Der Elternbesuchstag

Der Elternbesuchstag erstreckte sich über zwei Tage. Schon vor Ostern waren Pimpfe mit Listen durch den Ort gegangen und hatten gefragt, wer für welchen Besuchstag wie viele Betten zur Verfügung stellen könne. Zwei Mütter und ein Neugeborenes schliefen bei der Quartierfrau im Stübchen. Beim Brasilianer nächtigten einer von nur zwei Männern im ganzen Tross mit Frau und eine weitere Frau. Diese Frau kannte ich vom Sehen, denn während meiner Schulzeit war sie Verkäuferin in einem Schuhgeschäft auf der Thaliastraße gewesen. / Bei der Ankunft des Zuges mit den Eltern hallte das Freudengeheul der Mädchen über den See. Die Lagerlehrerin Bildstein, die ich nach dem Besuchstag seit längerer Zeit wieder traf, sagte, die Mädchen hätten sich, als die Rauchwolke des Zuges sichtbar geworden sei, vor Aufregung gegenseitig über den Haufen gerannt.

Trotzdem stand der Elternbesuchstag unter einem nervösen Stern, ganz so, wie wenn die Lampe in meinem Zimmer flimmerte und ich gebannt wartete, dass in gewohnter Weise das Licht ausging. In Wien hatten Gerüchte die Runde gemacht. Ein von der Lagerlehrerin diktierter Brief hätte die Eltern im Vorfeld beruhigen sollen. Aber dadurch, dass man über Nannis Verschwinden weder erschöpfend Auskunft geben wollte noch konnte, wurde die Verunsicherung der Eltern nur vergrößert. / Die beiden Mütter, die bei der Quartierfrau im Stübchen schliefen, saßen am späten Abend im Garten und unterhielten sich. Ich hatte das Fenster offen und hörte zu. In einer so kritischen Zeit wollten die beiden ihre Kinder in sicherer Obhut wissen. Und nun fragten sie sich, was bedrohlicher war, die für Wien zu erwartenden Bombenangriffe oder die Dschungel Schwarzindiens mit ihren Geheimnissen. Der Krieg werde noch einiges Kopfzerbrechen bereiten, sagte eine der Frauen. Aber am Mondsee sei außer einem Notabwurf im Moment nichts zu befürchten.

Die eine Frau stillte ihr Neugeborenes, was von der anderen mehrfach kommentiert wurde. »Wie der saugt, alle Achtung! Der wird einmal Berufsringer.« Nach einiger Zeit sagte die Stillende: »Und schau dir seinen großen Kopf an, kein Wunder, dass mir noch alles weh tut, ich muss ein paar Schritte gehen.« / Daraufhin entfernten sich die beiden.

Vor den Mädchen überspielten die Mütter ihre Unruhe, so gut es ging. Aber alle waren darauf bedacht, sich mit den Töchtern möglichst oft von der Szene zu entfernen, nicht allein um Zeit füreinander zu haben, sondern auch in der Hoffnung, dass abseits der Gruppe die von zu Hause gewohnte Tochter wieder zum Vorschein kam. Jede Veränderung am Kind wurde vor dem Hintergrund von Nannis Verschwinden beurteilt. Auch mir als Außenstehendem fiel auf, dass die Kinder während der vergangenen Monate selbstbewusster geworden waren, oft genug wurde ihnen gesagt, sie seien das teuerste Gut des F. / Die verunsicherten Mütter machten mit ihren Kindern Spaziergänge, suchten stille Ecken. Und wenn man so eine Mutter mit ihrer Tochter sah, nutzte die Mutter den vorhandenen Größenunterschied fast immer, um sich bei der Tochter aufzustützen. Die Mütter waren nervös, ihre Gemütsregungen unterdrückt, sie sahen sich ständig um, während die Mädchen ihren Gefühlen freien Lauf ließen. Die ehemalige Verkäuferin bei Bata auf der Thaliastraße musste sich, während sie mit ihrer Tochter das Gewächshaus des Brasilianers besichtigte, sagen lassen: »Hör auf, an mir rumzuzerren.«

