Den ganzen Tag Schneegestöber

Den ganzen Tag Schneegestöber bei etwa null Grad. Die Straßen kaum passierbar, trotzdem nutzten viele Bauern den hoffentlich letzten Schnee zum Ausbringen von Mist. Im Haus tolles Durcheinander, ungemütlich, das Kind der Darmstädterin weinte oft und lang. Nur in der Nacht Ruhe und Stille. Seit ich die neue Seegrasmatratze besaß, wollte ich nicht mehr heraus aus dem Bett, weil es dort so bequem war. Ich lag im Bett bis zum Vormittag und schrieb. Auf dem Ofen briet ich schrumpelige Äpfel.

Von einem ehemaligen Beifahrer hatte ich einen Brief erhalten, er stand in starkem Einsatz in Tarnopol, Munition aus der Luft, Versorgung bei den Leuten, er meinte, er schreibe jetzt an alle, die ihm einfallen. Wie es in dem Kessel zugehe, könne ich mir denken, also furchtbar. / Ich schrieb einige Antwortzeilen, aber mit mulmigem Gefühl. Anschließend raffte ich mich zu einem Brief an die Eltern auf, bei denen ich mich seit Wochen nicht gemeldet hatte. Aus einem Brief Waltrauds wusste ich immerhin, wie es zu Hause zuging, nämlich wie immer. Nach den üblichen Floskeln über das Wetter und die Gesundheit bat ich die Eltern, beim Gang auf den Friedhof nicht an meinem Geld zu sparen. Hildes Geburtstag stand bevor, ihr Grab solle schön geschmückt sein. Ansonsten schrieb ich nicht viel, nur Banalitäten: dass ich mir die Tinte, um schreiben zu können, zuerst anrühren musste, weil es in Mondsee Tinte nur noch in Tablettenform gebe, und dass ich hoffte, keinen ganzen Liter mehr zu benötigen bis zum Ende des Krieges. Für so viel Tinte reichten die Tabletten nämlich.

Zu Mittag kam die Sonne heraus, ich klebte eine Marke auf den Brief an die Eltern, unterstrich die Feldpostnummer auf dem Kuvert an Helmut. Anschließend verließ ich das Haus, ich freute mich auf einen Spaziergang am See, denn auch der Wind hatte sich gelegt. Die Temperaturen waren gestiegen.

Beim Briefkasten traf ich die Darmstädterin, sie warf ebenfalls Briefe ein. Auf meine Frage, warum das Kind in letzter Zeit so viel weine, erfuhr ich, dass es einen wunden Hintern habe. Die Darmstädterin sagte, was sie bräuchte, wäre eine Höhensonne. Diese Sorge konnte ich ihr nehmen, weil ich zur Behandlung meines abgeklemmten Wangennervs ein solches Gerät besaß. In der Wange hatte ich noch immer ein taubes Gefühl, der Nerv war aber deutlich besser geworden. Bis der Hintern des Kindes wieder gut sei, solle die Darmstädterin die Höhensonne nehmen. Sie war begeistert.

Am nächsten Tag sprach mich die Quartierfrau auf die Höhensonne an, sie machte mir Vorwürfe, ich hätte ihr mitteilen müssen, dass ich im Besitz einer solchen Lampe sei, ein Radio verbrauche nicht viel Strom, eine Höhensonne sei ganz etwas anderes, sie habe die Stromkosten neu berechnet und bekomme von mir eine Nachzahlung von einer Reichsmark pro Monat. / Als ich der Quartierfrau widersprechen wollte, fiel sie mir ins Wort, sie frage mich nicht nach meiner Meinung, die sei ihr geläufig. Na, bitte.

Wie einem derlei den Tag vergiftet, ist klar. Die Sache war mir dermaßen peinlich, dass ich der Darmstädterin nichts sagte. Das besorgte die Quartierfrau persönlich. Einige Tage später klopfte es an meiner Tür, das war am frühen Abend. Die Darmstädterin steckte zunächst nur den Kopf herein, um zu sehen, ob sie ungelegen kam. Ich bat sie herein. Sie lobte die Höhensonne, der Hintern des Kindes sei schon viel besser, sie glaube, dass auch das Weinen weniger geworden sei. Ich bestätigte es ihr. Dann wollte sie mir zwei Reichsmark geben, was ich entschieden ablehnte, das sei Ehrensache. Die Darmstädterin wand sich, gab dann aber nach, na gut, sie wolle mir in meiner Ehre nicht zu nahe treten. Dann schimpfte sie auf die Quartierfrau, es sei ein Fehler gewesen, ihr von der Höhensonne zu erzählen. Es gebe Menschen, die jedes Glück sofort zerstören müssen, die Quartierfrau sei ein dunkler Mensch, wie es in Faust heiße: So bleibe denn die Sonne mir im Rücken! / Ich fragte überrascht, ob sie Faust gelesen habe. / Das gerade nicht. Aber ein paar Brocken erklärte sie ihrerseits zur Ehrensache, ob ich wohl vergessen hätte, dass sie aus Hessen sei.

