Susi hat mich bei der Straßenbahn

Susi hat mich bei der Straßenbahn abgepasst, um mir etwas zu geben, einen Brief von dir. Sie sagte, sie wolle mir Meldung erstatten, ich glaube, die kleine Schnüfflerin ahnt, dass da etwas ist, nur versteht sie nicht, was. Kennst dich aus, liebe Nanni? Auf der Straße war es zum Lesen schon zu dunkel, ich lief schnell nach Hause, der Brief brannte mir in der Hosentasche, und dann hätte ich am liebsten einen Freudensprung gemacht, ich konnte den Brief nicht oft genug lesen und kann ihn heute schon auswendig. / Ich bereue nur, dass unser Abschied so kühl war. Ich hatte nicht den Mut, mich vor den Augen der Eltern gebührend zu verabschieden. Aber ich war auf alle Fälle sehr glücklich, dass wir uns noch einmal gesehen haben, weißt du, man kann das im Moment gar nicht so richtig sagen, das kommt erst im nachhinein. Und als du mit deinem Rucksack schon auf der Straße warst, stand ich oben am Fenster, ich seh’s noch ganz deutlich, wie du Richtung Westbahnhof trottest, mir war so schwer, ich wusste ja nicht, dass es dir auch so geht.

Du schreibst, Schwarzindien sei eine sehr verlassene Gegend, und nur ein paar Buben gehen immer vor dem Lager auf und ab. Woher kommen die Buben? Und woher weißt du, dass sie ohnehin alle blöd sind, wenn ihr immer unter Aufsicht steht und mit den Buben nichts zu tun habt? Geht ihr nie ins Dorf? Trefft ihr dort keine Buben? Also dass du mir keinen Unfug treibst, ich möchte keine Enttäuschung erleben, bitte, vergiss deinen Kurt nicht. Und hoffentlich geht das, was du dir mit der Wimper von Burksi gewünscht hast, bald in Erfüllung, ich wär schon zufrieden, wenn ich wieder mit dir unter den Eisenbahnbögen stehen könnte. Erinnerst du dich? Aber nicht so wie vor der Haustür, eher so wie an dem Samstag, als wir im Prater waren, du weißt schon, als ich hinter dir stand. Wenn ich dran denke, fängt mein Herz zu klopfen an und lässt sich gar nicht mehr beruhigen. Ich würde auch gerne wieder einmal mit dir über die Mariahilferstraße spazieren. Wenn wir im Herbst nebeneinander gegangen sind, hast du immer so geschmunzelt, das hat mir gut gefallen. Meine liebe Nanni hinter den sieben Bergen bei den sonderbaren Zwergen. Kennst du die Berge, die ihr dort seht, schon beim Namen?

An den Drill wirst du dich sicher bald gewöhnen, ich mag’s auch nicht, wenn jedem Brösel, der zu Boden fällt, hinterhergeschaut wird. Und dass ihr bei jedem Wetter draußen Morgenappell habt, ist auch nicht schön, ich kann mir vorstellen, dass es manchmal unheimlich ist, wenn im Morgennebel nur das Schreien der Fischreiher zu hören ist. Aber warum stellt ihr euch beim Aufziehen der Fahne im Quadrat auf? Hat das einen bestimmten Grund? Habt ihr’s gern eckig? Mich ärgert es, dass die Welt so eckig ist.

Kennst du die Berge jetzt beim Namen? Ich habe dich schon gefragt. Statt mir auf die Rückseite des letzten Blattes die Größe des Selchfleisches zu zeichnen, das ihr am Sonntag bekommen habt, hättest du mir besser meine Fragen beantwortet. Vor allem, was mit den Buben ist, die vor dem Lager auf und ab gehen. Was ist mit ihnen? Redet ihr mit ihnen? Schreib es mir bitte. / Und dass nach dem Essen dein Bauch auf die altbekannte Art gestanden ist, glaube ich dir, ich hätte gerne darauf getrommelt. Du, Nanni, ich vermisse dich, besonders am Sonntag, da fühle ich mich sehr verlassen. Aber zu viel darfst du nicht zunehmen, sonst kann ich mir gleich meine Mutter zur Frau nehmen. Ihr werdet dort offenbar gemästet wie die Flusspferde.

