Der Brasilianer wurde nicht über Nacht

Der Brasilianer wurde nicht über Nacht verhaftet oder im Morgengrauen, wie die Leute es sich von derlei Vorgängen erzählten, sondern zur Mittagszeit. Mir kam vor, die Behörden, die in Sachen der verschwundenen Annemarie Schaller nicht weiterkamen, also feststeckten, nutzten die Gelegenheit, um den Anschein zu erwecken, alle seien auf ihrem Posten. / Während ich mein spätes Frühstück einnahm, hatte ich ziemliches Kopfweh. Einzelne Geräusche von der Gärtnerei erreichten mich gedämpft. Ich betrachtete die zwei Tomaten, die zum Reifen auf meinem straßenseitigen Fensterbrett lagen, und dachte daran, wie sehr Hilde im Sanatorium sich über den Anblick der ebenfalls zum Nachreifen auf ihrem Fensterbrett liegenden Tomaten gefreut hatte. In Papier gewickelt oder in Holzwolle gelegt, hatten Mama und Papa ihr ins Sanatorium geschickt, was möglich gewesen war. Es ist Teil der Geschichte, die mich geformt hat. Und nebenan hörte ich die Schritte der Darmstädterin, schnell und geschäftig, manchmal Geschirrklappern und Trällern, manchmal ein Schlag gegen die Wand.

Dann kam mit leisem Geräusch ein Wagen die Straße herüber. Hier fuhr normalerweise nur der Schlachter mit einem ganz anderen Geräusch wegen des Anhängers. Mit der Kaffeetasse in der Hand trat ich zum Fenster. Ein dunkler Peugeot zwängte sich zwischen dem Leiterwagen und dem vorderen Komposthaufen durch, presste zwei Spuren ins Gras bis zum Eingang des Gewächshauses. Dort wusch der Brasilianer im Brunnentrog seine Socken.

Zwei Männer stiegen aus. Der eine war so feist, dass er im Nacken Harmonikafalten bekam, wenn er den Kopf nur ein wenig hob. Und sie gingen auf den Brasilianer zu. Und die Hündin kam bellend aus dem Gewächshaus gelaufen. Und der Dünnere schlug die Hündin sofort zweimal mit einem Stock. Und der Brasilianer legte die nassen Socken über den Rand des Brunnentroges. Und der Dicke fasste den Brasilianer am Arm, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie ihn jetzt dringender brauchten als der Hund. Und die Hündin kroch winselnd unter den Leiterwagen. Und kurz darauf gingen die Männer mit dem Brasilianer zum Haus. Und ich dachte, was sind das für Menschen, die den Hut nicht abnehmen, wenn sie ein Haus betreten. Antwort: Das ist wohl nicht deren Hauptproblem.

Als die Männer wieder herauskamen, war die Aktenmappe unter dem Arm des Dünneren dicker geworden, und die halbe Nachbarschaft hatte sich auf der Straße versammelt, denn das Erscheinen eines Wagens mit verdunkelten Fenstern hatte nicht nur bei mir Aufsehen erregt. / Da ich Uniform trug, wagte ich es, den Männern entgegenzugehen. Der Dicke kam auf mich zu, und ohne mich zu Wort kommen zu lassen, bezeichnete er mich als genau richtig, ich solle ihm die Gaffer vom Hals halten. Ich drehte mich um, auch die Quartierfrau hatte sich ein wenig herangewagt. Ich fragte, was das werden solle. / »Eine tadellose Verhaftung«, gab der Mann mit leisem Hohn zurück, und dabei fixierte er mich, wie man es ihm im Schnellsiedekurs für Geheimpolizisten beigebracht oder wie er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte. Es wirkte einstudiert, verfehlte aber nicht den gewünschten Effekt. Ich blieb stehen.