Sie bestaunte dann noch die Sauberkeit meines Zimmers, es sehe aus, als erwartete ich die Inspektion des Spießes. Sauberkeit sei die halbe Gesundheit, murmelte ich. Und sie ließ ihren Blick schweifen, bis er auf den Strumpfbandgürtel fiel, der an einem Nagel bei meinem Zeug hing, sie sagte: »Oh!« / Ich wurde rot und versuchte, die Umstände zu erläutern, die Wunde am Oberschenkel sei noch nicht ganz zu, suppe noch ein wenig, aber die offene Stelle sei lediglich noch fingerbreit, dort trug ich jetzt ein Pflaster statt eines ständig rutschenden Verbandes. / Ob sie’s mir glaubte? Keine Ahnung. Ich hoffte aber, den Sachverhalt ausreichend plausibel gemacht zu haben. / Die Darmstädterin war ebenfalls ein wenig rot geworden, sie schaute verlegen auf die Wursthaut in meinem Papierkorb. Nach einem Moment des Schweigens sagte sie: »Gleich gibt es Abendessen. Es reicht für zwei.« / Ich hatte meine liebe Not, die Einladung abzuwehren. Schließlich gab die Darmstädterin auf und grüßte in gewohnter Weise, indem sie zwei ausgestreckte Finger Richtung Stirn und wieder weg führte. Ich lag dann lange auf dem Bett, fast reglos, und sie rumorte nebenan.

Am Mittag des darauffolgenden Tages zog der Brasilianer mit einem an einer Stange befestigten Brett den am Vormittag gefallenen Schnee vom Gewächshaus. Von der kurz zuvor durchgebrochenen Sonne war ein Funkeln und Glitzern in der Luft, und in der Ferne hörte man das Grollen Dutzender Flugzeuge, bereits auf dem Rückflug. Die Überflüge waren etwas unheimlich. An den schönen Tagen war’s, als gingen sie zum Milchholen, flogen ihr Ziel an, warfen ihre Last ab und kehrten zurück zu ihren Basen, als sei es das Natürlichste der Welt. Der Brasilianer sagte mit einem bitteren Lachen: »Zauber der Technik! Jeder Indianer, wenn ich ihm versuchen würde, zu erklären, was hier vor sich geht, würde ehrlich gekränkt sein, weil er annehmen müsste, dass ich ihn zum Narren halten will. Vielleicht würde er müde lächeln über meine nicht besonders erbaulichen Späße.«

Seine ursprüngliche Rauheit und spröde Distanziertheit mir gegenüber waren so gut wie verschwunden. Häufiger als früher suchte ich auch tagsüber seine Gesellschaft. Ich fand ihn nicht mehr so seltsam wie am Anfang, im Ganzen genommen war er ein umgänglicher Mensch. Auch war ich lange genug unter Menschen gewesen, die sich bereitwillig jedem Zwang unterordneten und den Krieg akzeptierten wie das Reißen in der Schulter, so dass es mir gefiel, mit jemandem zu verkehren, an dem der Hebel zur Gleichschaltung nicht umgelegt worden war.

Die Mädchen vom Lager Stern marschierten in Zweierreihen vorbei, singend, dreißig gut dressierte Mädchen, mit Blick auf den Nacken des Vordermädchens, schöne, klare Stimmen. Im Vorbeimarschieren grüßten sie alle gleichzeitig, als ob ihre Arme von Fäden gezogen würden, sie taten es mit der Beflissenheit der Kinder. Der Brasilianer brummte verächtlich, kein Tier käme auf die Idee, sich in Zweierreihe fortzubewegen, das sei absurd. Und was die morschen Knochen betreffe, man müsse nur die Wortbrüche des Herrn H. auflisten, dann sähe man die ganze Morschheit. Glauben schenken dürfe man nur den Drohungen, und die Drohungen zeugten von einer äußerst niedrigen Gesinnung. / Ein Schneebrett fiel ihm auf die Schulter, Schnee rutschte ihm in den Kragen, er schüttelte sich und fluchte. / Mit Freude am Gleichschritt verschwanden die Mädchen in einer Mulde, bald hörte man von dem Singen nur mehr ein helles Tönen in der Luft. Das Grollen der Bomber hatte sich in der Ferne verloren.

