In den Dschungeln Schwarzindiens

In den Dschungeln Schwarzindiens ging alles seinen gewohnten Gang. Im Lager gab es keine weiteren Aufregungen, die frechen Mädchen waren frech wie immer, und Emmi heulte am Tag mindestens einmal, so wurde es mir berichtet. In allen Zimmern duftete es nach Wiesenblumen, trotzdem war die Stimmung im Vergleich zum Winter sehr heruntergesunken. Das lag vor allem an Nanni und daran, dass kaum jemand anwesender ist als jemand spurlos Verschwundener. Das ganze Lager hatte Nanni schon satt, weil sie mehr Aufmerksamkeit bekam als alle Anwesenden zusammen. Die vorlauten Mädchen schimpften, und die angepassten Mädchen schüttelten missbilligend den Kopf.

Die Mädchen, die mit dem Handwagen die ersten Tomaten abholten und ihre von der Lagerlehrerin ausgestellte Wegerlaubnis vorwiesen, sagten, es gehe ihnen auf die Nerven, dass sie nun besser beaufsichtigt würden und weniger Ausgang bekämen. In der Freizeit müssten sie für die Schule in Wien bis zum Umfallen Spitzwegerich und andere Heilpflanzen sammeln. Auf dem Speiseplan stehe immer öfter Brennnesselsalat. Und dann war auch das Wetter sehr wechselhaft. Einmal erst hätten sie den ganzen Unterricht im Freien erhalten. Unten die Bank beim See habe als Pult gedient. Sie hätten schon vom Badengehen geredet, weil es wie im Hochsommer gewesen sei. Dann war das Wetter wieder umgeschlagen.

Der Brasilianer wartete im Polizeigefängnis in der Linzer Mozartstraße auf seinen Prozess. Den Juristen blühte seit Jahren der Weizen. Von einem Rechtsanwalt in Vöcklabruck erhielt ich ein Schreiben, in dem er mich wissen ließ, dass der Brasilianer gesund sei, wenn auch am ganzen Körper blau von der Holzpritsche. Es gebe keinen Grund zu der Annahme, dass der Vorfall im Adler keine ernsten Konsequenzen haben werde. In diesem Zusammenhang erkundigte sich der Rechtsanwalt nach dem Gewächshaus und meinen damit verbundenen Absichten. Sein Mandant stehe nach eigener Auskunft allein da und bitte mich, für die Aufrechterhaltung des Betriebes zu sorgen. / Ich setzte mich hin für eine Antwort, berichtete von der Hündin und dass der Veterinär sage, er könne ihr nicht helfen und würde es auch nicht tun, weil er die fleischlose Ernährung eines Hundes für abartig halte. Zuletzt machte ich meine Vorschläge. / Wenige Tage später erhielt ich die erbetene Vollmacht für die Bewirtschaftung der Gärtnerei, lautend auf den Namen der Darmstädterin. Zunächst hatte sie gesagt, sie finde den Gedanken überraschend und müsse darüber nachdenken. Aber schließlich willigte sie ein, nachdem ich ihr auseinandergesetzt hatte, dass auch ich ein ungeklärter Fall war. Es blieb vage von einem Tag auf den andern, ob ich bald wieder hinaus ins Feld musste.

Am Abend sank ich todmüde auf das ungemachte Bett vom Vortag. Oft wusch ich mich nicht einmal. Hie und da blieb noch die Kraft, den Polster zu richten, aber auch das nicht immer. Oft arbeitete ich ohne Atempause, und währenddessen dachte ich an den Brasilianer, von dem ich mir vorstellte, dass er in diesem Moment die Wände anstarrte. Beim Brummen der die Gegend überfliegenden Geschwader dachte ich an das Wort aufbrummen. Und beim Blick hinunter zum See dachte ich an das Wort einbuchten. Es gibt so viele Wörter im Zusammenhang mit Gefängnis, dass ich die Sache für eine elementare menschliche Erfahrung halten musste wie essen und schlafen.