Ganz etwas anderes: Gestern war ich gemeinsam mit Mama drüben bei deiner Mutter, sie hat furchtbar geweint. Du musst ihr in Zukunft immer schreiben, dass es dir gutgeht und dass alles in Ordnung ist. Wenn du an mich schreibst, kannst du dein Herz ausschütten, ich werde schon damit fertig. Deine Mutter macht sich große Sorgen und ist sehr unglücklich. In dem Betrieb, in dem sie Spatentaschen nietet, haben sie einen neuen Meister, und deine Mutter sagt, der will den Arbeiterinnen die Haut abziehen, sie will sich dafür aber nicht hergeben, nicht für einen herumlungernden Chef, sie sagt, diese Gauner seien alle unabkömmlich gestellt und wollten nicht ihre Verbrecherhirne zu Markte tragen, dazu sei die blöde Masse berufen. Dem Betriebsobmann sei nicht zu trauen, er werde von der Betriebsleitung eingeschüchtert oder sei charakterlos und feige oder alles zusammen. Bezahlt werde nach Akkord, deine Mutter müsste fünfundzwanzig Spatentaschen in der Stunde schaffen, das geht aber nur bei ununterbrochenem Hammerschwingen, ohne ein Wort zu sprechen, dieses Quantum hält sie höchstens zwei Stunden durch bei fünfzig Gramm Fett im Monat und bei den Sorgen, die sie hat. Sie sagt, am Abend seien ihre Hände unfähig, etwas anzurühren, und das ganze Schuften habe ohnehin keinen Zweck, der Krieg werde noch ewig dauern. Ich habe es dir geschildert, damit du dir ein Bild machen und deine Briefe entsprechend gestalten kannst.

Dass du bald nicht mehr leben willst in dem langweiligen Kaff, darfst du auf keinen Fall noch einmal schreiben. Ich würde alles tun, um dich aus dem Lager herauszuholen, aber leider kann ich nicht. Du musst durchhalten, es wird alles gut werden. Und wenn es einmal sehr arg ist, schreibe es mir, dann ist uns beiden leichter.

Dicke Luft ist bei mir zu Hause auch immer, das heißt, totale Harmonie zwischen Mama und Papa, aber Susi geht mir auf die Nerven und ich ihr. Folge: Susi ist laut Eltern die Arme, und ich bin der böse Bruder. Also ziehe ich mich zurück und übe so laut Trompete, dass Papa die Tür einhaut. Dann muss ich mit ihm über Sitte und Anstand diskutieren, bis es mir reicht und ich mich hinunter auf die Gasse verziehe. Den Rest kennst du ja. Meine Schuhe werden bald anfangen zu faulen, trocken werden sie überhaupt nicht mehr, weil ich so selten zu Hause bin.

Jetzt keppelt Mama schon die ganze Zeit, weil ich dir einen so langen Brief schreibe, deshalb schreibe ich dir dieses Blatt noch dazu, obwohl ich schon nicht mehr weiß, was eigentlich. Deine Freundinnen werden Stielaugen machen, wenn sie diese Broschüre sehen, das dürfte der größte Brief sein, der je geschrieben worden ist, außer als man noch auf Ziegelsteinen korrespondiert hat. Wenn der einmal in einigen Jahrhunderten gefunden wird, kommt er ins Museum, da müssen sie dann eine eigene Vitrine dafür bauen, damit er Platz hat. Es ist komisch, aber auf gestohlenem Papier schreibe ich so gut, da fällt mir viel mehr ein. Aber meine Finger sind schon ganz steif.

Die Katze von Susi ist grad auf den Kasten gesprungen und balanciert jetzt dessen vorderen Rand entlang. Und an den Fettflecken kannst du ersehen, dass ich zur Zeitersparnis beim Schreiben Butterbrot gegessen habe.

Achtung! Achtung! Sondermeldung! Das Oberkommando im Grassingerhof gibt eine wichtige Neuigkeit bekannt: Das Ansuchen von Kurt Ritler, zu Ostern eine Fahrt an den Mondsee machen zu dürfen, ist von seinem Vater bewilligt worden unter dem Vorbehalt, dass sich im Trimesterzeugnis kein mangelhaft befindet. / Ferdl und ich wollen euch in der Karwoche besuchen. Wir hoffen, dass bis dahin kein Schnee mehr liegt und wir die Drachenwand besteigen können. Hoffentlich habe ich genug Geld. Papa hat ein Buch mit Sprichwörtern, sortiert nach Ländern, ein indisches Sprichwort sagt: Für Geld kann man sich sogar Tigermilch kaufen. / Viele, viele Grüße an meine schwarzindische Nanni! Einen Handkuss an die Vizekönigin von Schwarzindien, die Frau Fachlehrerin Bildstein, und viele Küsse auf beide Wangen an dich! Und auf den Mund noch viele Bussi! Und pack mir ein Stück von deiner Landschaft ein und schick es mir, die Berge müssen jetzt, wo es so viel geschneit hat, besonders schön sein.