Der Brasilianer verzog sich zu einem Nickerchen in die Hängematte. Frau Nowak setzte sich vorne an der Straße auf die niedrige Mauer. Trotz aller Schwierigkeiten schien sie froh, an diesem friedlichen Ort zu sein, und doch in sich gekehrt, eine Falte zwischen den Brauen, misstrauisch gegen das Jetzt und die Zukunft. Sie beobachtete ihre Tochter, die mit der Hündin des Brasilianers spielte. Man sah Frau Nowak die Sorgen an. Es wird schon irgendwie werden, hätte ich gerne gesagt, sagte aber nichts. / Ringsum ragten stumm und düster die Berge auf, bedeckt mit Schneehauben und unwegsamen Wäldern. Der mächtige Felsenschädel der Drachenwand stand grau im Schönwetterdunst.

Die Frauen, die bei der Quartierfrau schliefen, kamen vom See zurück. Die eine mit dem Säugling trug ein gelbes, geblümtes Kleid, die andere trug Trauer. Die Mädchen hintendrein unterhielten sich fröhlich. Die Größere sagte: »Angeblich ist mein kleiner Bruder richtig dick geworden. Es fehlt ihm wohl die Schwester, die ihm das überflüssige Fett herunterärgert.« Die beiden lachten hämisch.

Als Frau Nowak zum Bahnhof aufbrach, trug ihre Tochter den kleinen Koffer. Frau Nowak sagte: »Bleib gesund, pass auf dich auf!« / »Mach ich«, sagte das Mädchen.

Anderntags begegnete ich der Lagerlehrerin Bildstein. Ich hatte sie für einige Wochen aus den Augen verloren, sie verrenkte sich weiterhin nicht gerade den Hals nach mir, ich sah das jetzt gelassener und ohne Schmerz, denn für bloßes Getue war nicht die Zeit. Aber es plagte mich Unzufriedenheit mit mir selbst, weil es mir nicht gelingen wollte, von der Theorie des Lebens zu einem praktizierenden Leben zu kommen. Dass ich von der Lagerlehrerin in diesem Punkt keine Unterstützung zu erwarten hatte, sah ich aber ein, ihr Urteil gegen den Soldaten war unwiderruflich. Sie gefiel mir weiterhin, vom Anschauen her, ansonsten war die Sache auch meinerseits erkaltet.

Wir redeten über Belanglosigkeiten. Sie sagte, um ihre Holzschuhe zu reparieren, habe sie ein paar Nägel benötigt. Vier Pfennig hätten sie gekostet, aber der Schuster habe am Vormittag von seinem Sohn, der in Russland kämpfe, drei Briefe bekommen, und aus Freude darüber habe er ihr die Nägel geschenkt. Sie, Margarete Charlotte Bildstein, habe etwas geschenkt bekommen, normalerweise müsse sie allem endlos hinterherlaufen.

Sie beklagte sich, dass ihr in letzter Zeit ein Berg hinter dem andern unter die Füße komme, zum Glück seien zwei Mütter zur Schule in Wien gegangen und hätten anlässlich des Elternbesuches Bücher mit herausgebracht, die Post mache von der Paketbeschränkung keine Ausnahme. Von Linz sei gar nichts zu erwarten, von dort werde sie nur gegängelt, und seit dem Verschwinden Nannis seien die Nachstellungen der Behörde natürlich nicht weniger geworden. / Ich sagte: »Mitgefühl ist im System nicht vorgesehen.« / Da heftete sie wieder ihre harten grauen Augen auf mich, so fremd und distanziert, dass ich verlegen wurde. Ich versuchte mir eine Zigarette anzuzünden, von zwei Streichhölzern bröckelte der Zündkopf ab. Auch darauf ging die Lehrerin nicht ein. Sie sagte, für die Turnstunden habe sie endlich einen alten Deckel und einen alten Schneebesen aufgetrieben, das sei jetzt ihr ganzer Stolz. Und selbst dies sagte sie mit großer Ernsthaftigkeit, sie lachte nicht gern oder nicht in meiner Gegenwart.