Später arbeitete der Brasilianer im Gewächshaus, wohin ich ihm gefolgt war. Das Sonnenlicht wurde durch die schmutzigen, außen teils vereisten, innen teils beschlagenen Glaselemente gefiltert und gelblich eingefärbt, es fiel weich über die Beete. Nicht nur die Wärme, auch die Stille schien sich unter der Glaskonstruktion zu stauen. Doch obwohl ich in dieser stickigen Atmosphäre ein Gefühl des Unwirklichen hatte, hielt ich mich gerne hier auf, es roch wohltuend nach feuchtem Humus und den Ausdünstungen der Pflanzen. / Der Brasilianer jätete bei den Orchideen. Sein Gesicht war schmutzig, zerfurcht, die rote Nase tropfte, er blinzelte viel. Im vollen Tageslicht wirkte sein Gesicht älter als in der Nacht, er hätte nicht abstreiten können, dass er den Fünfziger schon einige Zeit auf dem Buckel hatte, man sah auch, dass er überarbeitet war, die Augen lagen tief in den Höhlen. Und weil er nicht ausgeschlafen war, fror es ihn immer. / Jetzt beugte er sich vor, knickte einige abgestorbene Triebe ab. Die ersten Orchideen blühten auf, auch die Tomatenpflanzen standen gut, waren mehr als kniehoch und zeigten erste Fruchtansätze. Auf meine Bitte legte der Brasilianer eine Schallplatte mit brasilianischer Musik auf. Wie auf ein Signal begann er vom Kreuz des Südens zu reden, von seinem Wunsch, erneut in ein fernes, warmes und möglichst naturbelassenes Gebiet der Erde abzuwandern, dorthin, wo auch die Menschen voller Wärme seien. Lieber wolle er arm und schmutzig im Ausland leben, aber unter Menschen, als hier in einem Palast unter lauter Irren.

Das war regelrecht zwanghaft, wie er immer auf dieselben Dinge kam, anfangs hatte ich es interessant gefunden, doch jetzt, da sich zeigte, dass sich alles ständig wiederholte, langweilte es mich. Bei erster Gelegenheit unternahm ich einen Anlauf, das Thema zu wechseln. Die südlichen Gefilde, die der Brasilianer heraufbeschwor, brachten mir mein Gespräch mit der Darmstädterin am Vorabend in Erinnerung, ich sagte, im Gegensatz zu ihm erwecke seine Schwester nicht den Eindruck, als sei sie für ein Leben in den Tropen bestimmt. Ich wiederholte das Zitat aus dem Faust, wie ich es von der Darmstädterin hatte: »So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!«

Der Brasilianer machte ein Gesicht, als müsse er eine Drahtbürste verdauen. Das durch die Glashaut dringende Winterlicht brachte die Luft zum Vibrieren. Wenn die Musik eine Pause machte, hörte man die Verstrebungen des Gewächshauses knacken. Seinen Rücken streckend, sagte der Brasilianer, er habe von seiner Schwester schweren Herzens Abschied genommen, sie sei ein liebenswertes Mädchen gewesen, auch als junge Frau, er hätte sie mit nach Brasilien genommen, wenn sie mitgekommen wäre. Leider habe sie sich in den Jahren seiner Abwesenheit für eine falsche Lebensweise entschieden und diesen Teufelsknecht Dohm in die Familie eingeschleppt, den Lackierermeister, der momentan im Generalgouvernement den neuen Menschen markiere. Aber so ein Bier trinkendes und rauchendes Bleichgesicht in Stiefeln und mit dunklen Gedanken werde nie ein neuer Mensch. Die Darmstädterin erfasse es wohl richtig, Trude und ihr Mann und mit ihnen alle Kloakenbrüder des H. und H. allen voran, der immer aussehe wie gekotzte Milch und der nach jedermann greife mit seinen Leichenhänden, seien Kellermenschen, das fehlende Licht mache es ihnen leichter, ihr verpfuschtes Leben auszuhalten.