In den Winternächten im Gewächshaus hatte ich dem Brasilianer allzu oft nur mit einem Ohr zugehört. Irgendwie kam es mir jetzt vor, als habe er einmal gesagt, unsere Begriffe von dem, was Zivilisiertheit sei, könnten nicht aufrecht erhalten werden. Und es kehrte mir auch eine andere Bemerkung in die Erinnerung zurück, er hatte gesagt, manchmal käme ich ihm vor wie eine Pflanze, die man einmal umtopfen müsste. Er habe den Eindruck, ich hätte mein Wachstum vor Jahren eingestellt.

Jetzt hatte er ein Bündel mit vermutlich rasch zusammengeraffter Wäsche unterm Arm. Und während der Feiste zu ihm zurückging, suchte der Brasilianer meinen Blick und sagte: »Kümmere dich um die Tomaten, Menino. Auch das werde ich dir wohl zutrauen dürfen.« Und er warf mir einen Schlüsselbund zu, und der Schlüsselbund flog mir genau vor dem Bauch in die Hände.

Und der Feiste sagte zum Brasilianer, er solle das Maul halten und besser seine elenden Galoschen putzen, damit er den Wagen nicht verdrecke. Und der Brasilianer, in seinen groben, stumpfnasigen Arbeitsschuhen, hatte trotz allem noch Witz und erwiderte, gute Schuhe seien in allen Breiten der Welt viel wert, doch auch im Dschungel Brasiliens sei es so, diejenigen in den besten und teuersten Stiefeln brächten das größte Unglück. / Der Polizist sah den Brasilianer spöttisch an, ein wenig verächtlich. Dann plötzlich, als erinnerte er sich der Dienstanweisung für das fünfte Kriegsjahr, versetzte er dem Brasilianer mit solcher Wucht einen Schlag ins Gesicht, dass der Brasilianer rücklings ins Gras fiel. Und der andere Polizist stieß den Brasilianer mit dem Fuß an, und so wurde das Gemunkel über die diesbezüglichen Abläufe am Ende doch noch bestätigt. Sie packten den Reglosen am Kragen, schleiften ihn durch das, was das Leben ausmacht, den Schmutz der Erde und das Gras der Tage, mit Tritten und Püffen stopften sie ihn auf die Rückbank des Wagens und warfen das Bündel mit der Wäsche und einen verlorenen Arbeitsschuh hinterher, den ein Knirps aus der Nachbarschaft ihnen gereicht hatte. Und alle andern glotzten nur, ich eingeschlossen. Und der Peugeot rangierte, fuhr zwischen Komposthaufen und Leiterwagen durch, scherte holpernd in die Straße ein, wo einige Nachbarn zur Seite treten mussten, in Schlaglöchern wankend, staubte der Peugot davon. Und es war jetzt so still, dass ich von unter dem Leiterwagen das erbärmliche Winseln der Hündin hörte, ich schaute kurz hin, und die Hündin schaute verängstigt her, aber ich hatte so arges Herzklopfen, dass mir alles egal war.

Ich war dann wieder so ein unruhiger Geist, dass ich ziellos in Mondsee herumlief, bis ich am späten Nachmittag todmüde den Posten betrat, um vom Onkel gesagt zu bekommen, er wisse weniger als ich, die Anzeige sei über Linz gelaufen und alles andere auch. Aber während ihn das Verschwinden des Mädchens Annemarie Schaller nicht sonderlich interessiert hatte, schien ihn die Unvorsichtigkeit des Brasilianers zu beschäftigen, das sei keine Kleinigkeit, wie könne man nur so dumm sein, dem Minister für Öffentlichkeitsarbeit eine Zwangsjacke in Aussicht zu stellen. Dass hier um eine Strafe nicht herumzukommen sei, werde wohl allen Beteiligten klar sein. Und er fand, der Brasilianer hätte besser den Mund gehalten, wie andere es auch tun, dann hätte er sich manche Nacht auf einem harten Bett erspart. Ich fragte, was manche Nacht bedeute, in welcher Größenordnung wir uns bewegten. Und ohne viel nachdenken zu müssen, sagte der Onkel: »Sechs Monate, wenn er Einsicht zeigt. Andernfalls wird er – wie Lanner Anton und Anton – feststellen müssen, dass es auch schlimmer kommen kann.« / Und dann nickte er, als habe er die Weisheit mit dem Löffel gefressen.