Du kannst dich übrigens viel mehr trauen beim Schreiben, weil ich mir schon abgestellt habe, dass Mama die Briefe, die ich bekomme, liest. / Was du von der Postverteilung bei euch nach dem Mittagessen schreibst, ist ja wie bei den Soldaten in der Wochenschau. Ich kann mir gut vorstellen, dass diejenigen, die leer ausgehen, sich verdrücken mit dem Gefühl: Zuschaun kann i ned. Also, ich schicke diesen Brief jetzt gleich ab.

Erhard ist seit vorgestern vierzehn Tage hier und hat im Kabinett als Vormann wieder das Kommando übernommen. Ich habe ihn auf seinen Einsatz angesprochen, besonders redselig ist er nicht, er sagt, er wolle jetzt nur noch unbeschadet aus der Sache herauskommen. Dass ich das Kabinett für einige Tage nicht mehr für mich allein habe, stört mich nicht, weil ich am Abend Erhards Uniform anziehe, so komme ich besser in Filme, bei denen Jugendverbot ist. Ich möchte mir endlich Viel Lärm um Nixi ansehen, muss aber noch schauen, ob ich Karten bekomme. Papa schimpft, dass ich gleich über Nacht im Kino bleiben soll, damit ich morgen nicht die erste Vorstellung versäume und mir den Weg spare. Es ärgert ihn, dass ich für die Hauswirtschaft so wenig Verständnis habe. Ich dränge mich tatsächlich nicht vor bei dem, was Papa den Ernst des Lebens nennt, er sagt nämlich, den werde ich bald kennenlernen. »Früh genug. Früh genug«, gebe ich zur Antwort.

Weißt du, dass auch Frauen zwischen vierzehn und zwanzig eine einheitliche Haarlänge vorgeschrieben ist? Erlass der Reichsjugendführung an alle Innungen der Friseure. Solange die geniale Deutsche Reichsregierung solche Ideen hat, ist Deutschland nicht verloren. Und lach jetzt nicht, in einem halben Jahr fällst auch du unter diesen Reichserlass. Aber um eins möchte ich dich wieder bitten, du sollst dich nicht so herabsetzen, du weißt schon, was ich meine. Und was andere sagen, hat für mich ohnehin keinen Wert, ich höre nicht drauf. Und auch was du sagst wegen deiner Mutter und den Spatentaschen, ich finde gar nicht, dass das Blödsinn ist, und es langweilt mich auch nicht. Abgesehen davon, dass ich selber viel Blödsinn rede, ist das gar kein Blödsinn. Kennst dich aus? Ich bin auch immer sehr glücklich, wenn du komische Sachen sagst wie da scheiden sich die Götter oder wir beide zwei. Bei dir kommt es immer großartig heraus. Ich steh wirklich sehr auf dich. Als ich das erste Mal zu dir gesagt habe, du sollst mich küssen, hast du dich halb tot gelacht. Aber dann hat es dir doch gefallen, nicht? / Im Radio spielen sie gerade Frühling in Wien. Vielleicht hörst du es auch und bist in Gedanken bei mir.

Weißt du schon, dass wir hier jetzt streng verdunkeln müssen, genauso streng wie im Westen? Es gibt auch neue Brandschutzbestimmungen, Mama hat ihre Fensterpolster von den Fensterbrettern wegnehmen müssen, damit nichts Feuergefährliches bei den Fenstern liegt, sie sagt, jetzt lehnt es sich dort nicht mehr so angenehm. Insgesamt ist es in Wien aber langweilig, das Spannendste am ganzen Tag ist, wenn der Briefträger kommt. Er kommt aber heute nicht mehr. Ich sitze in der Küche und schreibe an dich. Im Radio läuft schon wieder Frühling in Wien. Hörst du es auch?

Bei eurem Badetag wäre ich gerne dabei gewesen, an der Stelle von Burksi. Ich hätte dir am Ende auch nach gewohnter alter Sitte den Schmutz heruntergewuzelt. Weißt du noch?

Letzte Nacht besuchte uns ein Flieger und drehte einige Ehrenrunden, warf statt Bomben Flugblätter ab, das lass ich mir gefallen. Andererseits: Bis vor kurzem haben sie keinen so weit hereinfliegen lassen, das ist weniger erfreulich. Ich befürchte, wir werden sie in Zukunft öfters zu Besuch haben, jedenfalls hört man das von den Leuten.

