlung ist, dass aber der Heilungsprozess viel mehr erfordert, dann wissen sie, dass sie

Dann denken sie daran, wie stark Atemnot beängstigend und existenziell bedrohlich erlebt wird und werden ihre Begleitung und Betreuung und menschliche Zuwendung anbieten in den Zeiten dieser durch Atemnot ausgelösten Angstzustände.

Liliane Juchli weist auch darauf hin, dass alle diese typischen und unverwechselbaren Pflegehandlungen etwas mit der „guten Atmosphäre“ zu tun haben, wobei sie den Begriff Atmosphäre (= Luft) im übertragenen Sinne gebraucht.

Pflegende können umso besser in den beängstigenden Situationen der Kranken unterstützend und beruhigend tätig sein, je mehr sich alle im Team, in der interdisziplinären Zusammenarbeit bemühen, eine „gute Atmosphäre“ herzustellen. Dann herrscht eben ein „gutes Klima“.

Auch darauf legt das Konzept ATL großen Wert im Sinne von Gesundheitspflege.

Reflexion und Bewusstsein Die ATL halten im Bewusstsein, dass das, was allen Menschen in ungetrübten, gesunden Tagen so selbstverständlich erscheint, als „Aktivitäten des täglichen Lebens“ – das alltägliche Leben nämlich – abhängig ist

Oft treten diese Abhängigkeiten erst ins Bewusstsein, wenn Störungen auftreten, dann erst werden sie dem Menschen bewusst und geschätzt.

Pflegende können, wenn sie das Bewusstsein dieser Abhängigkeiten und Zusammenhänge haben, mit den Kranken nach den Ressourcen suchen, sie finden helfen oder zu ersetzen versuchen. Und auch sie selbst sollten die Möglichkeit erhalten oder sich bewahren, alle ihre lebendigen Kräfte zu pflegen.

Gesundheits- und Krankenpflegerin, Gesundheits- und Krankenpfleger Die seit 2004 in Deutschland eingeführte Berufsbezeichnung entspricht dem Konzept der ATL. Durch sie wird deutlich ein Anspruch erhoben, der eben nicht nur die symptomorientierte Behandlungspflege im Akutzustand einer Erkrankung erwartet und fordert, sondern

Die Konsequenzen Wenn Pflegende darüber klagen, dass sie den auch von ihnen gewünschten ganzheitlichen Blick in der bedrängten Situation der „immer mehr Patienten in immer kürzerer Zeit“ nicht gewachsen sein können, auch wenn sie es wollten, dann kann die Folgerung nicht sein, dass sie auf das Konzept der ATL verzichten, sondern sich dort hörbar und argumentativ einsetzen, wo Änderungen ermöglicht werden können. Es kann doch keiner aus der eigenen Berufsgruppe erwarten, dass Pflegende auf ein umfassendes Konzept von Pflege verzichten und damit ihren Beruf minimalisieren und zu einem reinen Assistenzberuf machen!

Dass auch in der Pflege nicht alles auf einmal bedacht und gemacht werden kann, das ist eine Einsicht, die in vielen Berufen, vor allem in denen, die mit Menschen zu tun haben, zu Gewichtungen und Reihungen in der Zeit auffordert.

So werden in Pflegeplänen Prioritäten gesetzt, für individuell unterschiedliche Patienten werden die Pläne aktualisiert und in der Pflegeprozessreflexion adäquat verändert.

Gäbe man das Konzept der ATL auf, dann bestünde die Gefahr, dass Pflegende die Perspektive auf den Gesamtzusammenhang, auf den ganzen Menschen gar nicht mehr in den Blick nähmen.

Dieser Gefahr sollte kein Kind, keine Frau und kein Mann je ausgesetzt werden, wenn sie Hilfe brauchen, gepflegt werden sollen. Jedem Kranken sollte gerade durch die gut ausgebildeten Gesundheits- und Krankenpfleger die Chance gegeben werden, dass sein Leben mit Leiden und Freuden bis zum letzten Atemzug betreut und begleitet und somit geachtet wird.

THIEMEs Pflege hat also die besten Gründe, das Konzept der ATL in der bewährten Tradition der Pflegebücher von Liliane Juchli beizubehalten. Es auch zu verteidigen in dem Engagement für die Pflegenden und damit auch für die Kranken.

Zürich/St. Märgen, März 2017

Sr. Liliane Juchli und Dr. Ursula Geißner