Der März war ungewöhnlich

Der März war ungewöhnlich kalt gewesen. In den ersten Apriltagen schneite es noch einmal. Aber in der Karwoche wurde es schlagartig warm, es taute rasch, und kleine Bäche traten über die Ufer. An einer sonnenbeschienenen Halde neben dem Gleis nach St. Gilgen entdeckte ich den ersten Huflattich der Saison. Deutschensaat nannten die Russen diese gelben, struppigen Pflanzen. In Charkow, wo wir alles zerbombt, umgepflügt, zerschossen und totgeschlagen hatten, sah man den Huflattich im vergangenen Frühjahr in großen Mengen auf den Brandstätten und Schutthalden. Daran musste ich denken, als endlich der Frühling eingezogen war.

Ein letztes Mal ätzte mir der Gemeindearzt mit Höllenstein die Wunde am Oberschenkel. Ich berichtete von den nervösen Anfällen, die ich regelmäßig hatte, beschrieb die Erstickungsgefühle, Schweißausbrüche und dass ich dann Probleme hatte, normal zu gehen. Irgendetwas stimme nicht mit mir, sagte ich, ich sei nicht verrückt, doch wenn ich mit kleinen steifen Schritten zur nächsten Sitzgelegenheit tappen müsse, könne der Eindruck entstehen. / Mit einem großen Pflaster klebte der Gemeindearzt die so gut wie geschlossene Wunde am Oberschenkel ab, er runzelte die Stirn. Meine Anfälle betrafen nicht sein Fachgebiet, das wollte er aber nicht zugeben. Nach einigen »interessant«, »schwierig« und »soll vorkommen« verschrieb er mir Pervitin, ich solle es aber nur nehmen, wenn es gar nicht anders gehe. Er gab es mir aus seiner Hausapotheke.

Der Brasilianer hatte jetzt eine besonders arbeitsreiche Zeit, und das schwankende Wetter machte ihm zusätzlich zu schaffen. Ein paar Mal hatte es so ausgesehen, als könnte eine zum Dauerzustand gewordene Verkühlung ausarten, doch seine Heilkräuter hätten Wunder gewirkt, behauptete er. Nur zu Beginn der Karwoche wäre ihm die Arbeit fast zu viel geworden, nicht einmal während der wenigen Schlafstunden gönnte sie ihm Ruhe, er sagte, kaum eingeschlafen, schrecke er wieder hoch in der Angst, etwas vergessen zu haben. / Um fünf musste er aufstehen, denn bis sechs in der Früh hatte er hundert große Schnittorchideen zu schneiden, zu verpacken und bahnfertig zu machen. Das hieß, dass zuerst jede einzelne Blüte in Seidenpapier gewickelt wurde, dann je fünf in Packpapier zusammengeschnürt, die Stiele in feuchtes Moos gepackt, dann jeweils fünfzig in einen Karton, Stützbogen darüber, damit die Blüten nicht beschädigt werden konnten, und über den Stützbogen nähte der Brasilianer Packpapier. Da durfte er keine Minute vertun, sonst kam die Sendung nicht mit dem Frühzug weg, und wurde der Frühzug verpasst, waren die Blumen nicht rechtzeitig in Salzburg im Geschäft, und mehr als die Hälfte verdarb, weil die Blumen das Eingepacktsein nicht länger aushielten. Zusätzlich waren auf Ostern hin dreimal wöchentlich je zwanzig Orchideenstöcke nach Salzburg und nach Linz zu schicken. Und zwischendurch hatte er auf dem Gemüseacker zu tun, also noch mehr Hasten und Eilen, weil er eigentlich schon vor dem Weggehen wieder im Gewächshaus bei den Orchideen hätte sein sollen. Er sagte, am liebsten würde er bei der Arbeit hinfallen und liegen bleiben. Hätte er nicht die Pläne für seine Befreiungsfahrt nach Süden, brächte er die Kraft zum Durchhalten nicht auf.