Die Stimmung ist gerade ziemlich mies. Papa und ich sind müde, weil wir gestern Abend bei einem Luftschutzkurs und anschließend bei Onkel Hans zum Tarockieren waren, und um vier in der Nacht läutete es an der Tür, Frau Michelreiter sagte, dass Erhard betrunken auf der Stiege liegt. Er sah scheußlich aus. Ich habe mich ziemlich aufgeregt. Hoffentlich bleibt das ein Einzelfall. Und Mama ist böse, weil ich vorhin einen Tintenfleck in die Tischdecke gemacht habe, und Susi sitzt an Papas Schreibtisch und bringt ihre Schulhefte in Ordnung, sie hält mit leiser Stimme Selbstgespräche, mir kommt vor, es hat mit mir zu tun. Zwischendurch starrt sie mich an, während ich hier schreibe, ich muss dauernd verlegen lachen. Ich bin ja so ein Trottel, ach, ich weiß nicht.

Und bitte sei mir nicht böse, wenn ich manchmal etwas schreibe, bei dem ich selber nicht mitkomme, ich habe solche Sehnsucht nach dir, ich vermisse das Klopfzeichen in der Früh, manchmal bilde ich mir ein, dein Klopfen zu hören, und in solchen Momenten möchte ich meine Siebensachen packen und weg zu dir nach Indien.

PS: quietschte wird nur mit qu geschrieben, nicht mit quw, nur nebenbei, weil du das w extra eingeflickt hast. Und danke für das Kärtchen mit deinem Namen, es ist eine Sauerei, dass der Automat Menschen mit langen Namen benachteiligt, den Apparat hat vermutlich ein Chinese erfunden. / Haben die Menschen in Indien kurze oder lange Namen? / Hier nochmals ein Sprichwort aus dem Buch von Papa: Tiere sterben, während sie essen, Menschen sterben, während sie denken. – Mir kommt nämlich vor, dass du zu viel denkst. Mach dir keine Sorgen wegen mir, jetzt bin ich dir schon vier Monate treu, wie kannst du da zweifeln? Und wenn Sascha der Meinung ist, dass ich mir schnell eine andere finde, sag ihr, sie soll sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.

Du, Nanni, findest du das Leben eigentlich schön? Das würde ich gerne wissen. Ich finde es seltsam. Zum Beispiel, wie viel Zeit ich vertrödle, vergeude oder verschlafe. Diese Zeit kommt nie wieder. Es ist unmöglich, sie aufzuhalten oder auch, manchmal, sie schneller vergehen zu lassen. Zeit ist etwas Eigenartiges, etwas, das ich nicht begreife. Kein Mensch kann eine Stunde, die er gelebt hat, noch einmal leben. Seltsam. Und oft fehlt mir nur eine Stunde, eine Viertelstunde oder gar nur ein paar Minuten, und ich habe sie nicht. Und auf der anderen Seite die vielen Stunden, die vergehen so ganz ohne dich.

Hast du jetzt schon verdaut, dass Ferdl und ich zu Ostern an den Mondsee kommen? Oder schnappst du immer noch nach Luft? Ich glaub dir gern, dass du vor Freude über die Betten gesprungen bist. Ich kratz schon das Geld zusammen für die Bahnkarte. Ob es mit Bestimmtheit klappt, kann ich aber erst sagen, wenn ich die Griechischschularbeit zurückbekommen habe, ich habe wie ein Gestörter gelernt, damit ich mich auf ein zufriedenstellend stemme, ich glaube, das werd ich wohl zusammenbringen, immer die Nerven behalten, du weißt, an einem Tag im Frühling klopft das Glück an deine Tür. Und hoffentlich hat deine Fachlehrerin recht, dass wir im Sommer wieder alle beisammen sind. Ich glaube es fast auch. Dann werde ich Sonntag in der Früh an die Wand klopfen und dich wecken und dann werden wir, wir beide zwei, ganz allein in Penzing einen Morgenspaziergang machen und dann werden wir beide zwei zum Frühstück wieder wo einkehren und uns ein Gulasch mit Himbeerwasser kaufen und dann noch zwei Paar Würstel mit Saft. Und wenn dann die Trommel die richtige Spannung hat, legen wir uns auf eine Blumenwiese, schauen in den Himmel und werden froh und glücklich sein, dass keine Sirene mehr heult und kein feindlicher Bomber mehr über unseren Köpfen fliegt.

