KAPITEL II
J.d.K. 987, sechsundzwanzigster Tag im elften Mondzyklus, Ewiges Eis
Die noch verbliebenen Pferde hatten die letzten strapaziösen Tage der Wanderung nicht mehr überlebt. Vermutlich waren die entkräfteten Tiere schlicht und einfach verhungert, denn noch immer fand sich kein Gras unter der frostigen Eisdecke. Daher stapften die acht Helden nun zu Fuß südwärts durch die nicht enden wollende Schneewüste. Mittlerweile hatte jeder der Gefährten erkannt, dass Jammern und Lamentieren auch keine Lösung darstellten. So setzte Esme genau wie der Rest der kleinen Truppe schweigend einen Fuß vor den anderen.
Die Sonne war gerade dabei, im Westen hinter schneebedeckten Tannenwipfeln zu verschwinden, als Bruder Furlax ein Zeichen machte, anzuhalten. »Wir sollten jetzt unser Nachtlager aufschlagen.« Der Ysdariahpriester hatte eine kratzige Stimme und musste sich schwer räuspern – die Kälte machte sogar ihm zu schaffen. »Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche wollt ihr zuerst hören?«
»Die gute natürlich.« Geros Optimismus schien wie immer ungetrübt zu sein. »Nach einer guten Nachricht stört die schlechte gleich viel weniger.«
Esme und allen anderen Gefährten war es viel zu kalt für solche Späße. Daher war außer Zähneklappern keine weitere Meinung zu vernehmen.
Bruder Furlax räusperte sich erneut und rammte seinen Speer mit beiden Händen kraftvoll in den Boden. »Hier in diesen Breiten herrschen nur im Winter Eis und Schnee. Das Erdreich ist daher nur wenige Fingerbreit tief gefroren. Wir sollten also endlich ohne allzu große Mühen unsere Zelte aufbauen und verankern können – das ist gut.«
»Und was ist die schlechte Nachricht?«, wollte Esme wissen.
»Ab morgen führt unser Weg durch das Herrschaftsgebiet der Orkstämme, beziehungsweise des Dunklen Herrschers oder wer auch immer dort in diesen Zeiten das Sagen hat. Wir sollten also äußerst wachsam sein.«
Derio klopfte sich ein paar Schneeflocken aus dem langen, braunen Bart und ließ mit zusammengekniffenen Augen seinen Blick in alle Richtungen schweifen. »Ich werde meine astralen Kräfte regenerieren und schonen müssen. Ich rechne mit unliebsamen Überraschungen, wann genau und in welcher Form auch immer.«
»Dann schnell das Zeltlager aufbauen.« Esme verschwendete keine Zeit und machte sich sofort eifrig an die Arbeit.
Oft war Esmes Pessimismus zwar ein freundlicher Begleiter, der zu mehr Vorsicht und Wachsamkeit mahnte, aber im Moment wollte sie keine allzu düsteren Gedanken in ihrem Kopf haben. Daher meldete sie sich für alle anstrengenden und unerfreulichen Tätigkeiten freiwillig, was doch ein wenig willkommener Ablenkung bedeutete.
Alle hatten gemeinsam angepackt, so dass nach kurzer Zeit alle Zelte aufgebaut waren. Außerdem schützte ein provisorischer Rundwall aus Schnee das kleine Lager vor den kalten Winden.
Esme teilte sich diese Nacht ihr Zelt mit dem Surlaksgeweihten Valentin. Nur eine winzige Kerze aus Bienenwachs brannte und spendete den beiden Gefährten so ein wenig Licht in der Dunkelheit.
Der sympathische Novize hatte sich in alle ihm verfügbaren Decken und Felle gewickelt, so dass nur Teile seines Gesichts zu sehen waren. So sah er aus wie eine dicke fellige Raupe – eine Raupe mit blauen Lippen allerdings.
Esme musste an die kältesten Winterabende ihrer frühen Kindheit denken – an die längst vergangenen Jahre, bevor ihre Familie bei einem nächtlichen Orküberfall feige ermordet wurde. Man hatte sich die Zeit mit kleinen Spielen oder kurzweiligen Fragen vertrieben, bis man schließlich eingeschlafen war. »Sag mal, Valentin, was würdest du sagen, ist deine größte Schwäche?«, fragte sie aus einer spontanen Laune heraus.