Auch für den Onkel ging die ruhige Winterzeit zu Ende. Die Kontrollgänge zur Durchsetzung der Verdunkelungsbestimmungen konnten nicht mehr am späten Nachmittag stattfinden, denn die Tage wurden rasch länger. Aus Vöcklabruck kam die Weisung, alle Landungsstege am Mondsee auf ihre Stabilität zu überprüfen. Dann wurde bekannt, dass ein junger Mann mit beiderseits dick eingebundenen Händen sich als verwundeter Flieger ausgegeben und ein verschicktes Mädchen darum gebeten hatte, ihm sein Geschlechtsteil herauszuholen, damit er Wasser lassen könne. Er habe zu dem Mädchen gesagt, sie müsse auch ein wenig reiben, damit etwas komme. Personenbeschreibung vorhanden. / Die unzähligen Verbote, den Alltag betreffend, machten ebenfalls viel Arbeit. Ein Bauer im Ortsteil Gaisberg war von Nachbarn angezeigt worden, weil er seine Hühner mit Weizen fütterte. Das war verboten. Der Onkel stellte die Ermittlungen ein, ohne sie je begonnen zu haben, er sagte, er habe keine Lust, unter dem Mikroskop Hühnerdreck zu analysieren.

So vergingen die Wochen. Alle rutschten weiter ins Jahr hinein. Der Krieg ging voran auf Kosten dessen, was besser gewesen wäre. Ein Grauen packte mich bei dem Gedanken, dass der Tag, an dem ich mich wieder auf meine Verwendungsfähigkeit untersuchen lassen musste, allmählich näher rückte. / Im Radio wurde von der Zerstörung der Frankfurter Innenstadt berichtet, auch in Wien hatte es den ersten großen Fliegerangriff gegeben. Deutsche Truppen marschierten in Ungarn ein, manchmal war es unheimlich, wie lange die Züge mit Kriegsmaterial waren, die über Salzburg hereinkamen, und alles Richtung Osten. / Und dennoch nahm in Mondsee der Alltag seinen Gang. Im Radio spielten sie Frühlingslieder rauf und runter. Die Bauern sägten Holz, das Tuckern, Sausen und Kreischen der Kreissägen hallte stundenlang durchs Dorf. Die Darmstädterin huschte bisweilen zu mir herein und redete sich den Kummer von der Seele. Das Kind drehte sich neuerdings allein vom Bauch auf den Rücken, es hatte seinen Daumen entdeckt und einen neuen Summton, den es fleißig übte. Am Freitag vor den Osterferien wurde in den Schulen das zweite Trimester abgeschlossen, auch die Mädchen in den Lagern der Kinderlandverschickung erhielten Zeugnisse. Tags darauf endete die offizielle Heizperiode.

Einmal noch sah ich das Mädchen Annemarie Schaller. Auf dem klapprigen Lagerfahrrad kam sie in verträumten Schlangenlinien auf mich zugefahren, bis sie mich bemerkte. Daraufhin wechselte sie an den Rand des Weges, jetzt steif auf dem Sattel sitzend, als sei der Oberkörper an dem Vorgang nicht beteiligt. Mit einem finsteren Blick sah sie mich an und fuhr vorbei, ihr Gesicht verschwommen von einer unsagbaren Trauer. Ich grüßte sie, und sie mich möglicherweise auch, mit Sicherheit vermochte ich es nicht zu sagen, vielleicht ein Mittelding. Hundert Meter weiter sah ich sie, jetzt wieder in Schlangenlinien, in einem Wäldchen verschwinden.