Ich schreib ja wieder nur Blödsinn. Ich mach am Abend weiter, da pfeift der Laden besser, einmal vorausgesetzt, Mama und Susi lassen mich in Ruhe. Und entschuldige bitte, dass ich noch immer kein rotes Briefpapier aufgetrieben habe, es ist nirgendwo eins zu bekommen, sei bitte nicht böse, die blauen Briefe sollen genauso viel ausdrücken wie es rote tun würden.

Den Ferdl bringe ich zu Ostern mit, damit die Eltern zu der Reise ihre Zustimmung geben, das ist der Grund. Ohne die Zustimmung der Eltern geht es nicht, sie halten mich nicht für selbständig genug, dass sie mich alleine fahren lassen, ich hör schon Papas Worte. Und sieh es dem Ferdl nach, dass er dich zu Weihnachten eine dumme Kuh geschimpft hat, er hat bestimmt ein besseres Herz, als sein Mundwerk vermuten ließe.  / Hier noch ein indisches Sprichwort: Die Erde hat fünf Erdteile, der sechste ist Schwarzindien. – Vivat Indien! Vivat das Dach der Welt!

Heute, am Tag der Fadität, muss ich dir rasch schreiben, weil morgen ist der 13te, und an einem 13ten schreibe ich keine Briefe. Gestern hatten wir Geographie- und Geschichteschularbeit in einem. Mittendrin heulten die Sirenen, wir mussten in den Keller und dort die Schularbeit fortsetzen. Wir hörten, dass schwere Bomber über uns flogen, und aus der Ferne Detonationen. Am Nachmittag stand noch immer dunkler Rauch über Simmering, so dass die Sonne kaum durchkam. Bitte schreibe immer gleich nach Hause, wenn bei euch in der Nähe etwas passiert ist. / Eins ist sicher, es ist kein Spaß, im Keller auf den Knien eine Schularbeit zu schreiben, das macht einen fertig. Obendrein gingen Ferdl und ich nach der Schule ins Lazarett in der Liniengasse, Blut spenden. Sie zapften mir 470 ccm3 ab, sie sagten, vielleicht vergehen dadurch meine Pickel. Bekam auch eine Sonderzuteilung: 200 Gramm Schokolade, 125 Gramm Butter, 250 Gramm Wurst und 8 Stück Eier. Jetzt kann Mama nicht mehr sagen, ich fresse mehr, als meine Marken hergeben. Es ist ohnehin nicht meine Schuld.

Muss jetzt Schluss machen, obwohl ich dir noch wahnsinnig viel zu berichten hätte, zum Beispiel, dass Erhard wieder eingerückt ist. Mama hat ihm gesagt, er solle nicht so tief in die Augen der Paninkas blicken, denn sie mag absolut keine Russin als Schwiegertochter. Ich meinte daraufhin, dass das so ein wichtiges Thema sei, dass wir den Familienrat einberufen sollten, denn auch ich wolle keine Bolschewistin als Schwägerin. Aber Erhard versteht gar keinen Spaß mehr, er wurde zornig und sagte, das gehe uns überhaupt nichts an, und man brauche deshalb keinen Familienrat einberufen, wir bräuchten auch keine Angst haben, dass er irgendwas nach Hause bringe, außer vielleicht eine Wut im Bauch. Ich sagte, er sei ja schon selber ein Bolschewist und rege sich über alles auf. Papa gab mir einen Schlag auf den Kopf, er sagte, dort, wo Erhard hinkomme, werde ihm das Beschwerdeführen schon vergehen, und mir gleich mit, wenn ich noch weiter das Maul so weit aufreiße. Ich solle endlich in die Hauswirtschaft tiefer eingreifen, sonst würde ich um so größere Augen machen, wenn ich demnächst zum Arbeitsdienst komme, dort werde man beim geringsten Anlass angeschrien und so manches geheißen.