Mein Leben war jetzt eines mit Blasen an den Händen, abgebrochenen Fingernägeln, Muskelkater und blauen Flecken. Die Blasen machten mich mürrisch, die abgebrochenen Fingernägel verzagt, doch der Muskelkater und die blauen Flecken weckten ein Gefühl der Zufriedenheit. Abends um halb zehn drehte ich mich in meine Decke hinein und lag selten länger als zehn Minuten wach.

Wenn ich beim monotonen Arbeiten im Glashaus ein Gefühl des Irrealen verspürte, nahm ich ein Pervitin. Dann wurde ich rasch ruhig und bisweilen sogar fröhlich. Auch hatte ich unter dem Einfluss des Medikaments mehr Ausdauer. Und insgesamt war mir das Arbeiten lieber als das Nachdenken. / Manchmal hatte ich Zeit für eine längere Pause und legte mich in die Hängematte des Brasilianers. Einmal lag das Kind auf meinem Bauch und schlief. Und ich schlief ebenfalls, bis die Darmstädterin uns weckte.

Die Darmstädterin kümmerte sich um alles Geschäftliche. Bei der Ortskrankenkasse in Darmstadt hatte sie eine Lehre zur Versicherungskauffrau absolviert, ehe sie zum Kriegshilfsdienst in die Fahrdienstleitung des Frankfurter Hauptbahnhofs berufen worden war. Die Tomaten für die Lager wurden von Verschickten oder den Wirtschafterinnen abgeholt. Die Lieferungen an die Wirtshäuser in Mondsee bestellte die Darmstädterin mit einem Handwagen. Während ihrer Abwesenheit hütete ich das Kind. Krabbeln konnte es eh noch nicht, es drehte sich robbend im Kreis. / Am unangenehmsten war mir das Jäten von dem, was angeblich nicht vergeht, ich hackte es und rupfte es aus. Nach zwei Stunden hatte ich Angst, einen Buckel zu bekommen. Hände und Rücken sind die Leidtragenden des Gärtnergewerbes. / Die Darmstädterin sagte, man dürfe beim Arbeiten nicht zu übergenau sein, sonst komme man zu gar nichts. Das hatte ich inzwischen auch schon herausgefunden.

Die ersten beiden Maiwochen waren weitgehend trocken, es grünte, und die Obstbäume begannen zu blühen. Gleichzeitig ging die Zeit der Gewitter los, und wenn so ein Gewitter niederging, zahlte es sich aus. Der Regen brauste, dass man den Donner fast nicht hörte, dafür zitterte das Bett. Und wenn dann ein Blitz durch mein Zimmer fuhr, lief es mir kalt über den Rücken. Und immer hatte ich Angst, dass Hagel kommt. Jedes Wölkchen am Himmel fürchtete ich. Mir fiel auf, seit ich Verantwortung für die Gärtnerei übernommen hatte, waren meine Ängste mehr geworden. Ständig fragte ich mich, wie wird dieses werden, wie wird jenes gehen, und was wird morgen sein.

Die Atmosphäre im Dorf war weiterhin geprägt von der keifenden Quartierfrau, überfliegenden Bomberstaffeln, Todesfällen, Latrinengerüchten und Stromausfällen. Wenn der Quartierfrau der Wehrmachtsbericht nicht gefiel, beförderte sie den leeren Mistkübel mit Fußtritten über den Hof. Dann sprach man sie besser nicht an. / Egal, was man vom Fortgang des Krieges halten mochte, ein schlechter Wehrmachtsbericht machte so viele Menschen übellaunig, dass man unweigerlich etwas abbekam.

