KAPITEL III
J.d.K. 987, elfter Tag im zwölften Mondzyklus, Borburg, die Hauptstadt des Königreichs Noweiten
Die letzten Tage ihrer Reise, seit die Gefährten die große Verteidigungsanlage passiert hatten, waren dankenswerterweise ebenso schnell wie ereignislos vergangen. Mit ausgeruhten Pferden und in Begleitung von erfahrenen Soldaten war Esme die Etappe trotz bitterkalter, finsterer Nächte fast schon wie ein Spaziergang vorgekommen.
Nun standen Esme und ihre Gefährten auf dem großen Platz vor dem Haupteingang des Tempels Zum Brennenden Stahl. Dort gönnten sie sich eine Minute Pause und genossen die imposanten Eindrücke hier im Herzen der altehrwürdigen Königsstadt Borburg.
Die Flamme, die seit hunderten von Jahren ohne Unterbrechung aus der Spitze des Tempels loderte, strahlte gleichzeitig Wärme und grimmige Zuversicht aus.
Trotz der niedrigen Temperaturen tummelten sich zahlreiche Menschen und Zwerge auf dem Vorplatz des Tempels. Waffenhändler und Rüstungsschmiede schlossen ihre letzten und besten Geschäfte des Jahres ab. Und nahezu jeder Bürger der Stadt schien in den Tempel zu strömen, um dort ein paar Münzen zu spenden und göttlichen Beistand zu erbitten.
Außer Waffen und Rüstungen gab es auch einige Buden auf dem Tempelvorplatz, die Winterkleidung, warme Speisen oder heiße Getränke verkauften. Auch hier waren die Umsätze dem Wetter entsprechend außerordentlich hoch.
Gerade kam der Esmes Gefährte Gero von einem dieser Stände zurück. In den Händen hielt er sieben warme, duftende Brötchen, die allesamt mit Käse und Schinkenwürfeln überbacken waren. Mit seinem typischen freundlichen Lächeln auf den Lippen verteilte er diese Köstlichkeiten an Schwester Irina, Bruder Furlax, Derio, Schwester Marlia, Valentin und an Esme. Speis und Trank standen auf Geros Prioritätenliste nun wirklich nicht an letzter Stelle.
Esme biss genüsslich in ihr Brötchen und ließ sich diese unerwartete, warme Mahlzeit schmecken. Der Bäcker hatte sein Handwerk wirklich gut verstanden und weder an würzigem Käse noch an herzhaftem Schinken gespart.
Währenddessen betrachtete Esme nachdenklich ihren Gefährten Gero. Der junge Krieger wirkte ungewohnt grüblerisch – für seine Verhältnisse. Schon seit Schwester Leondra und der Zwergenkrieger Turak im Turm der Schmerzen gefallen waren, wirkte Gero etwas schwermütig. Er machte zwar immer noch hin und wieder seine üblichen Scherze und lachte oft, aber doch merklich seltener als in der Zeit davor.
Außerdem war Esme aufgefallen, dass Gero ab und zu nachdenklich in die Leere starrte, genau wie er es jetzt gerade wieder machte. Allerdings war Esme sich sicher, dass Geros unerschütterlicher Optimismus und seine kompromisslose Lebensfreude bald in Gänze zurückkommen würden. Die Zeit heilte zwar nicht immer alle Wunden, aber im Falle von Gero war Esme sehr zuversichtlich.
Plötzlich schallten laute Rufe über den Tempelvorplatz und eine Menschentraube bildete sich. Esme und ihre Gefährten waren allerdings mitnichten der Grund dafür. Sie alle trugen unauffällige und durch die Strapazen der Reise leicht ramponierte Pelzmäntel und hatten sich innerhalb der Stadtmauern Borburgs noch nicht zu erkennen gegeben.
Die Ursache für die Aufregung war das Erscheinen einer berühmten Valianapriesterin namens Schwester Leah auf dem Platz. Esme war sich sicher, diesen Namen zum ersten Mal zu hören.
