Da ich keine Beziehungserfahrung

Da ich keine Beziehungserfahrung besessen hatte, war ich davon ausgegangen, dass ich zunächst einen Berg von Unkenntnis werde abtragen müssen. Aber wenige Tage, nachdem Margot und ich das erste Mal miteinander geschlafen hatten, hatte ich alles Wesentliche gelernt. Da war jemand, der sich für mich interessierte, der mich mochte und seine Zeit lieber mit mir verbrachte als mit anderen. Ich konnte Margot vieles erzählen, offener als Freunden und Verwandten, und sie hörte gerne zu und fasste die Dinge nicht sofort in der schlechtestmöglichen Auslegung zu meinen Ungunsten auf, wie die meisten Menschen es tun. Sie lachte, wenn ich lachte. Und sie versuchte nicht, mich zu erziehen. Ich glaube, sie war der erste mir nahestehende Mensch, der nicht versuchte, mich zu erziehen. Das alles wusste ich nach vier oder fünf Tagen, und viel mehr konnte nicht mehr kommen. Ich war ganz erstaunt. Und ich bewegte mich mit einem davor nicht gekannten Selbstbewusstsein, in dem Gefühl, dass ich nichts versäumen konnte, dass alles an seinem Platz war.

In Margots Zimmer fühlte ich mich wohler als in meinem eigenen. Ich mochte Margots Gegenwart und die Gegenwart des Kindes, die beiden ließen mich ruhiger werden, ich vergaß meine Zerrissenheit und meinen Neid auf die andern. / Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen lag ich auf dem Bett, Margot wickelte das Kind und sprach über ihre Vorlieben im Bett, darüber, welche Vorteile es habe, wenn ich im Bett über ihr sei, und welche Vorteile es habe, wenn sie über mir sei, und warum sie sich gerne selbst angreife. Ich hörte mit geschlossenen Augen zu. Es gab Momente, da ließen mich meine bitteren Gedanken los, und es fehlte mir an nichts.

Sie sagte, sie sei froh, dass wir uns so gut verstünden, sie finde, eine Bekanntschaft müsse klappen, so drückte sie sich aus. Mit klappen meinte sie unmissverständlich das Bett. Sie sagte, man könne eine Beziehung nur dann aufrecht erhalten, wenn die Bettvoraussetzungen gegeben seien und klappten. Bei uns klappe es sehr gut, zum Glück, denn damit, dass es nicht klappe, müsse man immer rechnen. Das sagte Margot und zwinkerte mir zu. / Ich begann zu ahnen, weshalb Sexualität auch ohne Liebe ihre Berechtigung hat, mehr Berechtigung als Liebe ohne Sexualität, wie bei einer Kerze ohne Docht. / »Ist es ein Problem für dich, dass es mir so viel bedeutet?«, fragte sie. / »Ich bin froh, dass es so ist«, sagte ich.

Nachdem Margot den Hintern des Kindes mit Feuchtigkeitscreme eingeschmiert hatte, verrieb sie den Rest der Creme auf ihren Händen. Es gab noch immer Überschüsse, und so dehnte sie das Verteilen der Creme auf meine Hände aus.

Mit dem linken Arm unter ihrem Nacken lag ich sinnierend neben ihr. Ich hatte jetzt schon einige Übung darin, tagsüber im Bett zu liegen. Es ist seltsam, was der Krieg alles macht. Vor dem Krieg wäre ich nicht freiwillig tagsüber ins Bett gegangen, nur wegen Krankheit. Hilde war oft tagsüber im Bett gelegen, sonst nach Möglichkeit niemand. An der Front hatte ich mich aus Langeweile niedergelegt, im Führerhaus des LKWs, im Bunker, im Zelt, in der ehemaligen Versuchsanstalt, in der ausgeräumten Hühnerfarm. Und jetzt in Mondsee lag ich am sonnigen Nachmittag im Bett neben einer verheirateten Frau. Und am Fußboden saß auf einer Decke ein sechs Monate altes Kind und lächelte ein hölzernes Feuerwehrauto an.