Mitte Mai fiel die Halbinsel Krim zurück in sowjetische Hand. Ganze Armeen, die sich Wege gebahnt hatten, existierten nicht mehr. In den ersten Kriegsjahren hatte es im Radio nach den Berichten des Oberkommandos über die Fortschritte an der Front Funkpausen für die sogenannten gefallenen Helden gegeben. Am Anfang waren es fünf Minuten gewesen, dann drei Minuten. Aber seit Stalingrad war mir keine Funkpause mehr untergekommen, obwohl mein Dienstgeber seither mehrfach um ganze Armeen erleichtert worden war. Nun hieß es lediglich noch, die Front sei ein Stück zurückgenommen worden. Und es blieb unausgesprochen, dass bald die ganze Ukraine wieder verloren war mit ihrer enormen Bedeutung, die vor einigen Jahren unermüdlich durch Statistiken in den Zeitungen bewiesen werden sollte. Die Ukraine, derentwillen der rücksichtsloseste, brutalste und blutigste Feldzug in der Geschichte der Menschheit geführt worden war, mit mir als Teil davon, dreißig Monate lang. Das jetzt noch besetzte Gebiet hatte keinen großen Wert, Sumpf und Wälder, das brauchte Deutschland heute so wenig wie vor drei Jahren. Und ein bisschen machte es den Eindruck, als genügte den Leuten tatsächlich wieder das Reich in seinen alten Grenzen. Und trotzdem versuchte irgendwer irgendwo eine Wunderwaffe zu entwickeln. Und bestimmt würden dieselben Leute, die heute die Fortschritte bei der Entwicklung der Waffe priesen, demnächst behaupten, dass das Unterfangen geglückt sei, eines mit Sicherheit kommenden Tages.

Dem Onkel legte ich zum Geburtstag eine Flasche Wein und ein Päckchen Tabak vor die Tür. Später sagte er, sein Magen vertrage diesen Tabak nicht, manches könne man umstellen auf schlechte Zeiten, aber nicht einen alten Magen. Der Tabak sei so minderwertig geworden, dass ihm die Zigaretten beinahe nicht mehr schmeckten. Er habe so eine saure Spucke im Mund.

Gestern Abend war in der Volksschule Gasmaskenprobe. Die Darmstädterin blieb mit dem Kind zu Hause. Bald wäre ich umgekippt. Die Hitze unter der engen Gasmaske, der niedrige Schutzraum mit den vielen Menschen und nur Notbeleuchtung. Ich hatte Platzangst und Herzklopfen. Das Gas selber machte mir nichts aus, die Maske schloss dicht. / Seit einigen Tagen sind die Schwalben da, pfeilschnell schießen sie über Wiesen und Wasser.

In einem Pullover, den sie linksherum angezogen hatte, weil er ihr so besser gefiel, saß die Darmstädterin vor dem Gewächshaus und trennte alte Socken auf. Wir hatten keine Schnur mehr zum Hochbinden der Tomaten, und neue Schnur war nicht zu bekommen, immer war sie ausverkauft, noch ehe sie geliefert wurde, alle Schnur wurde benötigt für Pakete an die Front. / Ich trug zwei Kübel mit Unkraut zum Misthaufen.

Im Gewächshaus zog die Wärme den Geruch aus der Erde. Tagsüber standen die Türen offen, alle von einem Holzkeil am Zufallen gehindert, damit die Hummeln und Bienen fliegen konnten. Und immer roch es, als habe es erst vor einer Stunde zu regnen aufgehört und als brenne nun wieder die Sonne vom Himmel. Aber wenn ich ins Freie trat, erschrak ich vor der Kühle und dem unbarmherzigen Wind, der von den Bergen herunterkam. / Auf der Wäscheleine des Brasilianers, die zwischen zwei Apfelbäumen gespannt war, wehten die Windelfahnen.

