J.d.K. 987, einundzwanzigster Tag im zwölften Mondzyklus, im Norden des Königreichs Noweiten
Das Ziel der Kaiserlichen Nordarmee war eine große Orkfestung nordöstlich der Grenze. Dorthin, so hatten es Späher berichtet, flüchtete die Hauptarmee des Feindes. Die Orks nannten dieses Bollwerk, in dessen Mitte ein großer Turm wie ein monströser Eckzahn in die Höhe wuchs, Südzahn. Der Einfachheit halber hatte man diesen Namen in der Kaiserlichen Armee schlicht übernommen.
Noch war die Nordarmee einige Meilen südlich der Grenze zum Orkgebiet unterwegs. Daher konnte sich der Heereszug auf der gepflasterten Reichsstraße bewegen und kam in Anbetracht der Witterung recht schnell voran.
Esme teilte sich mit Valentin den freien Platz im hinteren Teil einer offenen Kutsche, die zahlreiche Fässer mit Honigmet transportierte. Beide hatten sich in unzählige dicke Decken gewickelt. Die Fahrt war zwar eine ziemliche Schaukelei, aber immer noch besser, als bei diesem Schneefall zu reiten oder gar zu marschieren.
Nur zwei Berater des Königs reisten in dessen persönlicher Kutsche komfortabler als Esme und Valentin. Torvin von Noweiten selbst zog es vor, in seiner Funktion als Kommandant der Nordarmee an der Spitze seines Heereszuges zu reiten.
Esme seufzte nachdenklich und zog die wärmenden Decken noch ein Stück enger. Eigentlich war die dunkle Bedrohung abgewehrt. Aber man hatte beschlossen, die Ländereien der Orks und Schwarzmagier in einer Winteroffensive zu überrennen. Für dieses hehre Ziel setzte man das Leben von tausenden jungen Soldatinnen und Soldaten aufs Spiel. Und jeder mit ein wenig militärischer Bildung konnte sich ausrechnen, dass auch im günstigsten Falle hunderte von Söhnen und Töchtern nicht zu ihren Eltern zurückkehren würden – zumindest nicht lebend. Und Esme kam ein zermürbender Gedanke: Sie war nicht einfach nur eine von vielen Soldatinnen. Nein, sie war eine Art Vorbild. Neben Befehl und Gehorsam gegenüber dem Kaiserreich war sie tatsächlich der Hauptgrund, warum die jungen Soldaten geradezu todesverachtend Richtung Norden zogen. Man liebte sie, jubelte ihr zu – das war Fakt. Trug sie somit auch Verantwortung für das, was kommen würde?
»Esme, meine Beste, was ist los?«, riss Valentin sie plötzlich aus ihren düsteren Gedanken. »Sehe ich Selbstzweifel oder gar Selbstvorwürfe in deinem Gesicht?«
»Bald überqueren wir die Reichsgrenze. Ich überlege, ob die Entscheidung, diesen offensiven Feldzug mitten im Winter zu führen, richtig ist«, meinte Esme nachdenklich. »Ich und der Säbel der zehn Götter sind noch mehr als König Torvin ein Symbol für diesen Feldzug. Trage ich da nicht auch ein gutes Stück der Verantwortung?«
Der junge Surlaksgeweihte blickte eine Weile in den schneeverhangenen Himmel, bevor er schließlich antwortete. »Du solltest dich nicht für Entscheidungen verantwortlich machen, die andere getroffen haben.« Valentin wischte sich mit dem Zipfel einer Wolldecke eine besonders dicke Schneeflocke von der Nase. »Aber ich weiß schon, das Ganze ist natürlich weit komplexer, vielschichtiger. Aber letztlich kennt das Schicksal als solches nur eine Richtung und die ist vorwärts.«
Esme lächelte – zumindest innerlich. Der junge Mann namens Valentin überraschte sie immer wieder mit seiner Weisheit. Er und der Meisterdieb aus Xemal waren zwar dieselbe Person, aber der Unterschied, die Entwicklung, war frappierend positiv.
Esme gönnte sich einen Schluck lauwarmen Kräutertees mit Honig aus einer kleinen, dickwandigen Lederflasche. »Ich denke, du hast Recht. Da es im Leben tatsächlich immer nur vorwärts geht, sollten wir beide in Gegenwart und Zukunft die richtigen Entscheidungen treffen. Wenn wir stark und tapfer bleiben, klug und weise handeln, stets auf die Zehn vertrauen, dann können wir dafür sorgen, dass so viele unserer Soldaten wie möglich wohlbehalten zu ihren Familien heimkehren werden.«
Valentins Mund war zwar unter einem dicken Schal verborgen, aber seine Augen zeigten, dass er lächelte. Ein Lächeln, welches Esme mehr mit wohliger Wärme erfüllte, als der Tee alleine es gekonnt hätte.