»Meine größte Schwäche ist zugleich meine größte Stärke: schöne Frauen.« Valentin lachte. »Das hätte zumindest der Sandfuchs geantwortet.«
Esme musste fast ein wenig schmunzeln. »Und was würde der Surlaksnovize Valentin antworten?«
»Meine größte Schwäche ist vermutlich, dass der Geweihte Valentin sich selbst noch finden muss. Die größte Stärke ist, dass ich auf meinen Gott vertrauen kann, wenn es wirklich drauf ankommt. Abgesehen davon: Hoffentlich mögen mich schöne Frauen immer noch gut leiden – ich jedenfalls schätze die weibliche Schönheit noch genauso wie früher.«
Die Andeutung eines Lächelns huschte über Esmes Gesicht. »Mir zumindest ist der Geweihte wesentlich sympathischer als der Meisterdieb.«
Für einen Moment herrschte ein angenehmes, geradezu vertrautes Schweigen. Nur der kalte Nachtwind heulte unruhig um Schneewall und Zelte herum.
Valentin betrachtete die Kriegerin mit großen braunen Augen voll von ehrlichem Interesse. »Und was ist mit dir, Esme, wo fühlst du dich stark oder schwach?«
»Göttervertrauen ist meine Stärke. Viele würden mich furchtlos nennen, aber das stimmt nicht – ich vertraue einfach nur. Meine größte Schwäche ist eigentlich viel zu offensichtlich: Diese unbändige Freude am Leben, Geros allzeit fröhliche Art, diese positive Energie … so empfinde ich nicht. Ich tue die Dinge aus der Notwendigkeit heraus. Wenn Geros Lebensfreude ein riesiges Feuer ist, habe ich eine kleine Kerze. Das hat alles seine Gründe, aber es wäre besser, wenn es anders wäre, oder?«
»Nein, es ist gut so, wie es ist.« Valentins Lächeln war voller Ehrlichkeit und kraftvoll. »Eine nahe Kerze kann mehr Licht und Wärme spenden als ein fernes Feuer. Außerdem wäre die Welt äußerst fad und langweilig, wenn alle Menschen Geros Gemüt teilen würden.«
»Ich vermute, du hast Recht, Valentin«, murmelte Esme müde und unterdrückte dabei ein Gähnen. »Es ist ja auch letztlich deine Berufung als Geweihter, Recht zu haben, genau wie es meine Berufung als Kriegerin ist, für die Zehn auf dem Schlachtfeld zu stehen.«
Jetzt wurde auch Valentin müde. Allerdings musste der Geweihte zeitgleich gähnen und lachen. »So habe ich das bisher noch nicht gesehen. Aber ich bin ja auch erst seit sehr kurzer Zeit geweihter Novize.«
»Ich sehe, wir sind beide müde und der Tag morgen wird wieder eiskalt und anstrengend werden. Wir sollten jetzt ein wenig schlafen. Gute Nacht, Valentin.«
»Gute Nacht, Esme. Ich wünsche dir schöne Träume. Mögen die zehn Götter über deinen Schlaf wachen.«
Esme pustete die kleine Kerze aus und auf einen Schlag war es stockfinster im Zelt.
Es war tatsächlich nur wenige Mondzyklen her, dass Esme und Valentin sich kennengelernt hatten. Dennoch war da mittlerweile eine Vertrautheit ganz so, als ob sie sich schon eine halbe Ewigkeit kennen würden.
Anfangs hatte Esme den doch etwas überheblichen Meisterdieb namens Sandfuchs nicht wirklich leiden können. Doch der warmherzige Surlaksgeweihte Valentin entpuppte sich Tag für Tag als angenehmere Gesellschaft. Verbrachte Esme ihre spärliche freie Zeit mittlerweile lieber mit Valentin als mit Derio oder Gero, obwohl auch die beiden sehr treue Freunde und stets tapfere Gefährten waren?
Esme schloss leise gähnend die Augen. Die Kriegerin war an diesem Abend viel zu müde, um über derlei Nebensächlichkeiten nachzudenken.