Wenn es Zeit war, bei der Arbeit zu einem Ende zu kommen, ging die Darmstädterin voraus und fing an, etwas herzurichten. Eine Viertelstunde später wusch ich die vom Hantieren geschwollenen Hände und ging hinauf über die irregulären Treppen, zog die Altmännersachen des Brasilianers aus, die ich bei der Arbeit trug, und schlüpfte in die Uniform des Stabsgefreiten. Manchmal trank ich noch rasch eine Tasse Kaffee, bis das Essen fertig war, und schaute dem Kind beim Spielen zu. Einige Spielsachen waren kaputt. Ich erschrak, als die Darmstädterin sagte: »Papa wird bald kommen und es richten.«

Ich bat sie, mir zu erzählen, wie sie ihren Mann kennengelernt hatte. Sie sagte, die Soldaten auf dem Weg in den Westen hätten Zettel mit ihren Feldpostnummern aus den Zugfenstern geworfen, solche Zettel habe man entlang der Gleise oft gefunden. Die Adresse von Ludwig habe ihr eine Kollegin in der Fahrdienstleitung weitergereicht, sie habe sich gedacht, ein Ostmärker, warum nicht. / Die Arbeit in der Fahrdienstleitung sei ungeheuer anstrengend gewesen, stundenlang ohne Pause hinter irgendwelche Apparaturen geschnallt, in der Nacht oft nur eine einzige Stunde Schlaf auf drei zusammengestellten Stühlen. Meistens sei sie so müde gewesen, dass ihr in der Bahn nach Darmstadt die Augen zugefallen seien. Nach einem dreimonatigen Briefwechsel sei Ludwig zu Besuch gekommen, und dann hätten ihre Freundinnen gesagt, sie würden die Hochzeitsglocken läuten hören, und dann habe sie wieder einmal eine Ohrfeige von ihrem Vater erhalten, danke, es reicht, und dann habe sie im Bett nicht mehr aufgepasst, und der Übermut, oder wie man es nennen wolle, sei mit ihr durchgegangen. Ob ich sie verstehen könne, dieses Denken: Mir ist alles egal, ich will leben! Ob ich verstehe, was sie meine. Bei der ersten Gelegenheit hätten sie geheiratet.

Sie erklärte mir, dass sie in der letzten Zeit eine merkwürdige Phase durchlaufe, was sie darauf zurückführe, dass sie glaube, nicht den richtigen Mann geheiratet zu haben. Heiraten sei ihr als die beste Möglichkeit zum Loskommen erschienen. Und für einen Soldaten habe Heiraten auch nur Vorteile. Hell auflachend setzte sie hinzu: »Kriegsbraut! An jedem schönen Wort klebt heute der Krieg.« / Sie sprach das Wort wieder auf diese besondere Art aus, dass es nach kriechen klang, nach dem Kauern in Erdlöchern. / »Bist du schockiert?«, fragte sie. / Ich zog den Korken aus der Flasche und murmelte traurig, es überrasche mich nicht, ich hätte es in meiner Kompanie oft so erlebt, die Verheirateten seien ständig in Urlaub gefahren, und für die Ledigen habe niemand etwas übrig gehabt.

Beim Füttern verbrannte sich das Kind die Zunge, weinte ein Weilchen und war dann mehr als bettreif. Die Darmstädterin wollte das Kind niederlegen, aber es protestierte so heftig, dass sie es wieder aus dem Wäschekorb nahm. Ich tat wenig später dasselbe, niederlegen und wieder holen. Um halb neun war das Kind endgültig im Bett, raunzte noch ein wenig und schlief bald ein. Die Darmstädterin und ich tranken gemeinsam den Wein leer und schimpften vor uns hin, bis ich sagte: »Ich muss gehen, es ist Zeit zum Schlafen.« / Sie strich sich im Aufstehen ihr Kleid glatt.