Zwei Tage später, am Gründonnerstag, verbreitete sich in Mondsee die Kunde, Annemarie Schaller sei aus dem Lager Schwarzindien abgängig. Das Gerücht verbreitete sich so rasch, dass es schon am Abend sich selbst begegnete. »Ich weiß, ich hab’s schon gehört, das Mädchen ist mit einem siebzehnjährigen Burschen aus Wien davongelaufen.« / Wie sich später herausstellte, stimmte letzteres nicht, denn ihr Cousin, Kurt Ritler, war während der ganzen Karwoche zu Ausbildungszwecken in Kledering, Verschiebebahnhof, er schlief dort in einem geheizten Schlafwagen. Nach den Ferien würden er und seine Mitschüler den Unterricht nicht mehr in der Schule bekommen, sondern in einer Flakstellung in Schwechat, neben der Raffinerie. / Beamte in Wien befragten »den jungen Löffel«, wie der Onkel ihn nannte, aber ohne Erfolg. Kurt habe sich sehr betroffen gezeigt und mache sich große Sorgen.

Also wurde angenommen, das Mädchen werde sich nach Wien durchschlagen. Tatsache war leider, dass sie dort nicht auftauchte, auch nicht bei der Großmutter väterlicherseits in Engelhardtskirchen. Vater seit fünf Jahren tot, Tuberkulose. Der Onkel weihte mich früh in solche Details des Vorfalls ein, er benötigte jetzt öfters einen Schreiber, er sagte, minderjährige Mädchen machten viel Arbeit, schlimmer als ein Polizistenmord.

Mit Sicherheit festzustellen war, dass Nanni Zahnschmerzen simuliert und deshalb von der Lagerlehrerin eine schriftliche Wegerlaubnis erhalten hatte. Beim Zahnarzt war sie nicht erschienen, stattdessen hatte sie in St. Lorenz eine Frau angesprochen und gefragt, ob diese ihr auf Punktekarte eine Schachtel Kekse kaufe, das Geld für die Kekse hatte Nanni abgezählt in der Hand. Dann entfernte sie sich Richtung Bahnhof, zumindest wurde dort das Lagerfahrrad gefunden. Nannis Gepäck war im Lager Schwarzindien zurückgeblieben, der Onkel wollte nicht ausschließen, dass dies zwecks Irreführung der Behörde geschehen sei. Neben den erwartbaren Mädchensachen fanden sich in Nannis Rucksack einige Briefe von Kurt und ein Zettel, auf den sie gekritzelt hatte: So bin am ganzen Leibe ich, so bin ich und so bleibe ich, yes, Sir! / Das war ungefähr alles, was sich zusammentragen ließ. Von den Schaffnern der Züge war nichts in Erfahrung zu bringen, insgesamt zu viele Mädchen und alle in den gleichen dunkelblauen Uniformen der Staatsjugend. Und auch sonst konnte niemand Auskunft geben, niemand wusste, wo das Mädchen geblieben war. Obendrein hatte am Tag ihres Verschwindens der Wind die Wolken auseinandergetrieben und die Sonne die letzten Schneeinseln rasch zum Schmelzen gebracht, alles stand unter Wasser, es gab keine verwertbaren Spuren. Die schöne Jahreszeit zog jetzt tatsächlich ein, ich schnupperte erleichtert in die warme Brise, denn die vergangenen Frühlinge hatte ich in Russland verkämpft. Und endlich flogen auch die Bienen, der Brasilianer sagte, sie hätten gut überwintert.

Als Annemarie Schaller am Ostermontag noch immer nicht wieder aufgetaucht war, wuchs das Unbehagen nicht nur bei mir. Die Behörden fingen an, über ein mögliches Unglück nachzudenken, nach fernmündlicher Rücksprache mit Linz wurde beschlossen, ortskundige H.jungen um den See zu schicken, damit sie unter jedes aufgebockte Boot und in jedes zugängliche Bootshaus schauten, immer in Gruppen zu mindestens dreien, damit nicht wieder jemand verlorenging. Man wollte nicht ausschließen, dass das Mädchen ertrunken war, jeder der Seen in der Umgebung hatte fast jährlich sein eigenes totes Kind. Aber nichts deutete unmittelbar auf diese Möglichkeit hin, und so musste man es offenlassen, auch aufgrund der bekannt eingeschränkten Durchsichtigkeit von größeren Wasseransammlungen. Erfahrungsgemäß würde der See die Leiche, wenn es eine gab, im Laufe des Jahres wieder hergeben. / Leider trug auch der angebliche Flieger mit den dick eingebundenen Händen zur Aufklärung des Falls nichts bei, er war mit seiner Nummer in Bad Ischl ein zweites Mal aufgetreten und kurz darauf in Gewahrsam genommen worden. Für die mittleren Tage der Karwoche hatte er ein Alibi, auch dies kein Lichtblick im Dunkel der Untersuchung.

