Während der neue Ofen

Während der neue Ofen gesetzt wurde, erledigte ich meine Post. Am Nachmittag lackierte ich das ebenfalls erneuerte Ofenrohr mit Silberbronze. Nach dem Anstrich verströmte das Rohr einen unangenehmen Geruch, aber das würde sich innerhalb weniger Tage verlieren. Als der Ofen erstmals eingeheizt war, legte ich mich aufs Bett und lachte triumphierend. Es war mir, als hätte ich erstmals seit fünf Jahren etwas geschafft.

Im Zimmer ging ich jetzt den ganzen Tag ohne Schuhe, das konnte ich mir erlauben, weil ich ohnehin keinen Besuch bekam, was mir recht war. In der Früh mit dem Hellwerden sah ich nicht mehr meine Atemwolken über dem Bett, das war mir ebenfalls recht. Der Raum präsentierte sich weiterhin nicht als Entsprechung des Zimmers, das jeder Mensch in sich trägt. Aber es ließ sich aushalten. Und trotz aller Schwierigkeiten tat es mir gut, diesen Ort zu haben, den ich mit niemandem teilen musste außer mit den Mäusen. Jeden Morgen war irgendwo ein Brot angefressen. / Ich machte mir täglich Röstbrote, die Scheiben legte ich auf die Herdplatte, auf beiden Seiten geröstet, besser gesagt, angebrannt, mit Butter und Marmelade bestrichen, schmeckte es sehr gut. Wenn die Brote noch warm waren, konnte ich eine Unmenge vertilgen.

Endlich war es mir möglich, so viel Wasser zu wärmen, wie ich wollte. Am liebsten hätte ich mich jeden Tag von oben bis unten gewaschen. In meinen Waschlappen, Werbegeschenk eines Wäschegeschäfts auf der Thaliastraße, waren die Worte Komm wieder! eingestickt. Ich besaß den Waschlappen seit meiner Jugend, auf Heimaturlaub hatte ich mir immer gesagt, solange ich diesen Waschlappen besitze, werde ich wiederkommen.

Auch im Körper bewirkte der neue Ofen einen Umschwung. Allmählich nahm ich an Gewicht zu, und meine Muskeln, die an der Front von der Anspannung bisweilen wochenlang geschmerzt hatten, lockerten sich. Nur noch selten wachte ich von nächtlichen Wadenkrämpfen auf. Aber mein Konzentrationsvermögen war weiterhin gleich null, ich fühlte mich wie ausgebrannt und brauchte mehr Schlaf als früher. Wenn ich in dem Lehrbuch für Elektrotechnik, das ich aus Wien mitgebracht hatte, einige Seiten las, ging mir alles wie ein Luftzug durch den Kopf.

Und doch war das Schlimmste überstanden, ich spürte, dass ich wieder zum Leben erwachte. Mit einer Flasche Wein in der Manteltasche trat ich hinaus in den Frost und ging zum Ortsgruppenleiter, um mich für die Zuteilung des Ofens zu bedanken. Ich sagte, es möge seltsam klingen, aber der Ofen sei für mich ein Stück äußere Freiheit. Der Ortsgruppenleiter lachte herzlich, er war ein großer, stämmiger Mann, etwa fünfundvierzig Jahre alt, entgegenkommend, Zahnarzt von Beruf. Aber die Annahme des Weins lehnte er ab, seine Sekretärin sei die Tratschzentrale von Mondsee, es solle nicht der Eindruck entstehen, er erweise irgendwem Gefälligkeiten. / Wir redeten ein paar Sätze über mein Befinden, ich sagte, durch das viele Schlafen in Chausseegräben und unter freiem Himmel hätte ich mir die Gesundheit verdorben, ich glaubte nicht, dass ich mich je wieder ganz wohl fühlen werde. Daraufhin klopfte er mir väterlich auf die Schulter, ich solle nicht so kopfhängerisch sein und immer trachten, wieder ganz in die Höhe zu kommen. Gleich darauf entschuldigte er sich, er habe viel zu tun. / Mir war schon im Wirtshaus aufgefallen, dass sich der Ortsgruppenleiter nicht lange aufhielt. Wenn er am Nebentisch aß, war ich noch bei der Suppe, und er putzte bereits den Teller der Hauptspeise mit einem Stück Brot.