Margot mutmaßte, in mancher Hinsicht sei es für mich bestimmt angenehm, dass sie schon verheiratet sei, schließlich wünsche sich jeder Mann ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau. Ich war furchtbar beleidigt. Warum sie mich für einen solchen Schweinehund halte? Ich forderte sie auf, so etwas nie wieder zu sagen. Sie versprach es mir. / Ich sagte: »Die Anwesenheit des Kindes und die Tatsache, dass du verheiratet bist, haben verhindert, dass ich mir Gedanken gemacht habe, ob du für mich interessant sein könntest. Es gibt natürliche Hemmungen, und wenn es um Hemmungen geht, bin ich ein dankbarer Abnehmer.«

Nachher saß das Kind vor dem Glashaus in einer warmen, vom Regen zurückgebliebenen Pfütze, es patschte mit den Händen in das Schmutzwasser und war glücklich. Margot und ich nahmen Tomaten ab und luden zwei Steigen in den Handwagen der schwarzindischen Mädchen. / Die Mädchen sagten, das Wasser des Sees sei schon recht warm, und sie hofften, Frau Fachlehrerin Bildstein lasse sich bald erweichen, sie könnten es nicht mehr erwarten, den See von der nassen Seite kennenzulernen. / Die Mädchen waren im Frühling nicht nur größer, sondern auch dicker geworden. Da niemand sich die Mühe machte, die Kleider hinunterzulassen, liefen sie in ungewohnt kurzen Röcken herum, wie Shirley Temple.

Manchmal meinte ich Nanni Schaller vor mir zu sehen, wie sie auf dem Lagerfahrrad in Schlangenlinien einen Feldweg entlangfuhr. Aber wenn das Mädchen näherkam, stellte ich fest, dass das Mädchen jünger war, eine Verschickte vom Lager Stabauer.

Die Darmstädterin gab der Hündin gekochte Kartoffeln und Karotten, und das Kind bekam ebenfalls Karotten, aber zerdrückt. Ich atmete den brennesselartigen Geruch der Tomatenpflanzen ein und fühlte mich wohl. Wären nicht die Überflüge gewesen, die mir alle paar Tage die widrigen Umstände unserer Zeit zu Bewusstsein brachten, hätte mich die Welt außerhalb von Mondsee gar nicht beschäftigt. Die jetzt in mein Leben eingefallene Leichtigkeit erschien mir zeitweilig als kompletter Neuanfang. Es wird schon alles gutgehen, sagte Margot.

»Ich glaube, was ich am meisten gebraucht habe, war, dass jemand zu mir sagt: Hab keine Angst.« / »Wie oft muss man sich das sagen, bis man es glaubt?«, fragte Margot in einem anderen Zusammenhang. / »Kommt auf den Typ an«, sagte ich.

Wir schmiedeten keine Pläne für die Zukunft, ich glaube, das war mit ein Grund, warum wir diese Wochen so genossen. Man brauchte nur in die Gesichter meiner Berliner Dienstgeber zu blicken, sie alle waren in den vergangenen Jahren alt geworden, verbrauchte Gesichter, verbrauchte Gesten, verbrauchte Argumente. Zu viele Pläne. / Ein jeder Mensch hat mehrfach in seinem Leben die Chance, sich zu entscheiden, ob er schwimmen gehen oder Pläne schmieden will. In Berlin schmiedeten sie seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen Pläne, und das zerstört die Persönlichkeit. Ich hatte das Pläneschmieden aufgegeben und fühlte mich so jung wie seit sechs Jahren nicht mehr. / Die Zukunft? An eine große Zukunft konnte ich nicht mehr glauben, ich hatte gelernt, der großen Zukunft zu misstrauen. Und deshalb kam mir die kleine Zukunft gerade recht.