Ich hatte das plötzliche Bedürfnis, mir einen anzutrinken, die Neue Post war gleich um die Ecke. Wegen meiner Niedergeschlagenheit fuhr mir der Alkohol ganz besonders ein, nach zwei Achtel Wein schwindelte mich schon, ich war nichts mehr gewöhnt. Aber in der Neuen Post war die Luft aus Tabakqualm, Küchendunst, Alkoholatem und Schweiß so dick, dass ich mich regelrecht anlehnen konnte. Und auch die Betrunkenen wankten zwar, fielen in der dicken Luft aber nicht um. Und auch die verlorenen Seelen fanden hier etwas Halt. / Die Verhaftung des Brasilianers wurde lebhaft diskutiert, einer sagte, der Brasilianer sei am falschen Ort gelandet, denn er gehöre nicht ins Zuchthaus, sondern in eine Irrenanstalt. Insgesamt war man sich aber einig, dass es nicht besonders schlau gewesen war zu sagen, was der Brasilianer gesagt hatte. Wenn einer schon unbedingt reden wolle, dann besser mit den Kühen und auch mit den Kühen nur im Flüsterton, da schlage man sich lieber mit der Hand auf den Mund, für alles andere trage man selbst die Verantwortung. »Das ist meine Meinung«, sagte ein alter Mann. Und ohne sichtbaren Anlass fiel ein Hut vom Garderobenhaken und kullerte in eine Bierlache.

Beim Heimkommen erschreckte mich, wie schon mehrmals an diesem Tag, das Klimpern des Schlüsselbundes in meiner Hosentasche. / Die Darmstädterin wollte mir unbedingt Schnaps verabreichen, weil ich so nervös war. Sie hatte die Schnapsflasche schon in der Hand. Aber wenn ich dieses Medikament auch noch schluckte, war der Narr ganz fertig, es fühlte sich schon jetzt so an, als könne niemand je die Unordnung in meinem Leben wieder gutmachen.

Vorsichtig schnuppernd schlüpft eine Maus hinter dem Türstock hervor, wo ein Loch ist, trippelt über den Fußboden, bis sie etwas gefunden hat, was sie fressen kann, und verschwindet dann wieder in ihrem Loch. / Es beginnt bereits dunkel zu werden, ich kann kaum noch die Linien auf dem Papier erkennen.

Immer wieder stand ich auf und ging zum Fenster. Unbeeindruckt standen Schafberg und Drachenwand an ihrem Platz. Der Garten des Brasilianers lag verlassen da, das Gewächshaus schimmerte friedlich im Licht. Jemand musste sich um den Betrieb kümmern, das stimmte wohl. Und doch vermochte ich mich nicht zu entschließen, im Grunde, was ging es mich an, ich wollte in die Sache nicht hineingezogen werden, der Krieg hatte mich gelehrt, Risken abzuwägen, und wenn ich hier unvorsichtig war, lief ich Gefahr, dass mein Dienstgeber früher als vorgesehen wieder nach mir griff. Da war es besser, wenn ich mich drückte, so etwas verlernt ein guter Soldat nicht.

Soldat? Mir war ein wenig unwohl, nachdem ich das Wort in Gedanken verwendet hatte. Und daneben tauchte ein anderes Wort auf: Freund. Waren der Brasilianer und ich befreundet? Und wenn ja, wer hatte bei dieser Freundschaft eigentlich wen gewählt? Doch eher ich ihn als er mich.

Die Darmstädterin brachte der Hündin die Reste ihres Abendessens. Die Hündin hatte sich den ganzen Tag von ihrem Platz unter dem Leiterwagen nicht weggerührt. Und die Darmstädterin streichelte ihr den Rücken, und die Hündin winselte auf, und die Darmstädterin zog die Hand rasch zurück und fuhr der Hündin besänftigend über eine der Vorderpfoten. Sie stellte dem Tier Wasser hin. Beim Zurückkommen schaute sie zu mir herauf und grüßte mich mit ihren zwei ausgestreckten Fingern, die sie Richtung Stirn und wieder weg führte. Ich salutierte, wie man es mir beigebracht hatte.