Der Onkel sagte, solche Sachen passierten einfach von Zeit zu Zeit, von einem Polizisten in Wels sei der dreizehn Jahre alte Junge ausgerissen und mit der Eisenbahn nach Italien gefahren, er wollte sich den Kriegsschauplatz ansehen. Er selbst würde gerne darauf verzichten, Vermutungen anzustellen, aber im Moment habe er nichts anderes, und so schreibe er eben hin, was ihm Vernunft und Logik diktierten: Das Mädchen Annemarie Schaller ist davongelaufen.

Nachdem er einen am Schreibtisch liegenden Journalbogen mehrmals zu begradigen versucht hatte, lehnte er sich zurück, mit im Nacken verschränkten Händen. Er sagte, er wolle mir nicht im Detail verraten, was er von den Weibern halte, aber je jünger eine sei, an desto verrückteren Stellen finde man die Schmutzwäsche. Bei den älteren dafür … körbeweise! In der Vergangenheit sei Nanni mehrfach verspätet nach Hause gekommen. Das starke Hinneigen zum anderen Geschlecht sei dokumentiert. Jetzt obendrein Wandertrieb. Er werde eine Vermisstenanzeige erstellen mit dem Hinweis darauf, dass in jedes Kleidungsstück des Mädchens ein Namenszettel eingenäht sei. Damit habe es sich. Es gebe so viele Verschwundene, Untergetauchte, Herumstreunende, entflohene Kriegsgefangene, Fremdarbeiter, Deserteure, Faulenzer, konspirative Kommunisten und konspirative Ministranten: Willkommen im großdeutschen Schattenreich!

Der Onkel erinnerte sich seiner teuren Zeit. Umso teurer die Zeit, desto eiserner das Zeitalter. Er sagte, er wolle jetzt einen Kontrollgang machen, damit er in der Aktenluft des Postens nicht endgültig lungenkrank werde. / Wir standen gleichzeitig auf und gingen nach draußen. Als der Onkel den Hund aus dem Zwinger holte, sagte ich: »Das ist alles so …« / »So deprimierend?«, fragte er. / »Ja.« / »Geht mir auch so. Scheußlich, Junge! Was sind das doch beschissene Tage! Meine Verdauung macht mir zu schaffen. Es ist immer dasselbe: Ich kann nicht gleichzeitig denken und verdauen.« Er tätschelte sich wehmütig den Bauch. »Und dann war ich am Vormittag in drei Trafiken wegen Tabak und habe keinen bekommen. Was nützt die ganze Raucherkarte, wenn es keinen Tabak gibt? Früher war ein anderes Leben, da wurde nicht alles nach Gramm gemessen.« / Er band den Hund noch einmal an, einen Schäferhund, der mich träge anlinste. Gleich neben dem Zwinger, in dem mit einem Fenster versehenen Raum am Ende der Remise, befanden sich die Hasenställe, und hustend fütterte der Onkel die Hasen. / »Ich mache mir große Sorgen um das Mädchen«, sagte ich. / »So, so.« / »Sie müsste längst in Wien sein, ich kenne sie, sie hätte mit links hingefunden. Und nur Wien wäre irgendwie schlüssig, so verliebt wie das Mädchen ist. Irgendetwas stimmt an der Sache nicht.« / »Möglich ist natürlich vieles«, sagte der Onkel: »Aber mit der Zeit kriegt man einen Riecher, weißt du. In meinen Augen lässt es sich verstehen, dass sie nicht nach Hause zurück ist. Wenn mir Lehrerin und Mutter im Chor versuchen würden beizubringen, dass ich eigentlich reif genug sein sollte, um meine Unreife einzusehen, würde ich auch davonlaufen. Glaub mir, ich habe Feingefühl.«