Als mir Margot einen Brief des Rechtsanwalts reichte, lag ich in der Hängematte des Brasilianers mit dem schlafenden Kind auf der Brust. Aufgrund von falschem Denken und unterlassenem Schweigen war der Brasilianer vom Sondergericht Wien, das in Linz getagt hatte, zu sechs Monaten Zuchthaus verurteilt worden. Wie vom Onkel vorhergesagt. Zwei Zeugen hatten die Aussagen des Brasilianers abgeschwächt, einer hatte mehrfach betont, der Brasilianer habe auf ihn wie weggetreten gewirkt. Der lange Winter, das Fehlen der Mutter, die Nächte im Gewächshaus, die Arbeit im Frühbeet. Wer wochenlang wie ein Tier im Wald nur etappenweise geschlafen habe, das eine Auge offen, gelange irgendwann in einen Zustand der völligen Erschöpfung und Überreizung –.

Der Rechtsanwalt schrieb, ein halbes Jahr habe auch ein Bauer in Gaspoltshofen bekommen, der den Gerichtsvollzieher mit der Mistgabel vom Hof gejagt hatte. Bei guter Führung sei der Brasilianer im September wieder zu Hause. Das nächste Mal werde er nicht so glimpflich davonkommen, das habe ihm der Richter schriftlich mitgeteilt. Momentan sei der Brasilianer in der ersten Strafklasse, Besuchsmöglichkeit nur für Familienmitglieder, alle vier Wochen Schreiberlaubnis, erstmals Mitte Juni.

Ich fragte die Quartierfrau, ob sie ihren Bruder besuchen werde. Sie sagte, sie sei mit ihren Nerven so kaputt, dass allein der Gedanke an Kettengerassel sie schon aufrege.

In der Früh ließ sich das Kind, das eine Weile bei uns gelegen war, aus dem Bett plumpsen, dass man sich Sorgen machen musste. Aber es krabbelte davon mit »Tatü!« und holte das hölzerne Feuerwehrauto, das noch vom Vortag unter dem Tisch lag. Margot und ich blieben liegen, redeten, schmusten, bis einer von uns aufstand und Kaffee machte. / Ich mochte es, morgens bei ihr im Zimmer zu sein. Fast immer waren wir im Pyjama und tranken Kaffee. Wir hörten Radio, die fünf Wellenskalen waren übereinander getürmt, und das magische Auge leuchtete grün. Nebenher stillte Margot das Kind. Und manchmal, wenn das Kind wieder im Wäschekorb lag, schliefen wir miteinander.

Zwei, die für einige Zeit ihre Ruhe gefunden hatten, eine Ruhe, die nicht, wie so oft, mit Verlassenheit zu tun hatte, sondern mit Geborgenheit. In der Früh beim Kaffeetrinken, das Kind krabbelte am Boden, Margot saß am Tisch und hielt die Windeln des Kindes durch ständiges Stopfen am Leben, neue waren nicht zu bekommen, ein weiteres Zeichen dieser Glanzzeit. Ich lehnte am Fenster, wir redeten über Allfälliges. Mehr passierte nicht. Und ich weiß, es sind schon ereignisreichere Geschichten von der Liebe erzählt worden, und doch bestehe ich darauf, dass meine Geschichte eine der schönsten ist. Nimm es oder lass es.

»Damit muss man immer rechnen«, sagte Margot lachend.

Rom war geräumt. Das warf Fragen auf. Aber mein Dienstgeber in Berlin ließ wenig von sich hören. Offenbar hatte man noch keine vorteilhafte Erklärung der Niederlage ersonnen, so lange wurde geschwiegen. / Ich selber hielt es nicht für wahrscheinlich, dass der Sieg ausgerechnet auf diese Weise seinen Anfang nehmen werde. Und so ging es wohl auch der Quartierfrau, sie war niedergeschlagen und gereizt.