Die Abschätzigkeit, mit der der Brasilianer über den F. sprach, fand ich auch diesmal gewagt, die Partei war die Sinngebung meiner Jugend gewesen, und ich konnte mich auch jetzt von dem Gedanken, dass der F. ein großer Mann war, nicht gänzlich freimachen. Ich bat den Brasilianer, vorsichtiger zu sein mit dem, was er sage, es gebe Gesetze, die solche Reden verbieten. Er lachte traurig: »Man kann sich doch nicht jahrelang blöd stellen, das hält kein Mensch durch, am Ende werde ich noch verrückt, es fehlt ohnehin nicht mehr viel.« / Als ich unschlüssig zwischen den Orchideen stand, das besorgte Gesicht meinen Stiefeln zugeneigt, fügte er hinzu: »Du brauchst die Wahrheit nicht zu glauben, Menino, aber behaupte nicht, du wärst nie mit ihr in Kontakt gewesen. Das grausige Europäertum, in dem Hass als Kulturerrungenschaft gilt, hat sich überlebt.« / Und im Ton seiner Stimme hörte ich ein Bedauern, als tue ich ihm in meiner Dummheit leid.

Mit schwermütigem Gesichtsausdruck wandte er sich wieder der Gartenarbeit zu, murmelte düster einzelne Wörter, die ihm aus dem brasilianischen Dschungel zugewachsen sein mochten. Nach zwei oder drei Minuten schien er sich wieder gefangen zu haben und äußerte seine Erleichterung, dass der größte Teil des Winters überstanden sei. In der Karwoche werde er die Orchideen nach Salzburg verkaufen. Er wisse, wer im fünften Kriegsjahr Orchideen anbaue, sei der unbewusste Feind all derer, die darüber nachdächten, was außer Blut zum hiesigen Boden passe. Er hoffe trotzdem auf ein gutes Geschäft. Und sowie die Firma für Blut und Boden pleite gegangen sei, werde er, Robert Raimund Perttes, seine neuerliche Befreiungsfahrt ins südliche der beiden Amerikas verwirklichen, die Aussichten stünden gar nicht so schlecht.

Einige Tage später fragte ich ihn, ob er sich schon abgeregt habe. / »Wer soll sich abgeregt haben?«, fragte er zurück. Und mit erhobenem Zeigefinger, beinahe scharf, wies er mich zurecht: »Ich rate dir, Menino, halte Ruhe in deinem Innern, verwende deinen Kopf. Und bemühe dich, Körper, Geist und Seele gesund und natürlich zu erhalten. Du bist ein ganz gescheiter Bursche, ich glaube, man darf es dir schon zutrauen. Und sei dir bewusst, es ist leichter, Menschen zu Hass anzustacheln, als sie zu Liebe und Achtung zu bringen, eine Ahnung davon schlummert in jedem Menschen.« / Er betrachtete mich mit ruhigem Interesse, während ich mir verlegen den Kopf kratzte und gleichzeitig versuchte, nicht allzu einfältig auszusehen.

Dann kam Hildes Geburtstag, der 11. März. Da ich nicht auf den Friedhof gehen konnte, zündete ich in der Kirche von Mondsee eine Kerze an. Auch beim Kriegerdenkmal flackerte eine frische Kerze. Dort gravierte der Steinmetz gerade einige zusätzliche Namen ein, rechtzeitig zum bevorstehenden Heldengedenktag.

Die Quartierfrau verfügte, dass die Fahnenstange aufgestellt und die Fahne gehisst werde, damit die auf dem Mond liegende Kolonie dem Mutterland huldige. / So war es auch am Tag der Wehrmacht eine Woche später, im Ort alles beflaggt, Umzüge der Wehrmacht und Parteigliederungen allenthalben. Zur Feier des Tages sprach mich die Quartierfrau freundlich an, sie sagte, das ganze Haus solle eine Familie sein, und alle sollten zusammenhalten. Ja? / Ich sagte, ich sei im Grunde dafür, müsse aber feststellen, dass letzten Endes doch alle Egoisten seien und die Gemeinschaft nur auf dem Papier bestehe. / Ob ich die Existenz der Volksgemeinschaft in Zweifel ziehen wolle, fragte die Quartierfrau empört. Ich erwiderte, leider sei mir die Volksgemeinschaft noch nie begegnet, nur immer Menschen, die in ihrem Namen redeten, vorzugsweise im eigenen Interesse. Und damit die Quartierfrau sich nicht weiter aufregte, versicherte ich ihr, dass ich mich freuen würde, der Volksgemeinschaft bald über den Weg zu laufen. / »Die kann mich einmal«, murmelte ich im Weggehen.