Ich war dann sehr erstaunt, als sie mich beim Auseinandergehen noch rasch auf mein schlechtes Aussehen ansprach. Wenn ich nicht bald zunehmen und etwas Farbe bekommen würde, kriegte ich Haue. Sie sagte allen Ernstes Haue. Das Wort ging mir noch stundenlang im Kopf herum, ich musste oftmals lächeln. Im Grunde sind alle Menschen seltsam.

Mein Aussehen konnte mich in der Tat nicht befriedigen, ich hatte noch nie einen vor Gesundheit strotzenden Anblick geboten, doch jetzt hatte ich ein spitzes Gesicht wie noch nie in meinem Leben. An der Verpflegung konnte es nicht liegen, ich war ausreichend versorgt, die Darmstädterin und ich halfen uns gegenseitig über diverse Markenschwierigkeiten hinweg, ich aß zweimal in der Woche bei ihr zu Abend, und mindestens zwei weitere Male wehrte ich ihre Einladungen ab. Es machten sich ganz einfach die vergangenen Jahre nervlich bemerkbar. Wenn ich Tagebuch schrieb, brauchte ich nichts als eine Tasse schwarzen Kaffee und hatte nie das Bedürfnis, von dem kleinen Tisch aufzustehen und eine Kleinigkeit zu essen. Ich schrieb und schrieb, und zwischendurch nahm ich einen Schluck Kaffee.

Oft hatte ich gar nicht die Kraft, bei der Darmstädterin Besuche zu machen. Am Abend war ich hundemüde. Ich schlief regelmäßig zwölf Stunden, sonst hätte ich den Alltag nicht bewältigen können. Ich fand es erstaunlich, mit wie wenig Essen der Mensch auskommt, ohne zu hungern. Ich hatte immer zu tun, schaute, dass meine Sachen in Ordnung waren, Taschentücher, Unterwäsche und Socken wusch ich selbst, nähte sogar eine Schlaufe an der Hose an, die zur Gelegenheit eine geübte Frauenhand geradebiegen müsste. Nur meine Stiefel putzte die Polin, wegen der Reichsmark pro Woche, die ich ihr gab. Sie benötigte diese Mark dringend für kleine Ausgaben.

Mit dieser Polin, Joanna, war es auch so ein trauriger Fall, dreiundzwanzig Jahre alt, sehr fleißig, sie arbeitete von früh bis spät. Am Sonntag während des Elternbesuchs hatte sie einen plötzlichen Gefühlsausbruch, sie weinte und sagte zu Frau Nowak, sie wolle am liebsten sterben, sie habe gar nichts vom Leben, vier Jahre sei sie schon zwangsverpflichtet und von zu Hause weg und immer dasselbe. Auch vom Sonntag habe sie nichts, ins Kino dürfe sie nicht, schwimmen dürfe sie nicht, nicht einmal in die Kirche, dabei sei sie sehr fromm. Keine Kinder habe sie, keine Kleider habe sie, bei der schweren Arbeit zerreißen die Sachen, und als Polin bekomme sie pro Jahr nicht einmal dreißig Punkte. Was soll sie mit dreißig Punkten? Jetzt war sie bald vierundzwanzig, ihre Jugend bald weg, nichts davon gehabt. Also furchtbar. Und das Entsetzlichste war, es ging Joanna bei der Quartierfrau noch relativ gut, weil sie ein Stück Garten bewirtschaften durfte, viele Fremdarbeiter waren ärmer dran und sahen auch physisch schlecht aus und wurden einfach zurückgegeben, wenn sie nicht mehr konnten.

Eben vermeldet das Radio die Beendigung des Kampfes in Simferopol. Schön langsam vergeht einem der Humor. Was dort sich getan haben wird, was dort gefallen ist, es wird einem schwindlig.