Zwei Tage später machten die Alliierten in der Normandie einen Landungsversuch und fassten Fuß. Somit gehörte auch dies der Geschichte an. Die Wehrmachtsberichte waren so, dass die polnische Haushaltsgehilfin bei der Arbeit sang. Ich sagte ihr, nichts gegen ihre Singstimme, aber in ihrem eigenen Interesse, sie solle sich mit mehr Zurückhaltung freuen, ihre Stunde werde kommen. / Vom Westen hing viel ab. Machte der Engländer dort Fortschritte, wonach es aussah, dann drehte im Osten auch der Sowjet auf. Die Optimisten interpretierten zwar selbst die Invasion in Frankreich als Verzweiflungstat der Anglo-Amerikaner, denen das Wasser bis zum Hals stehen müsse, andernfalls hätten sie weiterhin auf den General Zeit gesetzt. Ich fand es aber auch hier nicht sehr wahrscheinlich, dass mein Dienstgeber irgendeinen Vorteil aus seinen Niederlagen hatte. Wenn sich die rohstoffärmsten und die rohstoffreichsten Mächte der Welt gegenüberstehen und letztere auch hinsichtlich der Bevölkerungszahl deutlich im Vorteil sind: Wie wird das wohl ausgehen?

Am Samstag nach der Invasion fand im Lager Stabauer der Reichssportwettkampf statt für alle Verschickten der Gegend: Laufen, Weitsprung und Ballweitwurf. Am Vorabend hatten die Grillen laut gezirpt, ein Zeichen, dass der nächste Tag schön sein werde. Doch am Samstag hatte es eine Saukälte, die Mädchen in ihren Trikots froren beinahe ein. / Auf Einladung einiger Mädchen schauten Margot und ich eine Stunde lang zu. Dort sah ich erstmals den Mann der Quartierfrau, den Lackierermeister Dohm, der am Vortag auf Urlaub gekommen war. Im Generalgouvernement hatte er Karriere gemacht, es hieß, er mische dort überall ein bisschen mit.

Dohm gehörte zu den Männern, die versuchen, sich durch schwarze Kleidung den Eindruck dichterer Substanz zu geben, ein großer, entschlossener Mann mit eckigen Schultern und flachem Gesicht, die braunen Haare mit ebenso betontem Schnitt wie die auf Taille getrimmte Uniform. Er kam mit dem Motorrad und schritt die Front der Verschickten ab, nickte zufrieden und hielt eine kurze Rede, er sagte, was in der Jugend versäumt werde, lasse sich kaum je nachholen. In der Jugendzeit empfinde man am tiefsten und deutlichsten, da Wesen und Herz noch weich seien und die Eindrücke neu. Aber nichts sei schädlicher als eine Überstürzung in dieser Zeit. Zu viel auf einmal könne nicht verarbeitet werden, Fehlentwicklungen schlügen in dieser Zeit ihre Wurzeln, deshalb müssten die Kinder viel singen und Sport treiben. Und er schloss mit den Worten: »Schön sauber bleiben, Mädels!«

Er rauchte vor Ort zwei Zigaretten, ging zwischen den laufenden, springenden, werfenden Mädchen umher, und man wusste nicht, inspizierte er den im Turnzeug nur schlecht verborgenen Entwicklungsstand der Verschickten oder die Ernährungssituation in den Lagern anhand der Hinterteile. Manchmal wechselte er mit einem der Mädchen ein paar scherzende Worte, manchmal legte er die Stirn in gewichtige Falten. In seinem Rücken tuschelten die Mädchen, er drehte sich um und sagte: »Hab ich hier was gehört? Was schaut ihr, als würde es blitzen?«