Ich machte eine Wanderung am See, sie führte mich bis nach Plomberg, unmittelbar unter der Drachenwand. Die Wege waren vom Schnee elend, besonders die Feldwege, ich kam beim Stapfen ganz schön ins Schwitzen, genoss aber die einsame Strecke, es war herrlich. Wenn man einmal draußen ist und die frische Luft genießt, fragt man sich, warum man so lange gebraucht hat, um den Entschluss zu fassen, die Schuhe anzuziehen. Fetzen von Blechmusik wurden über den See getragen. Einige Rehe sah ich und einen Fuchs. Mit ungesund aussehendem Fell trottete er über eine schneebedeckte Wiese, bisweilen innehaltend, aber nie horchend oder die Schnauze hebend. Irgendwann ging er seitlich ab und verschwand zwischen den Tannen.

In Plomberg trank ich einen Kaffee, so grauenhaft, dass ich noch eine halbe Stunde später einen ekelhaften Geschmack im Mund hatte. Deshalb kehrte ich auf dem Rückweg auch in St. Lorenz ein und trank im ehemaligen Wirtshaus der hingerichteten Lanner eine Limonade, um den Geschmack wieder loszuwerden. Als dies geschafft war, lenkte ich meine Schritte am Lager Schwarzindien vorbei. Dort hörte ich erregtes Stimmengewirr, ohne die Lehrerin oder eines der Mädchen zu Gesicht zu bekommen. Nur der Wirt machte sich vor dem Haus zu schaffen, er köpfte fünf junge Hähne und ließ die blutigen Köpfe im Schnee liegen für die Katze. Wir grüßten einander, sonst nichts.

Noch zweihundert Meter vom Lager entfernt hörte ich hinter mir Lachen und Schreien, und je weiter ich mich entfernte, desto mehr bedrückte mich meine Einsamkeit. Für einige Zeit begleitete mich wieder der Gedanke, dass man mir meine Jugend genommen hatte, ich weiß nicht, vielleicht lag es am Tag der Wehrmacht, der mir nochmals bewusst machte, wie rasch die Jahre in Uniform vergangen waren. Ich erinnerte mich gut, dass ich nach Abschluss der Schule überzeugt gewesen war, nun in die Zeit der leidenschaftlichen Gefühle zu treten. Ich war mir sicher gewesen, dass ich auf eine reife Art Liebe empfinden würde für die Welt. Die in mir angelegte Fähigkeit, fast zu platzen vor lauter Liebe … ich möchte schwören, dass sie in mir angelegt gewesen war, aber nie zum Ausbruch kommen konnte. Jetzt fühlte es sich an, als habe man mir diese Fähigkeit genommen.

Mit den Händen bis zum Grund in den Taschen stand ich am Ufer des Sees. Der Gedanke an die pulverisierten Jahre hing mir mit irritierender Hartnäckigkeit nach. Auf einmal, ich weiß nicht, ob es an einem Geräusch in der Luft lag oder an meiner Stimmung, hatte ich wieder einen Anfall. Wie eine Sturzwelle kamen die Bilder und spülten mich in den kalten Schacht namens Krieg, geballt empfand ich alle Erniedrigungen des Sterbens, überzeugt, diesmal erwischt es mich, jetzt hat mich mein Glück endgültig verlassen, gleich geht das Licht aus. Der verloren aufragende Kamin in Schitomir kippte wieder langsam nach vorn und fiel genau auf mich zu, Granaten pfiffen, ich war verdrahtet mit der Tödlichkeit des Moments, es schnürte mir die Luft ab, und deutlich sah ich die in die Grube geschossenen Leiber. Es waren ungemein kraftvolle Bilder, während ich selbst in die Knie ging, in den Schnee, minutenlang. Die Anflutung war extrem, schlimmer als je zuvor, ich schnappte nach Luft, einmal vornübergebeugt, dann mich streckend.