Als es längst dunkel war und das Kind schon schlief, hörte ich die Hündin schwach bellen. Zuerst maß ich dem Bellen keine Bedeutung bei. Dann hörte ich das erste Klirren und gleich noch eines und noch eines. Ich riss das Fenster auf, und wieder klirrte es mehrmals. Beim Gewächshaus huschten Schatten, und ich brüllte hinaus in einer Lautstärke wie erst einmal in meinem Leben, als ich unmittelbar nach meiner Verwundung nach dem Sanitäter gerufen hatte, ich war so aufgeregt und hatte solches Herzklopfen, dass ich nicht mehr weiß, ob ich wirklich brüllte, was ich in Erinnerung habe: dass ich mein Gewehr hole. Ich war sehr erregt. Die Schatten liefen davon in Richtung Acker und in Richtung Wiese, und ich meinte unterdrücktes Lachen zu vernehmen. Dann war es still, und da war wieder das klägliche Winseln der Hündin.

Wenig später stand ich mit der Darmstädterin vor dem Haus, sie wiegte das Kind in den Armen und sagte, wenn das so weitergehe, werde ihr die Milch sauer. / Die Quartierfrau steckte nur einmal kurz den Kopf zum Fenster heraus und fragte mit kaltherziger Neugier, warum ich so ein Gebrüll veranstalte, ich hätte sie aus dem Schlaf gerissen. Ich wollte ihr die gröbsten Dinge an den Kopf werfen, überlegte es mir aber, wozu denn, und sagte nur: »Es wird schon einen Grund gehabt haben.« / Als die Quartierfrau ihr Fenster wieder geschlossen hatte, hörten wir von drinnen ihr wildes, unheimliches Lachen. Die Darmstädterin sagte: »Ich hoffe, dass mir der Herrgott die Geduld gibt, dass ich es aushalten kann, bis der Krieg vorbei ist.«

Die Augen der Hündin glänzten unter dem Leiterwagen hervor, und ich hielt ihr die Hand vor die Schnauze, und sie leckte die Hand ab. Die Darmstädterin sagte, dass sie vermute, man habe der Hündin das Rückgrat gebrochen, ob niemand den Veterinär kommen lasse und ob es jetzt klug sei, das Tier weiterhin vegetarisch zu ernähren, was ihr ohnehin nicht ganz geheuer sei. Ich war noch immer sehr aufgewühlt, zornig und unglücklich und vertagte die Sache, ich sagte, ich werde mich in der Früh um alles kümmern. / Den Trinknapf der Hündin füllte ich mit frischem Wasser.

Über uns stand ein dichtes Gewirr aus Sternen. Aber in Russland hatte ich Gelegenheit genug gehabt, den Sternbildern etwas näherzukommen, jetzt interessierten sie mich nicht mehr. Einige Fledermäuse flatterten durchs Dunkel mit einem papierenen Geräusch, diese ruhelosen Seelen.

Ich lag dann lange wach bei offenem Fenster und lauschte hinaus auf jeden Laut. Im Nebenzimmer drehte sich die Darmstädterin von einer Seite auf die andere. Und dann träumte ich, dass der Onkel in seinem Dienstzimmer kopfunter an der Decke ging. Und gegen fünf in der Früh wachte ich auf mit Bauchschmerzen, taumelte hinunter zur Latrine und hatte eine Sturzentleerung, Durchfall, total flüssig. Die Schweine schliefen ungestört und achteten nicht auf mein Stöhnen. Ich legte mich noch einmal nieder, lag wach, bis die Sonne aufging, dann zog ich mich endlich an und begab mich zum Grundstück des Brasilianers, um den Schaden zu besichtigen.