Nachher kam er zu mir her, ich salutierte, er winkte ab. Ich glaube nicht, dass er zu diesem Zeitpunkt wusste, wen er vor sich hatte, es war das einzige Mal, dass er freundlich mit mir redete. Zunächst Herrengeplauder, mit Blick auf Margot verwendete er das Wort Vollweib. Dann erzählte er vom Murmeltierschießen, und ich musste an etwas denken, was der Brasilianer über seinen Schwager gesagt hatte: der Lackierermeister habe in seinem bürgerlichen Beruf zu viel Lack gesoffen. Und doch, ich fand ihn nicht unsympathisch. Er besaß etwas Gewinnendes mit dem lebensfrohen Selbstvertrauen eines Mannes, der sich berufen fühlt, die Welt zu erneuern zu seinen eigenen Gunsten. / Wir redeten über die Kriegslage, die er als kritisch einschätzte, zum hundertsten Mal in den vergangenen fünf Jahren waren die nächsten Wochen »von kriegsentscheidender Bedeutung«. / Als der Wirt von Stabauer kam und Dohm zum Mittagessen einlud, schlug Dohm die Einladung aus, und im Weggehen murmelte er, er sei nicht scharf auf den Kinderfraß. Dann brach aus seinem Gesicht ein strahlendes Lachen hervor, das mich für einen Augenblick verstehen ließ, warum die Frauen über manches weniger Schöne an ihm hinwegsahen. Mit einer geschickten Flanke setzte er über den Zaun und ging zu seinem Motorrad.

Wieder sprang ein Mädchen, und der Sand in der Grube spritzte, und das Mädchen rappelte sich auf und drehte sich um und sah nach den Abdrücken des eigenen Körpers im Sand. Und es strich sich das Haar aus dem Gesicht. Der Sprung wurde von der schwarzindischen Fachlehrerin gültig gegeben, die Weite wurde gemessen, und das Mädchen wischte sich den Sand von den Armen. Die Grube wurde mit einem Rechen planiert. Ein an der Reichssportschule zum Reichskampfrichter ausgebildeter junger Mann, Besitzer des Reichsschwimmscheins erster Klasse, ausgebildet im Gebrauch der Reichsvolksgasmaske, trug die gemessene Weite in seine Liste ein. Und mit geflochtenem Haar und vor Ehrgeiz geschwollen machte sich das nächste Mädchen zum Anlauf bereit. Unter ihrer schwarzen Turnhose lugte die weiße Unterhose hervor.

Hinter Margot und mir erklangen noch lange die Rufe der Mädchen, hell und leiser werdend, über die Wiesen und über den See. Und ich dachte an Nanni und stellte mir vor, dass sie wippend beim Anlauf stand und in Gedanken die Schritte zählte bis zu der Linie, wo sie abspringen musste.

Bei einer Begegnung auf der Straße erkundigte ich mich beim Onkel nach Nanni, er sagte wieder, er wisse nichts Neues. Dann erklärte er mir, wie viel man wissen müsse, wenn man ein guter Polizist sein wolle, er erwähnte die Notwendigkeit von Scharfsinn, den er für sich in nicht alltäglicher Ausgeprägtheit voraussetzte, und betonte gleichzeitig, dass man Beweise nicht mit Phantasie finde, sondern auf den Knien. Andererseits, in dem Stadium der Unausgegorenheit, in dem sich ein dreizehnjähriges Mädchen befinde, dürfe man nicht nur Logisches erwarten, man müsse mit dem Unlogischen rechnen, also Phantasie. Im Fall von Nanni Schaller vertraue er trotzdem auf das Wahrscheinliche, die Stichhaltigkeit der Verdachtsgründe deute darauf hin, dass die Mutter dem Mädchen einmal zu viel gedroht und das Mädchen sich davongemacht habe. / Der Onkel redete und redete und schien mich gedanklich im Kreis führen zu wollen. Ich empfand seine Rede als mindestens so langweilig wie einen Tag im Erdloch, wenn nichts passiert und das Empfinden von trostloser Ohnmacht sich von Stunde zu Stunde steigert. / Zuletzt verwendete der Onkel eine seiner bevorzugten Wendungen: »Dumme Sache, fürwahr!«