Als wir auf die Straße traten, schien die Sonne, der Schafberg stand in gleißendem Licht und strahlte so weiß und rein zu uns herüber, dass man einen eigenen Fleck sofort reinigen wollte. Ich glaube, ich habe Flecken genug. Eine Gruppe Mädchen in Uniformen marschierte in Zweierreihe vom Bahnhof herauf, die Mädchen grüßten mit ausgestreckten Armen, die zackigen Bewegungen der Kinder setzten sich fort in der Luft, ich spürte eine plötzliche Anspannung in den Muskeln und musste mich ermahnen, ganz normal zu gehen. Die vielen Jahre, die ich fort gewesen war, machten sich auch hier bemerkbar. / Der dicke Metzgerlehrling lief in seinem blutbespritzten Kittel zum Bierholen Richtung Marktplatz. Der rotlackierte Postwagen bog ein und zwang die Mädchen zum Stehenbleiben. Ich wandte mich in die andere Richtung.

So verging nochmals fast eine Woche. Allerhand wesentliche und belanglose Ereignisse trugen sich zu, mein eigenes Leben war glanzlos und trübe. Vom Onkel hörte ich alle Neuigkeiten im Fall des Mädchens Annemarie Schaller. Deshalb wusste ich, dass ihre Mutter gebeten worden war, in Wien zu bleiben und dort das mögliche Eintreffen der Tochter abzuwarten. Doch acht Tage nach dem Verschwinden des Mädchens traf Frau Schaller unangekündigt in Oberdonau ein. Da in St. Lorenz aufgrund der vielen Umquartierten kein Zimmer verfügbar war, kam sie in Mondsee unter. Ich erkannte sie sofort. An dem Tag, an dem der Fall Tarnopols gemeldet worden war, sah ich sie auf dem Platz vor der Kirche, das gleiche runde und offene, wenn auch schwere Gesicht. Sie zog auf dieselbe Art die Unterlippe ein. Und sie hatte auch dieses ungläubige Staunen, ganz vorne, als ginge es ein Stück voraus. Elend und verloren, mit gesenktem Kopf, entfernte sich die Frau, sie schien ein halbes Zeitalter zu benötigen, bis sie den Platz vor der Kirche überquert hatte.

Ich legte für die ehemaligen Besatzer Tarnopols einen Strauß Huflattich vor das Denkmal für die Gefallenen. In Charkow hatte ich reden gehört, Huflattich wachse auch auf reiner Braunkohle, das schien mir passend. Dann ging ich aufs Postamt und schickte das Päckchen mit dem Strumpfbandgürtel zurück nach Wien. / Einige Pimpfe streiften durchs Dorf, sie waren zum Einsammeln von Flugzetteln eingeteilt. Auf den Flugzetteln, die am Vortag abgeworfen worden waren, wurden Weisheit und Integrität der Reichsführung in Zweifel gezogen. Als ein dürres Kerlchen mit einer zu großen Mütze an einen Gartenzaun pinkeln wollte, musste er sich von einem andern Pimpf anschnauzen lassen.

Nach der Mittagsruhe bekam ich einen starken Schweißausbruch. Ich stand sofort auf, rieb mich mit kaltem Wasser ab und zog etwas Frisches an. Kopfschmerzen in den Schläfen und hinter der Stirn bekam ich auch. Der Puls kletterte bis auf hundert. / Ich stand dann eine Weile am Fenster und schaute zur Gärtnerei hinüber. Dort tat sich nicht viel, die struppige Hündin trottete ums Haus, der Brasilianer in Gummistiefeln, ohne Jacke, trat aus dem Gewächshaus und blickte in den Himmel. Da wich ich vom Fenster zurück zum Ofen, um mich zu wärmen. / Wenig später klopfte es, der Onkel ließ nach mir schicken, weil er wieder einmal einen Schreiber brauchte. Ich fühlte mich so fremd und überflüssig, dass es mir Auftrieb gab, wenn ich gebraucht wurde. Und wie schon gesagt, es war im Grunde egal, was ich mit meiner Zeit trieb, Hauptsache, sie ging vom Krieg ab.