Es war jetzt richtig Frühling geworden, ein milder Südwind kam über die Berge. Die Darmstädterin und ich waren schon ganz braungebrannt. Nachmittags, wenn wir draußen auf dem Acker arbeiteten, hatte ich das Hemd offen, so warm war es. Eine herrliche Zeit oder besser gesagt, ein herrliches Wetter. / Am Abend aßen wir erstmals unter dem Nussbaum des Brasilianers. Wir lauschten dem langen Abendgebet der Frösche, und ich dachte an das sogenannte Auskämmen der Wälder, qua-qua-qua. Und wenn man einen Partisanen oder eine Partisanin erschossen hatte, war es, als hätte man den Wind im Feld gefangen, von unserer Warte gesehen, die Wirkung blieb aus, es war alles total sinnlos, grauenhaft, unmenschlich. Und dann weiter bei größter Hitze in riesigen, urwaldähnlichen Gebieten viele Kilometer gehen, und ständig quakten die Frösche, qua-qua.

Weil ich Angst hatte, einen Anfall zu bekommen, nahm ich ein Pervitin. Bald darauf war ich guter Laune. Die Darmstädterin und ich unterhielten uns und lachten viel. Wir hatten ein seltsames Verhältnis oder besser gesagt, ich empfand es als seltsam, weil wir so natürlich miteinander umgingen, nicht so gekünstelt und steif wie in der Jugend.

Die Hündin bellte. Ich sah, dass ein Fuchs aus dem Glashaus kam, meine Stimmung war sofort am Boden. Auch solche Kleinigkeiten machten mich nervös. / Ich wusch mir die Hände am Brunnen, und dann redete ich mit der Hündin. Dieses Tier, dem die Gabe des Verstandes nur in geringem Maße gegeben war, es sah mich hoffnungsvoll an aus seinen jungen Augen, als bitte es mich, ihm seine Hinterbeine zurückzugeben. Ich ließ die Hündin verdünnte Milch trinken. Dann schleppte sie sich mühsam zu dem halbverfallenen Mäuerchen beim Komposthaufen, die Hinterbeine nachziehend, sie schlug ihr Wasser ab und kroch zurück auf ihren Strohsack unter dem Leiterwagen, wo es kühler war. Dort störte sie niemand, und sie konnte an unserem Alltag teilhaben, weil sie Blick auf das Gewächshaus hatte und wir oftmals am Leiterwagen vorbeigingen.

Ich erhob mich von den Knien, mir schwindelte, und ich wartete, bis der Schwindel vorbeiging. Dann wischte ich mir die Hosenbeine ab. Und wieder ging die Sonne unter, die nächste Drehung der Erde, die mit Tag und Nacht das organische Leben regelt, nicht ganz unwichtig für eine Gärtnerei.

Das Kind war jetzt richtig dick geworden und hatte rote Wangen bekommen. Die Darmstädterin machte mit dem Kind Turnübungen, die Füße strecken und stoßen, an den Armen in der Luft hängen, an den Beinen in der Luft hängen, am Kopf stehen undsoweiter. Sie sagte, sie wünsche sich, dass Lilo ein hübsches, tüchtiges Mädchen werde. / Das Kind schlief von sieben Uhr abends bis morgens um fünf oder sechs. Tagsüber spielte es mit seinen Händen oder Füßen, erzählte ihnen Dinge, die sonst niemand verstand. Sehr gerne bekam das Kind Besuch. Wenn verschickte Mädchen Tomaten holten und sich zehn Minuten mit dem Kind abgaben, konnte es sein Glück gar nicht fassen. Die Leute erkundigten sich, ob das Kind Zahnweh habe. Aber das waren nur die dicken Wangen. / Am liebsten aß es Spinat und Griespapp.