Am Montag fiel das Kind vom Tisch, Margot gab die schmutzige Windel in den Kübel, sie bückte sich, und schon glitt das Kind ihren Rücken entlang hinunter und fiel auf den Kopf. Margot war ganz aufgelöst, aber Gott sei Dank war nichts Schlimmes passiert. Als ich dem Kind an den Bauch griff, lachte es und strampelte mit den Beinen. Margot sagte, sie habe große Angst gehabt. Ich war ein wenig böse auf sie und sagte, sie müsse besser aufpassen. Sie schwor, sie habe wirklich nichts verabsäumt, es sei so unglaublich schnell gegangen. / »Also noch besser aufpassen!«, sagte ich. / Und in diesem Moment war das Gefühl des Irrealen da, und ich spürte, wie die Angst heranflutete und mich mit sich fortnahm. Wie kopflos stürzte ich aus Margots Zimmer in mein eigenes, ich nahm ein Pervitin und legte mich aufs Bett, und die Angst schwappte in einer großen Welle über mich drüber und deckte mich vollständig zu.

Offenbar spürte Margot etwas, sie kam herüber und fragte: »Stimmt was nicht?« / Ich zitterte, während ich ihr den allein stehenden, mir entgegenfallenden Kamin in Schitomir beschrieb und die Erschießungen, denen ich seit Monaten immer wieder als Zuschauer beiwohnen musste. Margot strich mir das schweißfeuchte Haar aus der Stirn und sagte: »Sei nicht ängstlich, Veit, es wird schon alles gut werden.« / Ganz langsam begann das Pervitin zu wirken.

Dass meine Angstzustände wieder zunahmen, lag auch daran, dass der Tag, an dem ich mich auf meine Verwendungsfähigkeit untersuchen lassen musste, unmittelbar bevorstand. Während Margot schlief, lag ich wach und lauschte, ob sie noch atmete. Warum sollte sie nicht atmen? Warum sollte sie tot sein? – Möglich ist alles. – Wenn Margot im Schlaf leise grunzte, sank ich innerlich in mich zurück, erleichtert, aber mit klopfendem Herzen. So ein unglücklich veranlagter Mensch bin ich, dass mich das leise Schnarchen der neben mir liegenden Frau freut, wie ein einzelnes, verirrtes Flugzeug, stotternd, als sei der Tank fast leer. Wenn Margot endlich eines dieser grunzenden Geräusche von sich gegeben hatte, vermochte ich sogar für eine Weile ihre normalen, regelmäßigen Atemzüge zu hören, und manchmal gelang es mir dann einzuschlafen. / Aber immer öfter lag ich wach. Margot atmete schon ganz ruhig und tief, und ich lag da mit offenen Augen. In der linken oberen Fensterecke stand übernatürlich groß und klar die Venus. Glücksstern? Schön wär’s.

In der Früh wachte ich auf, und Margot war über mich gebeugt und schaute mich lächelnd an, als sei sie schon seit Stunden wach. Ich rieb mir die Augen und reckte mich unter der Decke. Und als ich wieder zu Margot hinblickte und sie immer noch lächelte, lächelte ich zurück. Margot stand auf und öffnete ein Fenster. Draußen schien die Sonne.

Wenn man sich nicht aufs Baden versteifte, war es jetzt wunderschön, alles grün und lebendig. Margot ging mit dem Kind in den Wald und pflückte einen ganzen Suppenteller voll Walderdbeeren, sie sagte, es sei eine erholsame Beschäftigung gewesen. Die Kartoffeln blühten, überall lagen tote Maikäfer herum, daran erkannte man, dass der Juni fortgeschritten war. Zwischendurch regnete es, und in diesen Momenten fiel mir ein, dass eigentlich die Badesaison schon begonnen haben müsste. Die Verschickten taten mir leid, sonst war es mir egal. Bräune hatte ich schon ganz gut vorzuweisen aufgrund der Arbeit auf dem Acker.