Der Ortsgruppenleiter habe den eigenen Bruder angezeigt, weil dieser noch zwei vollständig bereifte Fahrräder im Keller gehabt habe, die längst hätten abgegeben sein müssen. Das erzählte mir der Onkel, dem ich die Flasche Wein brachte. Ich nutzte die Gelegenheit, um den letzten Verdacht zu zerstreuen, ich wolle mich eventuell bei ihm durchfressen.

Der Onkel und ich waren uns in den vergangenen Wochen nähergekommen, also fragte ich ihn, warum er und die Tante sich getrennt hätten. Er sagte, seine Arbeitsauffassung habe ihr nicht gefallen. Er selbst habe seit jeher nach dem Motto gelebt, dass es seine oberste Amtspflicht sei, sich nicht auszulaugen. Das sei der Tante von Anfang an zuwider gewesen. Sie habe die Ansicht vertreten, ein Mann müsse für sein Geld etwas leisten, ansonsten könne er vor sich selbst keine Achtung haben, geschweige denn eine Frau vor ihm. Und der Onkel sei so tief gesunken, dass er sich nicht einmal für seine Haltung schäme. In den Augen der Tante, so der Onkel, hätte er sich für fünfhundert Reichsmark im Monat ein strapaziöses Arbeitsfeld suchen sollen, aber er habe ihr zu erklären versucht, dass es im Interesse einer Ehe sei, wenn der Mann gut gelaunt und ausgeruht nach Hause komme, hingegen sei es abträglich, wenn er erschöpft und verärgert in einen Sessel falle und kaum noch Muh sagen könne. Seine Frau habe ihm widersprochen, dass eben ein Mann sich nicht gehen lassen dürfe und sich zusammennehmen müsse. Mit anderen Worten, sie habe sich nicht nur als egoistisch erwiesen, sondern auch als dumm, und das habe er ihr in aller Deutlichkeit gesagt. Die Trennung sei ihm letztlich nicht schwergefallen bei so viel Dummheit. Den Egoismus hätte er ihr verziehen.

Gemeinsam traten wir auf die Straße. Dort begegneten wir der Lehrerin jener Mädchen, die ich an der Haltestelle in St. Lorenz getroffen hatte. Sie war in meinem Alter, schlank, mit glänzendem braunem Haar, das sie schulterlang trug. Auf dem Rücken hatte sie einen Rucksack und hauchte gerade auf die Gläser ihrer Brille, die sie mit einem Ende des mehrfach um den Hals geschlungenen Schals putzte. / Ob es die Anwesenheit des Onkels war, die mich mutig machte, oder der Gedanke daran, dass wir aus demselben Wiener Bezirk stammten? Jedenfalls fragte ich, ob sie und die Mädchen sich schon eingelebt hätten. / Sie grüßte, aber zweifelnd, offenbar konnte sie sich nicht an mich erinnern. / Nachdem ich die Sache aufgeklärt hatte, redete sie nur noch mit dem Onkel. In einem betont sachlichen Ton sagte sie, das Brennmaterial, das ihrem Lager zugewiesen worden sei, reiche nicht, deshalb schicke sie die Mädchen in den Wald, wo genug Holz herumliege, das helfe, den Vorrat zu strecken. Aber sie wolle deswegen keine Probleme bekommen. / Der Onkel machte ihr ein wenig den Hof, doch schien sie zu seinem Raucherhusten Distanz halten zu wollen. Und letztlich war sie nur am Kern seiner Aussage interessiert, auf den sie mehrfach zurückkam: ob sie keine Probleme bekomme. Der Onkel seufzte, sie werde mit Sicherheit keine Probleme bekommen.

Nachdem sich der Onkel verabschiedet hatte, weil der vom Friedhof zu uns herübereilende Pfarrer ihn zur Seite gebeten hatte, seufzte auch die Lehrerin: »Bin neugierig, was aus den vielen Zusicherungen wird.« / »Fronterfahren?«, erkundigte ich mich. / Sie runzelte erneut die Stirn, und ich merkte, dass ich mit dem militärischen Ausdruck keinen guten Eindruck machte. Unsicher geworden, sagte ich: »Bei mir ist alles Krieg, ich muss mir das abgewöhnen.« / Jetzt raffte sich die Lehrerin auf, mir doch Antwort zu geben: »Ich kenne das Theater aus Schachen, wo ich im Vorjahr in einem Lager war. Hier geht es ja vorläufig noch. Aber den Kohlenkeller in Schwarzindien sollten Sie sehen, mindestens ein halber Meter hoch bloß Kohlenstaub, der nicht verheizt werden kann, darin muss man mit der Mistgabel umgraben, damit man hin und wieder eine Kohle findet und nach langwierigem Suchen den Kübel voll bekommt. Wie gefürchtet der Heizdienst bei den Mädchen ist, können Sie sich denken, umso mehr, als die Mädchen mehrfach feststellen mussten, dass der Kohlenkeller auch als Klosett in Verwendung war.« / »Das ist nicht schön«, sagte ich. / »Das ist allerdings nicht schön!«, entrüstete sich die Lehrerin, verkroch sich in ihrem drei Meter langen Schal und verabschiedete sich mit ausgestrecktem Arm.