Als es mir endlich gelungen war, aus dem kalten Schacht wieder heraufzukommen, stand ein Mädchen neben mir, in der Uniform der Staatsjugend, ein blauer Pinselstrich vor dem Grau des Wassers. Sie schaute mit großen Augen zu mir herunter, besorgt, sie schien keineswegs befangen wegen meines sonderbaren Verhaltens, ich atmete noch immer stoßweise und hatte beide Hände auf der Brust. / »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie, und als ich die rechte Hand von der Brust nahm, um anzudeuten, dass es schon besser ging, griff sie danach, sie sagte: »Auch meine Mama bekommt manchmal keine Luft. Es hilft ihr, wenn ich ihre Hand halte.«

Die Stimme des Mädchens und ihre einfachen Worte taten mir wohl, ich strich mir mit der freien Hand mehrfach über die Brust und war froh, unversehrt zu sein. Einige Schreckmomente stiegen noch wie Blasen auf, um jäh zu zerplatzen, dann löste sich der Knoten im Hals, und ich saugte erleichtert die Luft ein, atmete sie wieder aus. Warum diese Nervenanfälle bei Spaziergängen? Bis jetzt hatte ich doch alles überstanden, hatte in allem entsprochen, als Sohn, als Schüler, als Soldat. Warum jetzt? War es das böse Erwachen? Das Gefühl, ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, Schlussstrich, Zusammenbruch? Und am Ende vielleicht die Einweisung in eine Anstalt? War es das, was mich erwartete?

»Es ist alles gut«, sagte das Mädchen. Sie schaute mich weiterhin ruhig an mit ihrem großäugigen, merkwürdig musternden Blick. Sie hatte wuschelig dunkelblondes Haar, das über den Schultern kurz geschnitten war. Jetzt erst erkannte ich in ihr die Verschickte, mit der ich im Lager einmal kurz geplaudert hatte und von der mir später die Fachlehrerin erzählt hatte: Annemarie Schaller. Ich schaute sie erstaunt an. / »Geht’s wieder?«, fragte sie. / »Ich glaube, ja, jetzt bekomme ich wieder Luft«, sagte ich mit Blick auf die behutsam meine Rechte umfassende Hand. »Manchmal habe ich Atemprobleme«, keuchte ich. / »Ist es von der Lunge?«, fragte sie. / »Von der Angst«, sagte ich. / »Dann müssen Sie Traubenzucker nehmen.« / Nun wusste das Mädchen auch, wie man lächelt. In ihren Augen blitzte ein Schimmer Stolz, dass sie mir einen Ratschlag gegeben hatte. Sie half mir beim Aufstehen, ich klopfte mir den Schnee von den Hosenbeinen und schüttelte mich, teils wegen der Kälte, teils um die Nervengespenster zu vertreiben. / »Traubenzucker beruhigt«, sagte sie.

»Danke, vielen Dank«, erwiderte ich, mich sammelnd. Einige rauchartige Wolken trieben über dem See, irgendwo krähte ein Hahn, zum Gedenken an seine geköpften Brüder. / »Wo kommst du so plötzlich her?«, fragte ich das Mädchen. / »Mir sticht’s im Kopf«, sagte sie: »Wir haben Ostergeschenke gebastelt, der Nitrolack ist schnell trocken, hat aber einen so unangenehmen Geruch, dass wir alle fast in Ohnmacht gefallen sind. Deshalb haben wir für eine Stunde frei bekommen, um uns auszulüften.« / »Und du gehst ganz allein?« / »Freundin habe ich keine mehr. Aber ich bin zu allen eine gute Kameradin.« / Der Blick, der diese Worte begleitete, war für mich Anlass zu sagen: »Du hast es im Moment ja auch nicht ganz leicht.« / Sie wirkte für einen Augenblick erschrocken, dann äugte sie mich wieder auf ihre offene Art an. / »Wegen deines Cousins, meine ich.« / Sie zog die Unterlippe ein und nickte. Kurz klang wieder Blechmusik über den See, und als man nichts mehr hörte, sagte das Mädchen: »Ich bin verliebt.« Wieder huschte ein Lächeln über ihr rundes Gesicht, nicht ganz so befreit wie zuvor, aber voller versteckten Glücks. / »Nun ja, Verliebtsein ist etwas Schönes«, sagte ich.