Acht Glaselemente am Gewächshaus waren zerbrochen, größere Teile der kaputten Scheiben hingen noch in den Rahmen. Drinnen waren die Orchideenbeete abgeerntet, der Brasilianer hatte vor einigen Tagen weitere Gurken gepflanzt. Auf der dunklen Erde lagen große und kleine Scherben und Splitter. Bei den Tomaten hatten größere Scherben einzelne Äste abgeschlagen und zwei Stauden geköpft. Zwischen den Scherben fand ich faustgroße Steine. Ich ließ sie liegen, bis der Onkel gekommen war und mit dem Schnaufen des schweren Rauchers eine Tatortbegehung vorgenommen hatte. Er strengte sich nicht an, Interesse für den Vorfall zu heucheln, er opferte auch keinen Erfassungsbogen, Argument: das wäre Papierverschwendung in Anbetracht der angespannten Versorgungslage. / »Jung und ungestüm, das lässt sich ja auch verstehen. Ein wenig übers Ziel hinaus ist es schon«, sagte er.

Der Onkel verströmte einen sauren Schweißgeruch, er wirkte verschlafen, bewegte sich träge wie einer, der seine Zeit mit Warten und Herumstehen vertut. Ich starrte ihn an in einer Mischung aus Bitterkeit und Zorn, und da bezeichnete er sich als alten Klepper und lamentierte, dass er vor einigen Jahren den Ruhestand schon so gut wie in der Tasche gehabt habe und dass die Entlassung nun von Jahr zu Jahr aufgeschoben werde und dass er gezwungen sei, überall mit dem Feuer zu spielen, immer am Rand des Vertretbaren, er drücke in alle Richtungen mehr Augen zu als ein normaler Mensch besitze, nach dem Krieg könne er eine zweite Karriere beim Zirkus starten. Und trotzdem denke er sich bisweilen, das, was er schließlich bekomme, werde eine Tracht Prügel sein, schade, denn unter besseren Umständen würde er längst von einem Ruderboot die Angel in den See halten.

Er bat mich dann noch, ihm meine Beziehung zum Brasilianer zu erläutern. Es würden im Ort schon Beschwerden geäußert, ich wäre an der Front besser aufgehoben als hier. Man glaube dem Wiener Soldaten gerne, dass es am Mondsee schöner sei als in den Karpaten. Aber es helfe alles nichts, es sei nun einmal Krieg, die Erfordernisse des Moments undsoweiter. / Ich begann mit dem Einsammeln der Scherben und sagte, der Tag der Nachmusterung rücke heran, der Onkel solle mir die verbleibenden Wochen nicht nehmen, er müsse sich keine Sorgen machen, Vegetarier werde aus mir keiner, und schließlich sei er, der Onkel, es gewesen, der mir das Zimmer besorgt habe, ich hätte mir die Nachbarschaft nicht ausgesucht, ich käme nun einmal mit allen gut aus. / »So, so«, sagte er und machte mit den buschigen Brauen eine Bewegung, die ich folgendermaßen deutete: Wer’s glaubt! / Er schaute mir noch eine Weile beim Einsammeln der Scherben zu, dann entfuhr ihm ein »Scheiß drauf!«, und er trollte sich hustend, denn er hatte seine Zigaretten auf dem Schreibtisch liegen lassen.

Unter dem Eindruck, dass etwas zu geschehen hatte, brachte ich verschiedene Drähte zum Glühen, bat Herrn Tecini um Rat und sprach mit dem Ortsgruppenleiter. Es kostete mich allerlei Mühen und mehrere Kilo Gurken, bis alles in die Wege geleitet war und ich die Zuweisung für das Glas in Händen hatte. Der Onkel hatte mir das Stichwort gegeben: in Anbetracht der angespannten Versorgungslage. Ich erinnerte den Ortsgruppenleiter an die zweihundert verschickten Kinder in seinem Einflussbereich und daran, dass von etwa siebenhundert Kilo Tomaten die Rede war, heutzutage nicht unerheblich, im Moment sei Ware mehr wert als Geld. Und der Ortsgruppenleiter bestätigte es, er wirkte erschöpft, Geld sei tatsächlich vorhanden, sagte er, sonst fehle es so ziemlich an allem. Ich verhandelte den Preis, wir schlossen einen mündlichen Vertrag, und im Stillen dachte ich, die Volksgemeinschaft ist eine gierige Vettel.