Die Mutter von Nanni saß im Journalzimmer, dem Onkel vis-à-vis. Ihr Haar hatte sie in einem altjüngferlichen Knoten auf dem Kopf zusammengesteckt. Sie trug einen grauen Rock, eine weiße Bluse und eine sehr breite, dunkelblaue Krawatte. Das runde, noch winterbleiche Gesicht war von Scham erfüllt, sie zwinkerte viel, aber nicht, weil ihr der Wind Staub in die Augen getragen hatte oder weil sie geblendet war, sondern als müsse sie erst wach werden, als könne sie nicht glauben, was ihr zugemutet wurde.

Ich spannte das Durchschlagpapier ein und passte auf, dass ich nichts falsch machte. Frau Schaller gab an, dass Nanni schon mit elf Jahren unwohl geworden sei, also viel zu früh. Nanni habe sich von da an rasch entwickelt, so dass man sie bald für fünfzehn Jahre hätte halten können. Leider habe Nanni immer solche Freundinnen gehabt, die für Aufklärung über das andere Geschlecht sorgten, die Mutter habe dies erkannt und Nanni solche Freundschaften verboten. Aber leider sei Frau Schaller zum Kriegseinsatz befohlen worden, sie niete Spatentaschen im Akkord, deshalb sei Nanni tagsüber meist sich selbst überlassen gewesen. Um halb sieben am Abend, wenn Frau Schaller von der Arbeit nach Hause gekommen sei, habe Nanni ihr wohl berichtet, was sie tagsüber getan hatte, und Frau Schaller sei gezwungen gewesen, dem Mädchen zu glauben. Wahrscheinlich habe Nanni auch hie und da gelogen, in den Entwicklungsjahren sei ja der Teufel los. Nanni habe überdies eine blühende Phantasie, sie könne sich in etwas so hineindenken, dass sie dann wirklich glaube, es erlebt zu haben. Aber am Abend aus dem Haus und im Park gewesen, wie sie den andern Mädchen erzählt habe, sei Nanni mit Sicherheit nie, das bestätige auch Kurt. Sie sei ja sonst ein gutes Kind, klug, ohne Widerrede mache sie alles, was man ihr sage, nur fest in der Hand sei sie zu halten wegen ihrer vielen Phantasie. Aber dass das Mädchen sich einfach auf gut Glück in der Gegend herumtreibe, das könne sie als Mutter ausschließen, sie kenne ihr Mädchen, sie mache sich schreckliche Sorgen um ihr Kind.

Die Mutter redete, ohne dass der Onkel viele Fragen stellte, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich wenig. Zwischendurch erschöpfte sich ihr Redefluss, dann hob sie verunsichert den Kopf und sah den Onkel mit rotumrandeten Augen an. Der Onkel blickte zurück mit allem Anschein von Gutmütigkeit, den er zu fingieren vermochte. Das Weiterreden der Mutter begann immer leise, mit niedergeschlagenen Augen, wurde stimmlich langsam fester, aber der Blick blieb auf den Schoß gerichtet. Ich sah die strenge Falte, die das Gesicht der Mutter zwischen den Brauen kerbte. Sie sagte, sie habe in der vergangenen Woche dreieinhalb Kilo abgenommen, bei ihrem Flohgewicht etwas viel, das mache sich auch bei der Gesundheit bemerkbar. Sie nehme Traubenzucker gegen die schlechten Nerven. / Während ich Traubenzucker in die Schreibmaschine tippte, dachte ich an meine Begegnung mit Nanni am See. Ich hatte niemandem davon erzählt. Frau Schaller gestand, Nerven habe sie keine guten, sie hoffe, sie bekomme ihr Kind gesund zurück, alles andere sei ihr egal.