Da ich sah, dass sie den Weg hinunter zum See einschlug, humpelte ich hinter ihr her und fragte, ob es ihr etwas ausmache, wenn ich sie ein Stück begleite, im Lazarett sei ich steif geworden wie ein gefrorener Fisch, ich müsse mich bewegen. Sie lächelte, wie man lächelt, wenn man einer Pflicht genüge tut, nickte aber, und so schloss ich mich an. / Wir hatten den Weg, der am See entlang führt, schon erreicht, da fand ich eine Gelegenheit, mich vorzustellen. Auch die Lehrerin nannte ihren Namen, Grete Bildstein. Die Possingergasse, wo ich aufgewachsen war, kannte sie, sie selber wohne im Heimhof. Als sie »Heimhof« sagte, muss etwas mit meinem Gesicht passiert sein, irgendeine Art von Erstaunen. Sie runzelte zum dritten Mal die Stirn und fragte, ob mit Bewohnern des Heimhofs etwas nicht in Ordnung sei. Das verdutzte mich erst recht, und ich brauchte eine Weile, bis ich erwiderte, dass ich die Menschen nicht nach dem Haus beurteilte, in dem sie wohnten. Aber ich hatte wohl einen Moment zu lange gezögert, sie heftete ihre grauen Augen auf mich und antwortete spöttisch: »Es zählen die inneren Werte, stimmts?« Dann wechselte sie das Thema auf etwas Gleichgültiges, aber so, als sei sie in Wahrheit mit mir fertig. Es erschreckte mich, wie sehr sich das Leben in Augenblicken konzentriert. / Später sagte sie, sie sei überarbeitet und nervös, weil eine Inspektion des Lagers angekündigt sei, sie habe den ganzen Vormittag gezittert, wenn sie irgendwo ein Auto habe fahren hören.

Der Weg beschrieb eine langgezogene Kurve und ging dann einen guten Kilometer nach Südosten auf Schwarzindien zu. Linkerhand lag ruhig der See in seiner Mulde, den Übergang zum Wasser markierte ein schmaler Streifen vereisten Schilfs. Wenn man in diese Richtung blickte, präsentierte sich eine helle Landschaft mit dem schneebedeckten Hügelkamm über dem Ostufer. Auf der anderen Seite hart gezeichnete Bäume entlang deprimierend schlechter Wege und krächzende Krähen unter grauen Wolken. / Drei junge Nonnen kamen uns entgegen. Als sie eigentlich schon vorbei waren, drehte sich eine zu uns her, ein Strahlen ging über ihr Gesicht, und sie machte mit zwei gespreizten Fingern das Siegeszeichen in meine Richtung.

Jetzt wurden die Schritte der Lehrerin rascher, so dass ich Mühe hatte, ihr zu folgen, ich hatte den Eindruck, sie habe mich schon wieder vergessen. / »Nicht so schnell«, sagte ich. Aber sie lief einfach weiter. Für einige Zeit ließ ich ihr den Vorsprung, und als ich wieder zu ihr aufgeschlossen hatte, weil sie ein Ochsengespann vorbeilassen musste, sagte sie: »Ihre Stiefel knarren fürchterlich.« / Das stimmte. Ich entschuldigte mich und erklärte, dass das Stiefelfett, das ich im Ort gekauft hatte, schlecht sei, es ziehe nicht ins Leder ein, und wenn ich die Stiefel zum Ofen stellte, damit sie trocknen, werde das Leder steif. / Wir redeten nur noch über Alltägliches, es tat mir dennoch gut, ein bisschen herauszukommen aus meinem Mief.