Der Onkel sagte, vor den Toren Deutschlands werde die Front zuverlässig zum Stehen kommen, das werde auf alle Fälle eintreten, denn so kräftig sei der Bolschewik nicht, im Südabschnitt habe er Anfang März sechzehnjährige Burschen eingesetzt, das zeuge nicht vom besten Stand der Dinge, man müsse nun … / Ich hörte mir alles ruhig an und dachte mir mein Teil. Glauben tat ich nichts, denn keiner wusste etwas Bestimmtes. Schließlich sagte ich doch meine Meinung, dass die Rote Armee nach allem, was wir uns an der Ostfront herausgenommen hätten, eine gewaltige Rechnung offen habe. Und die, die jetzt behaupteten, dass sie wüssten, wie man sich noch einmal aus der Affäre winden könne, wären naturgemäß die Richtigen, um nach vorne geschickt zu werden, anderen bliebe Schreckliches erspart. Wenn man sich bei den Hinterbänklern auf eines verlassen könne, dann darauf, dass sie’s angeblich im kleinen Finger hätten und den Krieg noch zehn Jahre aushalten würden, solange sie nie mit denen vorne tauschen müssten. / Der Onkel zupfte sich einen Tabakfaden von der Unterlippe und zerrieb ihn zwischen den Fingern. Das Journalzimmer füllte sich langsam mit Zigarettenrauch.

Er sagte, er habe mich mit der schwarzindischen Lehrerin gesehen: »Interessierst du dich für die Kleine? Dein Geschmack?« / »Ich habe schon vor Wochen einen Korb von ihr bekommen.« / »Das tut mir leid«, erwiderte er und klopfte mir auf die Schulter.

Später hörte ich ihn mit einer übergeordneten Behörde telefonieren, was ich daran erkannte, dass er wiederholt ein lakaienhaftes »Zu Befehl!« in den Hörer bellte. Unterdessen las ich einen der Briefe, die Kurt Ritler dann und wann postlagernd nach Mondsee schickte und die der Briefträger dem Onkel aushändigte. Der Onkel las die Briefe, um sich zu vergewissern, dass nichts von dem seine Aufmerksamkeit verdiente, ich aus persönlichem Interesse, denn ich mochte den Jungen. Mittlerweile war er bei der Flak in Schwechat, in einer Stellung vis-à-vis der Straße, die südlich an der Raffinerie vorbeiführt.

Wir haben jetzt viel Ausbildung, aber im Moment sitze ich einsam und allein in meinem Horchgerät und höre von Weitem ein Flugzeug. Wenn man nicht wüsste, was es ist, könnte man sich von dem fernen, tiefen und gleichmäßigen Geräusch in den Schlaf lullen lassen. Das Geräusch selbst hat nichts Bedrohliches an sich. / Es ist schade, dass ich ausgerechnet bei den Horchern gelandet bin, Ferdl ist bei den Scheinwerfern, da sieht man wenigstens etwas. Mit so einem Scheinwerfer würde ich dich gerne suchen. Nanni, ich mache mir solche Sorgen um dich, ich habe Angst, dass dir etwas zugestoßen ist.

Ich fragte den Onkel nach dem Mädchen. Er sagte, er wisse von ihr nichts Neues. Aber er sei überzeugt, dass alles Wesentliche bald von selbst aus dem Fall herauseitern werde. So drückte er sich aus. / Unter dem Vorwand, dass ich starke Kopfschmerzen hätte, brach ich auf. Das Wetter hatte umgeschlagen, einzelne Regentropfen zeigten die unsichere Wetterlage an. Rasch vorwärts.