Einmal fragte ich die Darmstädterin, was sie an mir möge. Zuerst sagte sie einige naheliegende Dinge und schließlich sagte sie, ich gäbe ihr das Gefühl, dass ich sie gerne in meiner Nähe hätte. Sie habe nie den Eindruck, dass ich mich durch sie gestört fühle. – Und das stimmte. / Sie sagte, alle Frauen mögen das. Aber umgekehrt, Männern bedeute das wohl nicht sehr viel. / »Mir bedeutet es sehr wohl viel«, widersprach ich. Und etwas Helles fuhr über ihr Gesicht. / Sie sagte, sie sei überrascht, dass es das gebe. Bei ihr zu Hause gehe es immer sehr laut zu, und jeder sei froh, wenn er mal allein sein könne. Gemeinschaft habe sie immer als Unding erfahren. / Ich sagte, in Wien im Kunsthistorischen Museum hänge ein großer Breughel, Die Bauernhochzeit. Das Hochzeitsmahl finde in einer Scheune statt, einem Ort der Arbeit, das gefalle mir. Alle Menschen sollten an Orten der Arbeit heiraten.

Wir standen im Gewächshaus und sahen uns an. Und dann, tock, tock, tock, setzte ein kurzer Regenschauer ein, in dicken Tropfen. Für die nächsten Minuten klang es unter dem Glasdach, als schüttle jemand seine Sparbüchse. / Wir setzten uns nach hinten auf die Werkzeugkiste, wo das Kind am Boden lag und seine Hände betrachtete, und wir tranken ein Bier, und die Darmstädterin sagte: »Ich bin gerne mit dir zusammen.« / Ich brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, was sie grad gesagt hatte. Dann sagte ich: »Es geht mir auch so.« / Und ohne dass wir einander bis dahin je außerhalb der Arbeit berührt hatten, waren wir zu diesem Zeitpunkt wohl schon ein, zwei Wochen ein Paar. Und wenn ich nicht so aufgeregt und nervös gewesen wäre, hätte ich den Moment, als wir es uns eingestanden, sehr genossen.

Am nächsten Tag beschlossen wir, uns einen freien Tag zu gönnen. Mit dem Kind auf dem Rücken machten wir einen Spaziergang am See und tranken in St. Lorenz zwei Achtel Wein und verzehrten gemeinsam einen Kuchen. So waren wir in guter Stimmung, als wir aufbrachen. Das Kind war vergnügt, weil es permanent herumgetragen wurde. Und vor dem Wirtshaus küsste mich die Darmstädterin, es war der erste Kuss. Und Arm in Arm gingen wir weiter. Und später küsste sie mich nochmals, diesmal sehr innig.

Die Darmstädterin sagte, ich solle erzählen. Ich erzählte von Wien und von den Eltern. Dann sagte sie, ich solle ihr vom Krieg erzählen. Ich sagte, für mich sei er ein grauenhafter Leerlauf gewesen, und trotzdem sei mir vorne nicht allzu viel entgangen. Womit ich meinte, dass ich alles gesehen hatte, was niemand sehen will. Wenn ein Dorf im Weg gestanden sei, hätten wir es einfach weggewischt mit Jung und Alt. Dann seien zwischen den Schutthaufen und den Leichen nur noch ein paar zerzauste Hühner herumgelaufen. Die russische Bevölkerung habe sich in Erdhöhlen eingegraben, mit ein paar Brettern überdeckt, ein wenig Stroh drin, die wenigen Habseligkeiten, die sie retten konnten. Furchtbare Bilder. / »Die Menschen waren so elend und ausgehungert … wenn wir nur ein leeres Papier wegwarfen, stürzten sie sich darauf wie Verrückte. Und die Alten küssten einem die Hand, wenn man ihnen ein Stück Seife oder Brot überließ. Und wenn Kinder den Soldaten die Stiefel küssten, hätte ich wetten können, dass hier gerade Entsetzliches passiert.«

Ich sagte: »Schade, dass das, was hinter mir liegt, nicht mehr geändert werden kann.«

Als wir uns dem Haus näherten, blickte die Quartierfrau von der Stalltür herüber, und obwohl ich von der Darmstädterin abrückte, begleitete ein missbilligendes Mustern unsere letzten Schritte. Schließlich warf die Quartierfrau ihre nur zur Hälfte gerauchte Zigarette in den Brunnentrog, woher ein kurzes Zischen ertönte.