Priesterin Leah war knapp unter dreißig Jahre jung und hatte kurze blonde Haare. Sie war in einen schlichten Wollmantel gekleidet und nur eine Brosche mit dem Symbol der Valiana am Revers verriet ihre Priesterwürde. Ihre Eskorte, mehrere Novizen, Tempelschüler und zahlreiche kampferfahrene Seeleute, hätten eigentlich eher einer altehrwürdigen Hohepriesterin zugestanden als einer jungen Priesterin.
Mit zielstrebigen Schritten und stets umringt von ihren Begleitern steuerte Schwester Leah den Eingang des Tempels an. Die Menschenmenge wich ehrfürchtig zurück oder folgte ihr sogar.
Im Vorbeigehen fiel der Blick der Priesterin auch für einen Moment auf Esme. Leahs Augen waren freundlich, ungeduldig und zornig zugleich. Der kurze Blickkontakt gab Esme Rätsel auf.
»Wer ist diese Schwester Leah? Was genau haben wir alles verpasst, während wir im hohen Norden waren?«, murmelte Esme halblaut und mehr zu sich selbst.
»Ich weiß es nicht«, meinte Valentin. »Aber ich würde fünfzig Goldlinge darauf verwetten, dass wir diese Priesterin der Herrin von Wind und Wasser noch öfter wiedersehen werden.«
»Sie ist in den Tempel gegangen, in den wir gleich gehen werden.« Geros Mundwinkel zuckten für die Zeitspanne eines Wimpernschlags schelmisch. »Es wäre also nicht sehr klug, wenn jemand deine Wette annehmen und dagegen halten würde.«
»Was steht ihr da rum wie die versteinerten Trolle?« Das war die Stimme von Karon Siebenhammer. Der Zwerg war ein Bogroschgeweihter und ein Vertrauter des Tempelvorstehers Igor Stahlhammer. Bruder Karon, der sich gerade durch die Menge drängte, war Esme noch vom letzten Aufenthalt in Borburg wohlbekannt. »Hohepriester Stahlhammer, der Erzbewahrer des ewigen Feuers, möchte euch unverzüglich sprechen.«
Esme und ihren Gefährten war es eigentlich nur recht, schnell in die Wärme des Bogroschtempels zu kommen. Sie hatten die letzten Tage und Wochen wahrlich mehr als genug gefroren. Daher folgten sie dem zwergischen Geweihten eilenden Schrittes in Richtung des säulenverzierten Haupteingangs des stolzen Tempels.
***
Derio hustete, der Rauch der Fackeln von Bruder Karon brannte in seinen Augen. Und der Adept aus Nordwacht wunderte sich sehr, wohin der Bogroschgeweihte ihn und seine Gefährten führte. Diese schmalen, dunklen und recht stickigen Gänge kamen ihm gänzlich unbekannt vor – die Gemächer von Igor Stahlhammer hätte Derio in einem ganz anderen Teil des Tempels verortet.
Schließlich siegte Derios Neugier. Er machte ein paar schnelle Schritte und tippte dem Zwerg mit der Hand auf die Schulter. »Wohin gehen wir eigentlich?«
»Zur Kammer der Steine«, brummte der Zwerg, ohne sein Tempo zu verlangsamen. »Hohepriester Stahlhammer wartet dort. Wie gesagt, er hat einige Fragen.«
Während Derio noch darüber nachdachte, was für eine Kammer und welche Fragen, hatten sie bereits ihr Ziel erreicht.
Zehn Krieger aus dem Volk der Menschen und zehn Zwergenkrieger standen schwerbewaffnet vor einer Eisentür Spalier. Es war offensichtlich, dass Igor Stahlhammer sogar hier im Innersten des heilgen Tempels mit allem rechnete. Ein kaum merkliches Geflecht aus Astralfäden deutete darauf hin, dass die muskulösen Soldaten allesamt durch ein filigranes Gewebe aus Schutzzaubern vor magischen Attacken geschützt worden waren.