Zu Hause fing mich die Quartierfrau ab, sie verlangte wieder, dass ich die Fahnenstange aufstelle, das sei Männersache. / Die Feierlichkeit zu Ehren meines obersten Dienstherrn war herangerückt, der sogenannte F.geburtstag. Auch zu diesem Anlass musste die auf dem Mond befindliche Kolonie dem Mutterland huldigen. / Mit Blick nach dem Wetter fragte ich, ob das Aufstellen der Fahnenstange nicht Zeit bis morgen habe. Aber die Quartierfrau meinte humorlos, ich wolle doch bestimmt bis in den Vormittag hinein schlafen. Dagegen ließ sich nicht leicht etwas vorbringen. / Im sicheren Gespür für den weiteren Verlauf des Gesprächs tat ich wie befohlen. Auch derlei hatte sich nun also eingespielt. Während die Quartierfrau mit verschränkten Armen danebenstand und mit boshaftem Lächeln darauf wartete, dass mir das Manöver misslang, dirigierte ich die Fahnenstange in das Loch. Die Quartierfrau zog die Fahne auf, und wenige Minuten später hing die Fahne schwer und schlaff über dem Vorplatz. Es hatte zu regnen begonnen. Und wie!

Im Bogen schoss das Wasser aus der Dachrinne und übersprang den im Garten liegenden Traufenstein. Der Ort duckte sich jämmerlich unter dem niedergehenden Wetter. Die Kröten krochen aus ihren Löchern, und auf dem Feld neben dem Gewächshaus wartete der Fuchs, bis eine Maus aus ihrem Loch geschwemmt wurde. Zweimal sah ich ihn mit einer Maus im Maul davonlaufen.

Am Abend aß ich bei der Darmstädterin. Der Hintern des Kindes war wieder gut, die Darmstädterin gab mir die Höhensonne zurück. Ich sagte, es wäre das schönste Leben, wenn nicht überall Dämpfer aufgesetzt wären, hier in Form der Quartierfrau. Die Darmstädterin fragte, warum genau ich in Mondsee sei. Weil es mir zu Hause bei den Eltern nicht gefallen habe, sagte ich. Sie lachte jäh auf, bei ihr sei es das gleiche. Sie wolle bis zum Kriegsende hierbleiben, dann werde sie weitersehen. Ich sagte, ich bliebe auch gerne hier, aber es werde wohl nicht mehr lange dauern, bis mein Dienstgeber wieder nach mir greife, ich fürchtete seinen langen Arm. Im Moment sei ich n. v. – nicht verwendungsfähig. Ich hätte noch acht Wochen bis zur Untersuchung.

Nach dem Essen servierte ich Wein, während die Darmstädterin am Tisch bügelte. Als ich sie ganz ungezwungen fragte, ob sie ihren Mann vermisse, sagte sie, sie habe das Kind, und sie schmiere sich am Abend mit ihrer Creme ein, das sei immerhin etwas. Ich glaube, sie meinte, immerhin etwas an Berührung.

Das Kind angreifen getraute ich mich nicht. Aber vor dem Abendessen hielt ich ihm den Finger hin, und das Kind langte danach und spielte damit. Die verkrusteten Nasenlöcher des Kindes sahen schlimm aus. Die Darmstädterin beruhigte mich, das sei nichts Besonderes. Als ich mich hinunterbeugte, um die Nasenlöcher besser begutachten zu können, quiekte das Mädchen und strampelte mit den Beinen.

Tags darauf hatte sich das schlechte Wetter verzogen. Auf dem Marktplatz wurde weiter kolonisiert, die Partei war bemüht, ihren Lebensraum in die Köpfe der Kinder auszudehnen, dies geschah durch eine Rede vor den versammelten Verschickten, gehalten vom Gebietsbeauftragten der Kinderlandverschickung, Oberstammführer Pleininger. Ich sah ihn auf seinem Motorrad hinter einer schlurfenden Kuhherde hertuckern, in den schönsten Stiefeln, die ich seit Monaten zu Gesicht bekommen hatte, Chromleder, Frankreich. Ich dachte mir, wenn die vorne wüssten, wie gut es sich die Daheimgebliebenen machen, würden sie sofort überlaufen.

Weil die Verschickten außerdem das 3-Monats-Jubiläum feierten, das heißt, dass sie nun seit drei Monaten Verschickte waren, wurde in allen Lagern getanzt bis zehn Uhr am Abend zur F.geburtstagsmusik aus dem Radio.