Wir erreichten das Gasthaus Schwarzindien nach etwa einer halben Stunde, die Sonne stand über der Drachenwand und zog hinüber zum Schober, hinter dem sie vermutlich versinken würde. Befehlsartiges Rufen von niedrigen Zahlen kam von hinter dem Haus. Dort gab es drei zum Ufer absteigende Gartenterrassen und ein großes Bootshaus, unterhalb der steilen, zerklüfteten Felsköpfe, zwischen kleinen, zerstückelten Kuhwiesen, am Rand des immer kalten, unausgeloteten Sees. / Welches die Zimmer der Mädchen waren, erkannte man an den zwischen den Fenstern gestapelten Lebensmitteln, die die Mädchen von zu Hause geschickt bekommen hatten.

Zu meiner Überraschung forderte mich die Lehrerin auf, sie hinter das Haus zu begleiten. Unter den Kommandotönen der Lagermädelführerin machten die Mädchen auf den Terrassen Gymnastik, alle in schwarzen Trainingsanzügen. Die Lehrerin sagte, den Mädchen gehe die Einsamkeit hier auf die Nerven, ihr das ständige Gewurl. Sie komme ja kaum dazu, einen klaren Gedanken zu fassen. Das wäre aber nötig, denn die Kinder kämen mit allen möglichen Fragen. Und da begriff ich, dass ich der Lehrerin dadurch, dass ich sie begleitet hatte, eine halbe Stunde Alleinsein genommen hatte. / Sie stellte ihren Rucksack an der seeseitigen Hauswand ab. Dort lehnte auch eine tragbare Schultafel, auf die mit Kreide eine ungelöste Rechenaufgabe geschrieben war. Ich erkannte, dass es sich um Dreisatz handelte, vermochte die Aufgabe im Vorbeigehen aber nicht zu lösen.

Das Lagermädel stellte beim Anblick der Herankommenden die Kommandotöne ein, für die Mädchen war dies ein weiteres Signal, und mit dem für Kinder so typischen Bewegungsüberschuss kamen sie auf uns zugelaufen. Die Lehrerin sagte: »Lassen Sie sich nicht umrennen von dem Kleinvieh, die Mädchen haben hier wirklich sehr wenig Abwechslung.«

Zuerst ging es darum, dass die Lehrerin auf dem Postamt in Mondsee ein größeres Paket abgeholt hatte. Sie deutete auf ihren Rucksack. Eines der Mädchen in meiner Nähe hüpfte wie eine Ziege immer auf demselben Fleck, so freute es sich. Was genau sich in dem Paket befand, das von der Heimatschule geschickt worden war, wurde nicht erörtert, irgendeine Art von Bastelmaterial. Das ziegenhaft springende Mädchen bekam den Auftrag, den Rucksack ins Haus zu tragen. Es schien zufrieden, dass es der Lehrerin zu Diensten sein durfte. Dann hieß es, die Stubenbesatzung von Zimmer drei solle für das Abendessen die Tische umstellen, sechs Mädchen zogen murrend ab. Ein Mädchen, das fragte, wen die Lehrerin mitgebracht habe, bekam die Antwort: »Putz dir erst einmal die Nase.« / Wir redeten dann zehn Minuten über meine Verwundungen und darüber, wo ich sie mir zugezogen hatte. Ich fühlte mich unter den Mädchen fremd wie einer, der in eine andere Klasse geschickt worden ist, um Kreide zu erbitten. Und schade, dass ich bisher nicht mehr glückliche Momente in meinem Leben hatte. Das dachte ich, als die Mädchen über die Erwähnung des Strumpfbandgürtels ganz unbefangen und herzlich lachten, ungeachtet der verstörenden Gegenwart.

Die Kinder zappelten vor Erregung. Die Anwesenheit eines Soldaten war hochinteressant. Es gefiel mir, dass sie mich zu mögen schienen. Bestimmt lag es daran, dass die offiziellen Nachrichten nur das Allerbeste über deutsche Soldaten berichteten. Als ich auf näheres Nachfragen antwortete, ich könne von ganz vorne nur Entsetzliches erzählen, sagte eine mit Hängezöpfen: »Mein Vater sagt, so schnell stirbt man nicht.« / Ich verzichtete darauf zu widersprechen, obwohl ich es anders erlebt hatte. Stattdessen sagte ich: »Diese Einstellung würde sogar einem Panzergeneral imponieren.« / Ob die Mädchen während der Überflüge Angst hätten, wollte ich wissen. Vielstimmiges »Ja«. Eines der Mädchen sagte: »Man muss nur immer die Ruhe behalten. Wenn man die größte Ruhe hat, passiert einem am wenigsten.« Ich selber hätte wohl keine Angst, fragte sie. Ich winkte ab, ich sei immer der Erste im Keller. Allgemeines Lachen. Ich fügte hinzu, gegenwärtige Gefahren könne man nicht durch überstandene abwenden, irgendwann sei jedes Glück aufgebraucht.