Der Onkel war zuletzt wie abwesend vor einem Berg Papiere gesessen und hatte vor sich hingeträumt. Als er merkte, dass Frau Schaller eine Pause brauchte, holte er eine der rar gewordenen Zigaretten hervor, betrachtete die Zigarette lange, als besäße sie ein tieferes Wissen, und bot sie Frau Schaller an. Frau Schaller lehnte ab. Schließlich steckte sich der Onkel die Zigarette selbst ins Gesicht und zündete sie an, an einem gewöhnlichen grauen Tag im Leben.

Der Amtshelfer ging durch den Raum, der Onkel schimpfte: »Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst dir in der Früh das Gesicht waschen? Jetzt hast du noch immer den Dreck um die Augen. So siehst du nie, was du sehen sollst! Man bezahlt dich nicht dafür, dass du Dreck in den Augen hast.« / Der Onkel rieb sich die ewig trockenen Raucherhände, hustete die typischen drei, vier Mal. Nachher gab er in aller Ruhe zu bedenken, man wisse ja, wie so junge Mädchen seien. / »Ja?«, fragte verunsichert Frau Schaller. / Er winkte ab, die Augen verdrehend. Dann, mit der gewohnten, leidenschaftslosen Stimme, als spräche er vom Linksabbiegen oder Wassertrinken: »Eine große Schachtel Kekse kauft jemand, der Proviant braucht. Nanni besitzt etwas Geld, trägt feste Schuhe und eine Uniform, in der sie nicht auffällt. Indizien beweisen nichts, aber Indizien stützen die Wahrscheinlichkeit: das Mädchen treibt sich herum.« / Er verwies auf die durch eingetretene Geschlechtsreife bedingte sprunghafte Gemütsverfassung, zitierte aus einem Brief Nannis an Kurt, in dem sie den Vorschlag machte, nach Indien auszuwandern. Der Versuch sei dem Mädchen hinreichend zuzutrauen. / »Aber um Himmels willen, Herr Inspektor, nie und nimmer! Sie ist noch so ein Kindskopf!«, sagte die Mutter und brach in Tränen aus. / »Ja, eben deshalb«, sagte der Onkel mit einer herunterspielenden Handbewegung: »Sie muss sich offenbar gewaltig den Kopf anrennen, um zur Vernunft zu kommen.« Und dann, in einer Rauchwolke, als sei auch das Gesagte Teil des Rauches: »Anschließend wird sie wieder auftauchen.«

Er wartete, bis die Mutter mit Weinen aufgehört hatte, dann stieß er eine dünne Rauchwolke zur Decke und stellte einige Fragen, Kurt Ritler betreffend, aber so, als sei er nicht sonderlich interessiert, sondern frage nur zum Zeitvertreib. Frau Schaller schnäuzte sich und antwortete bereitwillig. Es berührte mich, dass Nanni und Kurt bis zu Nannis Verschickung im Grassingerhof in Nachbarwohnungen gewohnt und Wand an Wand geschlafen hatten. In der Früh beim Aufstehen hätten sie einander durch Klopfzeichen guten Morgen gewünscht. / Ich starrte für einige Sekunden gegen die Wand vor mir, an der das Plakat mit den Sieben Goldenen W hing: Wen hat / wer / wann / wo / womit / wie / warum / umgebracht? Dann musste ich mich beeilen, um beim Mitschreiben nicht den Anschluss zu verlieren. Frau Schaller sagte, auch Kurt sei im Grunde ein guter Junge.