In den folgenden Tagen schlug mir die Arbeit über dem Kopf zusammen. Die meiste Zeit nahmen die Laufereien in Anspruch, die für die Beschaffung des Materials nötig waren. Den Kitt erhielt ich wieder nur gegen diverse gelbe, grüne und runde Substanzen. Auch dem Onkel schenkte ich eine Schachtel Zigaretten, damit er mir gewogen blieb, er sagte, seines Wissens habe der Brasilianer für die besonders schlechten Zeiten einige Kisten mit Zigarren gehortet, eine gewisse Frau Beatriz de Miranda Texeira habe die Kisten jahrelang zu Weihnachten geschickt, ich solle aufpassen, dass die Zigarren nicht in die falschen Hände kämen.

Der Kitt war zäh und schwer zu verarbeiten. Die Leiter hatte lose sitzende Sprossen, das machte mich nervös. Und von dort oben, mit dem Kopf über dem Gewächshaus, kamen mir die Überflüge endlos vor, ich hatte ein Gefühl des Irrealen, während die aus Italien kommenden Geschwader in glitzernder Ordnung über den See zogen. Zum Glück verging das Gefühl wieder, nachdem ich am Brunnen Wasser getrunken hatte. Und ich kämpfte weiterhin mit dem zähen Scheibenkitt. Und wenn ich hinunterstieg, sah ich, dass die Pflanzen die Blätter hängen ließen, da sie seit drei Tagen nicht gegossen wurden. Und noch immer waren die Gurken nicht abgenommen.

Es war Freitagnachmittag, mein Rücken schmerzte. Weil ich den Schlauch nicht auf den Hahn des Laufbrunnens brachte, arbeitete ich mit den Gießkannen, goss, während die andere Kanne volllief, an den Händen hatte ich Blasen, die sich ebenfalls füllten. Und obwohl die Tür zum Gewächshaus offen stand, heizte sich der Raum in der Sonne auf, mir lief der Schweiß in Bächen herunter. / Ich wollte schon Schluss machen für diesen Tag, da hörte ich ein Quieken. Die Darmstädterin war hereingekommen, in ihrem Arm das Kind probierte seine Stimmmöglichkeiten aus in dem so anderen Licht und der Wärme. Wenigstens eine Person, die noch die Fähigkeit besaß, glücklich zu sein. / Die Darmstädterin ging nach hinten, breitete eine Decke auf den Boden, legte das Kind hin und startete den Plattenspieler, sie zog eine Platte von Rosita Serrano aus dem Stapel. In die ersten Takte von Roter Mohn hinein sagte sie, ich solle auf das Kind aufpassen. Dann ging sie hinaus und schloss den Schlauch an. Ich fragte sie, wie sie das gemacht habe. Sie zeigte es mir und strahlte, es gefiel ihr, dass sie den kompletten Durchblick hatte. Zu Hause in Darmstadt hätten sie dasselbe System. Anschließend nahm sie Gurken ab. »Besser als Windeln waschen«, sagte sie. Und sie reichte mir eine Tomate und forderte mich auf, eine Pause zu machen. »Ruh dich ein wenig aus, du bist ja total erschöpft.« / Ich setzte mich auf die Werkzeugkiste, wo ich im Winter immer gesessen war. Zu meinen Füßen das Kind lag auf dem Rücken, die abgewinkelten Beine in die Höhe gestreckt, es beobachtete mich beim Essen der Tomate. Und nach einiger Zeit rieb sich das Kind mit den drallen Fäustchen die Wangen, als müsse es nachdenken. / Ich drehte die Schallplatte um, und Rosita Serrano sang Es leuchten die Sterne.

Für jedermann überraschend kam in der Nacht nochmals ein Schlechtwettereinbruch mit Schnee. Ich brauchte ohnehin eine Ruhepause, nahm meinen Kalender aus der Feldbluse, die etwas abseits am Nagel hing, und strich die vergangenen Tage aus. Die Aprilbilanz 1944 konnte ich als denkbar unbefriedigend abschließen.