Der Gang war so eng, dass Derio und seine Gefährten unwillkürlich die Bäuche einzogen, als sie sich langsam an den mit Schwertern und Äxten bewaffneten Wachen vorbeiquetschten. Nur Bruder Karon schritt furchtlos voran – um eine Haaresbreite wäre dafür allerdings sein ausladender Bart von der Klinge einer besonders wuchtigen Axt gestutzt worden.
Die nur allzu gut bewachte Kammer war winzig. Dafür war das, was die Gefährten erwartete, ungleich faszinierend. Es gab bis auf einen brusthohen Steintisch keinerlei Möbel oder Schmuck. Die Anwesenheit von Hohepriester Stahlhammer und Schwester Leah nahm Derio nur am Rande wahr.
Denn auf diesem schlichten Tisch lagen neun Steine der Götter in ihrer faszinierenden und unbegreiflichen Schönheit. Allerdings lagen die Artefakte göttlicher Macht nicht einfach nur dort, sondern sie interagierten miteinander. Warme Funken in rötlichen Farbtönen sprangen von Stein zu Stein, um im Stein des Bogrosch, Glühendes Eisen genannt, zu verschwinden und wieder von dort zu entspringen. Außerdem spannte sich alle paar Sekunden ein Lichtbogen in den Farben des Regenbogens von einem scheinbar zufälligen Edelstein zum nächsten. Auch die Schwingungen auf den astralen Ebenen, die der Adept aus Nordwacht gleichzeitig spüren konnte, waren sanft, mächtig und farbenfroh zugleich.
Derio registrierte nur ganz am Rande seiner Wahrnehmungsschwelle, dass sein Mund eine ganze Zeit offen gestanden hatte. »Die neun Steine reagieren optisch, astral und thermisch zugleich«, brummte er nachdenklich. »Jetzt verstehe ich, warum die Macht der Steine im gemeinen Volksmund auch Göttermagie genannt wird. Selbst die neuesten Theorien auf dem Gebiet der Metamagie aus dem Institut in Talunis bieten keinen Ansatz, um diese Kraft adäquat zu beschreiben.«
»Ein Stein fehlt leider«, bemerkte Schwester Leah spitz. Die Valianapriesterin mit den kurzen blonden Haaren blickte herausfordernd in die Runde der Gefährten. »Was wäre wohl, wenn Bruder Furlax mit seiner Expedition Erfolg gehabt hätte und hier alle zehn Artefakte vereint wären?«
Derio wollte schon auf diese doch ein wenig unverschämte Bemerkung eingehen, aber ein mahnender Blick Valentins stoppte ihn vorerst.
Mit einem Räuspern ergriff Igor Stahlhammer das Wort. Der Hohepriester des Gottes Bogrosch war ebenso groß wie charismatisch, so dass alle Anwesenden an seinen Lippen hingen. »Der Eisige Fels ist in der Tat nicht mit der Expedition aus dem Ewigen Eis zurückgekehrt, wie wir es erhofft hatten, und jetzt in den Händen einer ominösen Gruppierung. Das ist ärgerlich, aber nicht mehr zu ändern. Immerhin sind nicht nur neun von zehn Steinen, sondern auch der Schmied aus den alten Prophezeiungen, der geschätzte Gero Grünfels, hierher zurückgekehrt.«
»Bei den sieben Haaren am Arsch der hässlichen Schlange S’zaroz, verzeiht meine Wortwahl«, grollte Schwester Leah. »Aber wenn man mich fragt, war die Expedition ins Ewige Eis ein totales Fiasko.«
Derio hielt für einige Sekunden vor Empörung die Luft an und ballte zugleich zornig seine Fäuste. Den Namen des Gottes der Schmerzen und Dunkelheit in einem Tempel der Zehn zu nennen, war zwar nicht direkt ein Frevel, aber es war irgendwas zwischen unüblich und unerhört – insbesondere aus dem Mund einer Priesterin. Was dachte diese freche Frau sich eigentlich?