Weil einige der Mädchen schon begonnen hatten, soldatenhaft zu stampfen, um sich warm zu halten, beendete die Lehrerin die Zusammenkunft, sie rieb sich die rotgefrorenen Hände, worauf sich einige der Mädchen ebenfalls die rotgefrorenen Hände rieben. / »Alle rein ins Haus!«, rief die Lehrerin. / Gemäß den Regeln, die den Kindern eingetrichtert worden waren, gehorchten sie sofort. Schon beim Haus rief eines der Mädchen: »Besuchen Sie uns wieder!« Sie reckte sich selbstbewusst meinem interessierten Blick entgegen und lächelte. Ich erwiderte das Lächeln. Da wandten sich alle sofort ab und liefen kichernd davon.

Die Lehrerin blieb noch einen Moment stehen unter inneren Verrenkungen. Dann verabschiedete auch sie sich, ohne die geringste Regung. Sie nahm die Tafel mit der ungelösten Rechenaufgabe unter den Arm. Währenddessen zündete ich mir eine Zigarette an, bemüht, das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Ich grübelte, was mit mir nicht in Ordnung war. Von dem Treiben, Lärmen und Reden schmerzte mein Kopf. / Im Weggehen drehte ich mich um. An allen Fenstern des oberen Stockwerkes sah ich gestapelt Mädchengesichter, großäugig und fröhlich. / Was für ein merkwürdiges Leben die Kinder hier führten, in diesem abgelegenen Unterschlupf, wo man versuchte, sie mit Drill und Dressur an den Ernst des Lebens heranzuführen. Nachts brach das Wild aus den Wäldern, der Uhu flatterte ums Haus, die Füchse bellten. Tagsüber kamen die Singvögel zum Futterhaus, der See plätscherte an die vereisten Badestege. Und drinnen schon wieder Kommandotöne.

Bei meiner Rückkehr traf ich vor dem Haus auf die Darmstädterin. Sie stand beim Auslaufbrunnen an der Straße und wartete auf den Briefträger, der seine Abendrunde machte. Er kam zur gewohnten Zeit und überreichte der Darmstädterin zwei Briefe. Den einen steckte sie in ihren Mantel, den andern riss sie amüsiert auf und murmelte: »Von den Toten auferstanden …« Lesend ging sie zum Kinderwagen, der unter dem Vordach des Hauses stand.

Somit war das Gespräch beendet. Jetzt wusste ich, dass die Kleine am Samstag acht Wochen alt wurde, sie war zwei Wochen nach meiner Verwundung auf die Welt gekommen. Und ich wusste, dass dem Mädchen nur noch zweihundert Gramm zu fünf Kilo fehlten und dass das Kind von zehn am Abend bis sechs in der Früh durchschlief oder sich allenfalls einmal meldete. Letzteres hätte ich auch so gewusst, denn die Wand zwischen unseren Zimmern war so dünn, dass man von einem Zusammenwohnen sprechen konnte. Auf meine diesbezügliche Bemerkung erwiderte die Darmstädterin, dass ich in meiner Kammer Selbstgespräche führte, mein Lieblingssatz sei: »Das werden wir noch sehen!« / Ich sagte, manchmal wackle der Fußboden so stark, dass es unmöglich sei, weiter Brief oder Tagebuch zu schreiben. Das sei ihre Turnstunde, gestand die Darmstädterin, dreimal täglich zehn Minuten, sie glaube, ihr Bauch sei schon etwas zurückgegangen. Aber im Großen und Ganzen sei sie noch nicht zufrieden. / Was ich ihr gegenüber nicht erwähnte, war, dass sie manchmal weinte mit einer sanften, rauen Stimme. Wenn das Weinen gar zu lange dauerte, tat ich ihr den Gefallen und ließ mit Gepolter einen Stiefel zu Boden fallen, damit sie erschrak. Dann fand sie aus dem Weinen heraus.

Als ich durch die Stalltür ins Haus trat, verabschiedete sich die Darmstädterin stumm, indem sie zwei ausgestreckte Finger zur Stirn und wieder weg führte. Das war ihre normale Art.