Ihren Mann erwähnte Margot oft, und sie spielte sich weiterhin nicht die Komödie vor, dass sie mit der Heirat im besten Moment die beste aller Entscheidungen getroffen habe. Ich nahm ihren Mann in Schutz, möglicherweise saß er gerade in einem Erdloch. Doch sie beschwichtigte mich, es sei nicht mein Fehler, die Heirat sei ein Irrtum gewesen. Ich gab zu bedenken, dass vielleicht die Trennung schuld sei, also wieder der Krieg. Das bezweifelte sie, sie sagte: »Ludwig und ich passen nicht zusammen, es klappt nicht.« / Und es war mit Sicherheit nicht so, dass Margot sich wünschte, dass ihr Mann in Russland blieb. Und doch, sie wirkte nicht besonders traurig, wenn einmal für zehn Tage kein Brief von ihm kam.

Ich hoffe, du hast mein Schreiben erhalten, in dem ich dir mitteile, dass wir verladen wurden. In der Zwischenzeit ist wieder über eine Woche vergangen, und in dieser Woche haben wir allerhand mitgemacht. Wir sind jetzt zwischen Wilna und Lida eingesetzt. Überall, wo es staubt, ist unsere Division zugegen. Heute haben wir einen Tag Ruhe, und da schreibe ich dir diese Zeilen, damit du wieder Nachricht von mir hast. Die furchtbare Hitze macht uns zu schaffen. Im übrigen bin ich noch gesund und hoffe, dass auch bei euch alles in Ordnung ist. Aufgrund der Zustände hier habe ich schon längere Zeit keine Post von dir und bin deshalb etwas beunruhigt. Hoffentlich trifft bald welche ein. Wie geht es Lilo? Bitte lass sie auch in der Nacht bei offenem Fenster schlafen und vergiss nicht, sie auf den Bauch und auf die andere Seite zu legen, damit sie nicht einseitig wird. Und bitte sei nicht böse, dass ich so wenig schreibe, aber ich will mich noch ein wenig schlafen legen. In den letzten sieben Tagen haben wir kaum ein Auge zugetan. / Meine Eltern haben jetzt nach einem Jahr die Nachricht erhalten, dass mein Bruder Franz nicht mehr am Leben ist. Das U-Boot ist verlorengegangen.

Am Abend wütete ein Sturm. Immer wieder wurden vom Wind abgerissene Äste gegen eines meiner Fenster geworfen, dass es sich anhörte, als wolle jemand ins Haus. Wenn sich der Wind für einige Sekunden legte, hörte ich nebenan Margot das Kind beruhigen. Und ich dachte daran, dass es in Mondsee jetzt hieß, Margot sei eine, die mit jedem ins Bett geht. Es kränkte mich, dass ich in den Augen der anderen ein x-Beliebiger war.

Auch der Onkel missbilligte die Beziehung zwischen Margot und mir. Bei der einen Begegnung auf der Straße, als ich ihn nach Nanni gefragt hatte, hatte er mich darauf angesprochen. / »Du hast dich also mit der Reichsdeutschen eingelassen.« / »Wer behauptet das?« / »Es ist nicht zu übersehen.« / Ich schwieg und hörte das Knistern des verbrennenden Tabaks, wenn der Onkel an seiner Zigarette zog. / »Deine häuslichen Angelegenheiten gehen mich nichts an«, sagte er. »Aber die Leute finden, dass du schon recht lange hier herumsumpfst, sie sagen, du könntest dein Glück genauso gut an der Front versuchen. Da du mein Neffe bist, kann mir das Gerede nicht ganz egal sein.« / Mürrisch gingen wir auseinander.