Unvermittelt beendete der Onkel die Vernehmung, er sagte, er fahre jetzt nach Vöcklabruck in den Luftschutzwart-Kurs, er habe wegen dieses Kurses schon dreimal die Chorprobe schwänzen müssen. Damit war die Vernehmung beendet. Hastig haftelte der Onkel seine Uniformjacke zu. Frau Schaller schaute ihn hilflos an, sie wollte in den Augen des Onkels den Hoffnungsschimmer schimmern sehen, aber da war kein Schimmer, nur Ohnmacht und Gleichgültigkeit, wiewohl der Onkel sagte: »Wir tun alles, was in unserer Macht steht … wird sich alles finden … wird alles in Ordnung kommen … ihre Tochter will uns einen tüchtigen Schrecken einjagen.« / Frau Schaller schüttelte ungläubig den Kopf, der Onkel gab ihr die Hand. Sie glättete sich verwirrt mit beiden Händen den Rock, ehe sie die Hand des Onkels kurz drückte. Dann ging sie schluchzend hinaus. / Der Onkel schaute mich an und sagte: »Dumme Sache, fürwahr!«

Frau Schaller blieb noch zwei Tage in Mondsee, ich sah sie einmal am See, sie saß dort verloren auf einigen Stufen, die zum trüben, von Dunst überkrochenen Wasser abfielen. Und einmal traf ich sie beim Bäcker, wir redeten kurz miteinander, sie sagte, sie warte, dass der Albtraum jeden Moment vorbeigehe, sie habe solche Ängste. Wenn sie die Lagerlehrerin nicht hätte, würde sie sterben vor Einsamkeit, sie habe solche Sehnsucht nach ihrem Mädchen. / Aber Nanni blieb verschwunden, spurlos, wie die Leute sagten. Schließlich reiste Frau Schaller ab, das war am Tag vor dem regulären Elternbesuchstag, sie wollte nicht mit den anderen Müttern zusammentreffen. Beim Onkel ließ sie verschiedene Adressen und Telefonnummern zurück. / Der Onkel kniff wie ein Kater die Augen zusammen und sagte zu mir, im Vertrauen, er wolle nicht ausschließen, dass Frau Schaller in die Sache verwickelt sei. Meines Erachtens sprach dagegen ihre fahl grünliche Gesichtsfarbe. Ich machte den Onkel darauf aufmerksam. Da gab er zu bedenken, dass die Frau vermutlich trinke. Und er schüttelte den Kopf, als verblüffe ihn die Unvernunft der Welt.

Am Abend der Abreise von Frau Schaller hatte ich wieder einen nervösen Anfall. Ich nahm mein allererstes Pervitin, lag zitternd auf dem Bett und wartete auf die Wirkung des Mittels. Währenddessen hörte ich im Nebenzimmer die Darmstädterin mit dem Säugling reden, sie sagte: »Deine Oma hat geschrieben, sie versorgt die Ziegen und Hasen, sie würde uns gerne von der Ziegenmilch was abgeben, unsere Ziegen heißen Lies und Lotte, sie sind gesund, aber die Engländer haben auf unseren Ziegenstall geschossen, stell dir vor. Und dein Papa hat uns aus Estland fünfundzwanzig Maulwurffelle geschickt, die er in einem verlassenen Haus gefunden hat, schon gegerbt, er meint, vielleicht reicht es für eine Kinderwagendecke. Dein Papa ist dort oben im Krieg.«

Sie sagte nicht Krieg, sondern Kriesch, in ihrem breiten Hessisch. Die Art, wie sie das Wort aussprach, gewann der Sache eine realistische Seite ab, es klang nach kriechen, sich in Erdlöchern verkriechen, es klang nach den finsteren, feuchten Schächten, in die ich fiel, wenn ich meine Anfälle hatte. Ich war froh, dass das Pervitin allmählich zu wirken begann. Oder es war das Reden der Darmstädterin, das mich beruhigte.

»Weißt du, Lilo, die vielen Siegesfackeln waren auch nur ordinäre Pechfackeln. Jetzt schickt uns dein Papa Maulwurffelle aus Estland. Die Soldaten leben dort oben wie die ersten Menschen. Ist schon traurig, nicht?«