Rote Flecken tauchten auf den Wangen des Mädchens auf, und als müsse sie sich entscheiden, ob sie in Tränen ausbrechen oder ganz etwas anderes tun wolle, griff sie in die Seitentasche ihrer Uniformjacke und zog einen Brief heraus. »Von meiner Mutter«, sagte sie hastig: »Wollen nicht Sie als Soldat ihr schreiben und sagen, was Sie zu mir gesagt haben, dass Verliebtsein etwas Schönes ist?« Sie schaute mich wie gebannt an und zog abermals die Unterlippe ein. Die Bilder und Stimmen, die mich quälten, waren noch immer in der Nähe.

Der Brief war in einer runden Schulschrift geschrieben, gut leserlich, da und dort ein wenig einfach gehalten, voller Vorwürfe und Drohungen gegen das Mädchen. Schon nach einer halben Seite war der Anblick des gedemütigten Kindes für mich nur schwer zu ertragen, während Nanni mich im Gegenzug erwartungsvoll ansah, sie sagte, wie ungerecht es sei, dass Kurt ihr nicht mehr schreiben und zu Ostern nicht zu Besuch kommen dürfe. Sie schaute mich die ganze Zeit über an, schob ihr Käppchen nach oben und wischte sich die Stirn ab. Wie auch ich, schien sie verwirrt von der schlecht verstandenen Welt und den ungewohnten Gefühlen, mir kam vor, dass sie das dunkle Los ihrer Verliebtheit ahnte. Ein Vogel mit Flügeln in Sensenform schwang sich über uns hinweg, die Geister meines Atems schwebten in der kalten Luft, es war mir, als sei die Temperatur in den letzten Minuten um mindestens zehn Grad gefallen, die Kälte kam vom Wasser, das kristallene Leuchten des Schnees blendete mich.

»Wollen Sie?«

Nachdem ich alle Kraft zusammengenommen hatte, sagte ich: »Das ist nicht nett, was deine Mutter schreibt. Sie macht sich Sorgen um dich, bestimmt meint sie es nicht so. Und wenn du wieder in Wien bist …« / »Werden Sie Mama schreiben?«, fiel sie mir ins Wort, mir wurde unbehaglich, weil sie einen so fordernden Blick auf mich warf. Und was mich am meisten aus der Fassung brachte, war, dass ein so brutal eingeschüchtertes Kind die Kraft besaß, weiterhin seine Interessen zu vertreten. / »Bitte!«, sagte sie. / Mein Herz pochte. Ich hätte dem Mädchen verständlich machen sollen, wie sehr mich der Anfall erschöpft hatte, aber in solchen Momenten ist einem der Horizont eng begrenzt. Noch ehe ich fortfuhr, wusste ich, mit welcher Unbeholfenheit ich reden würde, ich sagte: »Weißt du, über einen Dritten kommt immer etwas Falsches heraus, auch wenn ich mich bemühe, es gut zu machen. Deine Mutter meint es nicht so, ganz bestimmt, und sie kennt mich nicht, ich bin ein wildfremder Mann. Sie würde meinen Brief falsch auffassen. Kopf hoch, Mädchen!«

Sie stand da und hörte es sich an und nahm es hin. Und plötzlich verstand ich ihren Cousin, ich konnte die Faszination nachempfinden, die von diesem Mädchen ausging, von seinen einmal trägen, einmal plötzlichen Reaktionen. Sie schien völlig frei, ohne Berechnung, schien gar nicht zu verstehen, was die von den Erwachsenen vorgebrachten Vernunftgründe zur Sache beitragen sollten, fest überzeugt, dass Kurt und sie füreinander bestimmt seien.

»Wenn ich dir sonstwie helfen kann, komm zu mir«, sagte ich erschöpft. / Sie schaute mich an, als erwache sie langsam. Und so, als habe dieser Umstand mit ihren Problemen zu tun, sagte sie mit plötzlicher Härte: »Wir werden den Krieg verlieren.« Dann griff sie mit blitzschneller Bewegung nach dem Brief ihrer Mutter, zerknüllte ihn heftig und warf ihn Richtung Wasser. Anschließend wandte sie mir abrupt den Rücken zu und eilte davon mit schlecht abgestimmten Bewegungen, es war, als würden Arme und Beine gegeneinander arbeiten, ich wurde vom Zusehen sofort wieder nervös. Sie stolperte mehrmals im Schnee mit ihren schweren Schuhen, doch ohne zu fallen, es sah aus, als gehe sie durch einen Graben mit Schlamm.