Der nächste Tag begann dunstig, aber die Nebel lichteten sich rasch, jäh trat der Gipfel des Schafbergs hervor, aus der Ferne heranwachsend, teils schneebedeckt, den Blick nach Süden verstellend. Die Drachenwand schaute schroff herüber. / Während ich Tomaten abnahm, schlug Margot im Garten des Brasilianers Räder, und dann wusch sie am Brunnen Hände und Gesicht und kam zu mir her und berührte mich zart am Hals, und mir lief es den Rücken hinunter. Es schien mir, als habe sie mich gesucht.

Drüben vor dem Haus stand der Mann der Quartierfrau in der schwarzen Uniform des Ordens und rauchte mit in den Nacken gelegtem Kopf. Nach einiger Zeit überquerte er die Straße und trat zum Leiterwagen, wo die Hündin auf ihrem Strohsack lag. Vor einigen Tagen hatte die Hündin zu schielen begonnen, und sie streckte jetzt meistens die Zunge heraus. Der Lackierermeister redete mit dem Tier, vermutlich über Wert und Unwert des Lebens unter den für ihn relevanten Gesichtspunkten. Die Hündin spitzte die Ohren, als wolle sie den Lackierermeister verstehen. Aber sie verstand ihn nicht. Ich beobachtete die beiden, schemenhaft durch die schmutzigen Scheiben des Gewächshauses, und als ich begriff, was im nächsten Moment passieren werde, war es zu spät. Dohm, seine Rede fortsetzend, zog die Pistole aus seinem Halfter, legte der Hündin die linke Hand auf den Kopf und setzte ihr die Pistole ans Genick. Ich rannte aus dem Gewächshaus und war in der offen stehenden Tür, als der Schuss fiel. Ein wildes, unkontrolliertes Zucken lief über das Rückgrat des Tieres, von einer Heftigkeit, die man den zerschlagenen Knochen nicht mehr zugetraut hätte. Dann gab es nur noch ein paar leichte Zuckungen, das Tier legte sich ganz langsam auf die Seite und streckte mit einem sanften Brummen die weißen Pfoten aus, alles entspannte sich. Und Dohm, der sich mittlerweile wieder aufgerichtet hatte, schob seine Pistole zurück ins Halfter, und er blickte mich aus nächster Nähe an mit einer Neugier, die nichts mehr von Sympathie in sich schloss. / Ich fragte ihn erregt, ob er verrückt geworden sei. Ich sah das Blut aus den großen, weichen Ohren der Hündin laufen, sehr dunkles Blut, es lief aus den Ohren und über das Fell am Hals und sickerte neben dem Kopf langsam in den Strohsack.

»Nehmen Sie Haltung an«, sagte Dohm mit schroffer, kalter Stimme. Ich erstarrte, und nach einer kurzen Nachdenkpause salutierte ich, meinem Stand gemäß. / »Ist was?«, fragte er. / »Ich werde Sie anzeigen«, sagte ich. / »Das werden Sie schön bleiben lassen«, sagte er gelangweilt. Und plötzlich war ich so eingeschüchtert, dass ich mit einer angedeuteten Verbeugung reagierte.

Margot und ich saßen minutenlang auf der Erde neben der Hündin und betrachteten sie. Mehrfach strich ich mit der Hand über den weichen Rücken, und Margot berührte die weißen Pfoten. / Später begruben wir das Tier unter dem Holunder am hinteren Ende des Gartens, wo die Wiese beginnt. Ich selbst war apathisch. Margot schleppte einen Stein heran, sie legte ihn auf die Grabstelle und sagte: »Es wäre an der Zeit, dass der Krieg mal zu Ende geht.«

Das war am Tag, bevor ich für die Nachmusterung nach Wien fuhr. Bis halb zwei in der Nacht saß ich allein in meinem Zimmer, zerbiss Kaffeebohnen und schrieb.