Kennst du jetzt alle Berge beim Namen, Nanni? Ich kann mir natürlich schon denken, dass ihr müde wart von dem langen Gehen im Schnee, ihr seid eben die schweren Schuhe nicht gewohnt. Im Radio reden sie immer von der leichtfüßigen Jugend, und dann muss man mit solchen Klötzen an den Füßen herumlaufen. Wenn du zu Ostern mit Ferdl und mir die Drachenwand besteigen willst, brauchst du mehr Ausdauer, also bring dich in Bewegung, ich habe gehört, es ist ein Weg von drei Stunden. / Was machst du immer? Warst du Samstag oder Sonntag rodeln? Hast du wieder mit dem P – p – gebremst? Wie ist das Wetter bei euch? Schreibt die Sascha noch dem Jungen aus der Sturzgasse? Oder vielleicht gar du? Ich hoffe, dass du meine Karte bekommen hast. Hast du den Soldaten wieder gesehen? Hat er etwas mit der Lehrerin Bildstein? Wart ihr schon einmal im Kino? Und schick mir bitte ein Foto von dir. Und immer Kopf hoch, werd mir nicht schwarz in deinem Indien. Viele Küsse, viele Küsse von Kurti!

Liebe Nanni, mein Schorsche, bist du krank? Oder ist bei euch die Tinte eingefroren? Haben dir die Fliegeralarme einen solchen Schrecken eingejagt, dass du die Feder nicht mehr halten kannst? Ich habe seit einer Woche keine Post von dir bekommen, mir schmeckt das Essen nicht mehr, ich werde von Minute zu Minute nervöser.

Hast du den jungen Frühwirt gekannt, Tellgasse 18, er ist die letzte Zeit immer mit dem Motorrad gefahren, 25 Jahre alt, ist vor vierzehn Tagen in Russland gefallen. Seine Mutter hat mir vor zwei Jahren Hosen von ihm geschenkt, die Familie hat viele Kinder, seine Mutter ist klein und bucklig, du hast ihn bestimmt gekannt. Und kannst dich erinnern auf die Frau Binder im Hochparterre der Zweierstiege, kleine Blonde mit kleiner Tochter – die sitzt schon den zweiten Monat im Gefängnis. / Im Radio spielen sie schon wieder Frühling in Wien.

Sascha hat dir sicher ausgerichtet, dass ich dir von nun an postlagernd nach Mondsee schreibe. Ich habe so einen Zorn, kannst dir vorstellen! Es ist ungeheuerlich, dass deine Lehrerin meine Briefe liest und dass mir die Eltern den Kontakt mit dir verbieten. Papa sagt: »Das Fest ist aus!« Und ich habe angekündigt, wenn heute wieder kein Brief von dir kommt, schlage ich alles kurz und klein. / Papa beklagt, seine Erziehungsbemühungen bei mir seien fehlgeschlagen. Ich selber versuche mich dahingehend zu erziehen, dass mir der ganze Zauber gleichgültig wird. Leider ist das nicht so leicht. Grad war Papa wieder herinnen, ich musste das Blatt rasch unters Kopfkissen stecken, deshalb der Knick. Papa sagte, Nanni ist für dich von nun an wieder die kleine Cousine. Ich gab ihm zur Antwort, ich werde mir jetzt nicht mehr alles bieten lassen. Er lachte spöttisch, ich müsse mir bald noch viel mehr bieten lassen, denn ich würde den Krieg auch noch mitmachen müssen, man werde mir meine Stiefel bald anpassen. Er drohte mir mit der rauen Wirklichkeit, und als ich sagte, »So rau wie die Zunge unserer Katze«, habe ich eine Ohrfeige bekommen, dass ich hingefallen bin. Und dann der Nachsatz: »War das deutlich genug?« – Wie ich diese Frage hasse! / Liebe Nanni, ich ärgere mich tot. Gibt es in Indien noch Witwenverbrennungen? Ist dir etwas bekannt? Verbrennen, das stell ich mir schrecklich vor. Ich könnte losheulen vor Wut!

Ich komme zu Ostern nach Mondsee, und wenn ich mit dem Fahrrad fahren muss, das schaffe ich in zweieinhalb Tagen. Schau dich regelmäßig in der Nähe des Lagers um. Ankunft am Mittwoch wahrscheinlich.

Es ist eine Frechheit, dass die Lehrerin meine Briefe liest, ich würde mir das verbitten! Als Mama es mir gesagt hat, habe ich geglaubt, ich werde wahnsinnig. Und die Ohrfeigen, die mir Papa gegeben hat, waren so hart, dass er ein Jahr Gefängnis dafür erhalten sollte. Mama sagt, dass von dir keine Briefe mehr kommen werden, ich müsse nicht wie ein Hungriger darauf warten. Stimmt das? Schreib mir an die Adresse von Ferdl, Walkürengasse 4. Und bitte, Nanni, sag mir, ob du mich noch gern hast und ob das, was deine Mutter und meine Mutter sagen, alles Lüge ist. Du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen, es ist besser, wenn ich es gleich weiß, ich erfahre es früher oder später doch.