»Schwester Leah«, brummte die beruhigende Stimme von Igor Stahlhammer. »Hier und jetzt ist weder der richtige Ort noch die rechte Zeit für derlei Diskussionen. Wir müssen mit den Fakten leben und die bestmögliche Lösung für die zehn Kirchen und das Kaiserreich finden. Euer Beitrag war exorbitant wichtig und auch in Zukunft werdet ihr Euch noch ganz entscheidend einbringen können ... aber für den Moment dürft Ihr gehen. Der Säbel der Zehn muss geschmiedet werden und wie sich die Lücke seitens Ysdariah füllen lässt, möchte ich mit Furlax und seinen Leuten alleine besprechen.«
»Viel Erfolg. Möge Valiana Eurem Vorhaben den notwendigen Rückenwind geben.« Mit einer einzigen fließenden Bewegung war Priesterin Leah aus dem Raum verschwunden – sanft wie eine ruhige Welle und gleichzeitig wild wie ein Sturm.
»Habt bitte ein wenig Verständnis für Schwester Leah«, meinte Hohepriester Stahlhammer mit einem großväterlichen Lächeln auf den Lippen. »Sie ist ein von Grund auf freundlicher Mensch, der nur oft unfreundlich tut. Das ist mir sehr sympathisch und hundertmal besser andersherum.«
Gero war der Erste, der breit grinste, und steckte dann gleich auch Irina und Valentin an.
Aber auch Derio konnte nicht verhindern, dass sich ein Schmunzeln über sein Gesicht stahl. Vor kurzem war er noch wütend auf diese Leah gewesen, aber die Worte des weisen Hohepriesters trafen den Kern des Sachverhalts offenbar nur zu gut. Derio hasste garstige Menschen, die sich hinter einer Fassade aus Freundlichkeit versteckten, – dann war ihm tatsächlich diese direkte, ruppige Art der Valianapriesterin deutlich lieber.
Derio wollte gerade wieder im Anblick der neun Steine der Götter versinken, als Igor Stahlhammer sich hörbar räusperte. »Ihr könnt, wenn Ihr diese Tür verlasst, jedermann verkünden, dass aus zehn Artefakten voll zehngöttlicher Macht in Kürze der Säbel von Bernhelm Ehrwald neu geschmiedet werden wird. Genau dieses Gerücht brauchen unsere Truppen im Norden am großen Wall, um nicht die Motivation zu verlieren, um standzuhalten. Besser gestern als heute.«
»Erlaubt Ihr mir eine Frage, hochverehrter Bruder Stahlhammer?« Valentin runzelte die Stirn und schnitt kurz eine gequälte Grimasse. »Gibt es hier nicht ein winziges, kleines Problem? Ich habe die Steine hier nochmal gezählt und es sind immer noch neun. Und ich befürchte, den Eisigen Fels können wir kurzfristig sicher nicht wiederbeschaffen ...«
Igor Stahlhammer erlaubte sich für einen kurzen Moment, rau aufzulachen. »Die, die im Kaiserreich und in den zehn Kirchen die Fäden ziehen, denken in Eventualitäten und Lösungen, nicht in Problemen. Aber Ihr seid sehr jung, Bruder Valentin, und müsst somit noch einiges lernen.«
Jetzt war auch Derios Neugier geweckt. »Und was genau ist die Lösung, die ergriffen werden wird?«
»Das liegt im Detail in der Hand der Ysdariahkirche.« Hohepriester Stahlhammer drückte Bruder Furlax einen rußbeschmierten Umschlag in die Hände. »Für dich, Bruder Furlax. Am morgigen Tage erwartet man dich im hiesigen Tempel der Ysdariah. Ich wiederum rechne spätestens übermorgen mit dir und mit einem heiligen Artefakt, welches hoffentlich einen möglichst adäquaten Ersatz für den fehlenden Stein darstellt. Dann kann die Arbeit von Gero und den anderen Schmieden endlich beginnen. Wir haben bereits viel zu viel Zeit verloren, während die Truppen des Feindes immer näher rücken ...«