Die Existenzgrübelei des Brasilianers war neuerdings von guter Laune durchwachsen. Zwar stöhnte er unter der Arbeit, sie komme ihm vor wie aus Gummi, das ganze Leben sei aus Gummi, gesponsert von der Firma Buna, Made in Poland, Generalgouvernement. Aber er prophezeite, dass im Westen die Invasion unmittelbar bevorstehe, und dann dauere es nicht mehr lange, und er haue ab aus dem verzopften europäischen Zivilisationsbetrieb. Seine Stunde werde kommen, und so glücklich, wie er dann sei, sei kein Mensch auf der Welt, und dann schüttle er dem Finger-Gottes-Gebirge die Hand und dann höre er dem vielstimmigen Dröhnen des Orgelgebirges zu und dann lege er sich in die Wüste der Schnarcher. Nur weg von diesem Räuber- und Kriegskontinent. / Er zog einen alten Nagel aus einem alten Brett, das Geräusch, das dabei entstand, war nicht weit entfernt vom Kreischen der Kreide an der Schultafel, es zog mir die Blase zusammen. / Die Ellbogen des Brasilianers kamen beim Arbeiten aus den Löchern im Pullover. Er sagte, jetzt kaufe er sich keinen neuen mehr. In Brasilien, ja. »Viva Brasil!« Er gab ein zufriedenes Grunzen von sich und ging mit dem rostigen Nagel über den Plattenweg zum Gewächshaus.

Auch unter den verschickten Kindern hatte sich herumgesprochen, dass es in Mondsee einen Brasilianer gab. Wenn die Mädchen Dorffreizeit hatten, suchten sie seine Gesellschaft, gingen ihm zur Hand und fragten ihn nebenher aus, über Papageien, Kolibris und Kaffeeplantagen. Manchmal streute der Brasilianer unvorsichtige Bemerkungen ein: »In Brasilien vermischen sich die Rassen ganz selbstverständlich. Dort gibt es viele Mischlinge, das ist dort normal. Wer bei der Einschätzung von Menschen Rasse zur obersten Kategorie erhebt, höher als jede andere menschliche Eigenschaft, Intelligenz, Geist, Takt, Talent, gibt keinen Beweis seiner Überlegenheit.« / Die Kinder lauschten mit neugierigem Gruseln und sahen einander fragend an oder spotteten ein wenig. Und einmal platzte eines der Mädchen heraus mit einem lauten: »Pfui!« / Da zuckte der Brasilianer die Schultern, und die Mädchen nahmen es zur Kenntnis.

Zum Verhängnis wurde ihm nicht seine Liebe zum südlichen der beiden Amerikas, sondern eine Bemerkung, die er drei Tage nach dem F.geburtstag anlässlich einer Ansprache des Ministers für Öffentlichkeitsarbeit machte. Mit seiner ersten Lieferung Radieschen und Gurken in diesem Jahr kam der Brasilianer in die Übertragung hinein, die im Schankraum des Schwarzen Adlers aus dem Radio tönte, der Minister für Öffentlichkeitsarbeit stellte dem Anprall der Kriegswirklichkeit einige Phrasen entgegen. Und der Brasilianer sagte, für den Ziegenfuß finde sich hoffentlich bald eine gestrenge und gut gebaute Krankenschwester, die ihm eine für Geisteskranke gemachte Jacke anziehe. / Es habe ein paar offene Münder gegeben, und ein Gast, der es gut mit ihm meinte, habe vorsorglich gesagt, er solle nicht so einen Unsinn reden, er sei offenbar betrunken. Doch den Genuss von Alkohol ließ sich der Brasilianer nicht unterstellen, er verwahre sich dagegen, und das Land brauche keinen solchen F., der aus Taktik und Egoismus zwar selbst nicht saufe, rauche und raue Mengen an Tierfleisch verschlinge, aber diese Dinge in einem krankhaften Übermaß seinen Untergebenen zur Verfügung stelle. Unter den Missgeburten, die dieses Land in ihre Gewalt gebracht hätten, gehöre der Minister für Öffentlichkeitsarbeit eher noch zu den leichteren Fällen.