Auf dem Heimweg hatte ich entsetzlich mit meiner Unruhe zu kämpfen. Zu Hause putzte ich die Stiefel, um mich abzulenken, und währenddessen hatte ich wieder das Gefühl des Irrealen. Auch jetzt, während des Schreibens, fange ich an zu schwitzen, allein der Gedanke daran reicht aus.

Nanni! / Du hast mir großes Leid zugefügt! Ich kann mich gar nicht fassen! Du hast dir den Weg in die Zukunft selbst versperrt! Denn eine Lehrerin kannst du mit deinem nun schlechten Ruf nicht mehr werden! Deine Aufführung wird ja im Schulbuch vermerkt und läuft dir dein ganzes Leben nach! Du kannst eine Lehre machen bei Onkel Mark, der hat schon ganz anderen die Flausen ausgetrieben. Was habe ich immer und immer gepredigt? Anständig bleiben, nicht hinschauen zu solchen blöden Kerlen, diese sind es nicht wert, dass man seinen guten Ruf verliert! War das etwa schön, wenn solche schon schlechten Mädchen in deinem Alter mit einem Rudel halbwüchsiger Schlurf vor unserm Fenster eingehängt und laut lärmend vorbeizogen? Zu solchen unschönen Sachen hast du doch Zeit, wenn du zwanzig bist, dann schaut die Sache anders aus! Du verdirbst dir die ganze schöne, unwiederbringliche Kindheit! Was geht in deinem Gehirn vor, dass du den Kindern dort mit dir im Zimmer solche Sachen erzählst? Hast du denn gar kein Schamgefühl? Du kannst dir doch denken, dass es die Kinder sofort melden werden! Wenn man schon solche ekelhaften Gedanken im Kopf trägt, dann behält man sie für sich und schweigt, schweigt wie das Grab! Zu solchen Sachen treiben, da bist du gescheit genug, was? Dann musst du auch gescheit genug sein und schweigen können! Ich glaube, ich habe versäumt, seit Jahren versäumt, dir kräftige Prügel zu verabreichen! Ich dachte mir immer, nein, ich brauche mein Kind nicht zu schlagen, es wird mir auch so folgen! Was hast du mir selbst erzählt bei anderen Kindern, wie da von den Müttern kräftig Ohrfeigen ausgeteilt werden! Immer warst du froh, dass du so eine gute Mutter hast! Du lohnst es mir schlecht! Was hast du dir eigentlich gedacht in der Sache mit Kurti! Wirst du nicht schamrot dabei, mit einem bald siebzehnjährigen Burschen auf solche Art zu korrespondieren, du mit deinen gerade einmal dreizehn Jahren? Ich habe Kurti schon meine Meinung gesagt, und auch Tante Elsa und Onkel Albert! Was Tante Elsa nun über dich für Ansichten hat, kannst du dir denken. Sie sagt, auch du bist schuldig, und ich muss ihr recht geben. Lizzi vom 3. Stock wird als rechtes Stiefkind behandelt, jeden Tag Ohrfeigen und Hiebe, und was sagt man im Lager von Kriml, wo Lizzi ist? Der dortige Herr Direktor ist voll des Lobes über Lizzi und ist schon ungeduldig, die Mutter zu sehen, die solch ein Musterkind erzogen hat! Und ich, die ich dich immer voll Güte behandelt habe und alles, was nur irgend möglich war, getan habe, mich wird man als die Mutter von dem Schweiniglkind bezeichnen! Wenn ich zum Elternbesuch nach Schwarzindien käme! Aber ich komme nicht, denn ich schäme mich so! Die Kinder werden alles ihren Eltern erzählen, und ich bin überall gezeichnet! Was ich nun zu sagen habe, ist folgendes: Gehorche der Fr. Lehrerin Bildstein auf’s Wort, sei glücklich, dass du diese Lehrerin hast, lerne, dass dir der Kopf raucht, halte deine Sachen in peinlichster Ordnung, vielleicht verzeiht dir deine gute Lehrerin! Es ist für sie eine große Mühe, solch ein Kind in Erziehung zu haben! Verhalte dich bescheiden, unaufdringlich und fleißig, dann wirst du einen Teil der Schuld abtragen! Änderst du dich nicht, so betrittst du den Grassingerhof nicht mehr und kommst sofort in eine Anstalt! / Also, du hast zu wählen! / Es grüßt dich deine Mutter!