Ich bin noch immer ganz verwirrt

Ich bin noch immer ganz verwirrt, dass du davongelaufen sein sollst, ich verstehe es nicht, und es schaudert mich, wenn ich daran denke. Ich habe schon alles mögliche versucht, um den Gedanken, die mich den ganzen Tag verfolgen, für einige Zeit zu entkommen, sogar im Kino bin ich mittendrin aufgestanden und hinausgelaufen, weil ich ständig so ein Gefühl hatte: Mein Gott, was ist los?! Mein Gott, was ist los?! Wo ist Nanni?! / Ich bin dann alleine durch die Straßen gewandert und habe Selbstgespräche geführt, dass sich die Leute nach mir umgedreht haben. / Und dass Mama und Papa mich im Moment sehr hart anpacken, ist die Draufgabe, wo ich eh in so trister Stimmung bin. Ständig durchlaufen mich so kalte Schauer.

Jetzt schreibe ich dir weiterhin postlagernd und hoffe, dass du dich bald meldest. Und sei bitte nicht böse mit mir, ich schwör’s, ich wollte nach Schwarzindien kommen, obwohl mir bange war, weil der ältere Bruder von Ferdl gemeint hatte, die Sperren an den Bahnhöfen seien von Gendarmerie besetzt, und vor den Streifen in den Zügen müsse man sich besonders in acht nehmen. Das hätte mich nicht abgehalten. Aber der Lehrgang in Kledering wurde ganz kurzfristig angesetzt, ich schickte dir gleich eine Postkarte. Hast du sie bekommen? Weil mit Papa und Mama hätte ich’s aufgenommen, aber nicht mit dem Wehrbezirkskommando. / Wir hatten Unterricht von früh bis spät, Ballistik, Flugzeugerkennung. Und in der Nacht schlief ich in einem geheizten Schlafwagen und stellte mir vor, dass ich in der Früh am Bahnhof von Schwarzindien aufwache. Aber jeden Tag wieder wachte ich am Verschiebebahnhof in Kledering auf, ich kann dir nicht sagen, wie unglücklich ich war. / Heute denke ich, dass ich ebenfalls hätte ausrücken sollen, es tut mir wirklich leid, Nanni, meine Schorsche. Das Buch von Papa sagt: Die Menschen straucheln nicht über Berge, sie stolpern über Steine.

Es ist jetzt halb drei in der Nacht, seit halb eins bin ich wach, die Gedanken drehen sich, du weißt ja, wie das ist, ich habe solche Angst um dich, und noch dazu der Ärger mit den Eltern. Sie sind jetzt beide sehr nervös, und am Abend muss ich für ihre schlechte Laune als Blitzableiter herhalten, im Moment haben sie immer alles mögliche an mir auszusetzen, dabei würde ich mich zwischendurch nach etwas Ruhe sehnen. Stattdessen hör ich mir das Genörgel und Gekeife und die Vorwürfe an. Manchmal verstopfe ich mir die Ohren ganz fest, und oft denke ich, ich lebe neben mir. Ich muss aufpassen, dass ich nicht doch davonlaufe. Wenn ich nur wüsste, wohin.

Heute, als ich in der Küche saß, überkam mich plötzlich so ein merkwürdiges Gefühl, mir war, als wäre gar kein persönliches Verhältnis zwischen Mama und mir und als hätte ich schon lange kein Wort mehr mit ihr geredet. Soll sie sich doch zu Susi ins Bett legen, wenn Papa Nachtdienst hat. Ich werde ihr die Sachen, die mich beschäftigen, nicht mehr erzählen. Die gleichgültigen Sachen werde ich ihr vielleicht erzählen.

Als Ferdl mich am Montag in der Früh abholte, verabschiedete ich mich nur wortkarg von Mama, sie kam, als wir schon eine Stiege unten waren, aus der Wohnung und fragte, ob ich noch einmal heraufkomme. Ich sagte: »Nein.« / »Ach so ist das«, sagte sie. / Als wir alles auf unsere Fahrräder gepackt hatten, rief ich ein paar Mal hinauf, dass wir jetzt fahren. Es dauerte ewig, bis sie ans Fenster kam und sagte: »Pass auf dich auf, Kurt.« / Eigentlich war es nicht schön von mir, dass ich ihr zum Abschied keinen Kuss gab, aber was soll ich machen, wenn sie oft so durchdreht.

Meistens fahren Ferdl und ich mit der Stadtbahn nach Schwechat, aber bei schönem Wetter mit den Fahrrädern, weil wir uns ärgern, dass wir wegen unserer HJ-Armbinden keine Wehrmachtsfahrscheine bekommen. Da jederzeit Alarm eintreten kann, müssen wir uns in ständiger Bereitschaft halten, der Schulunterricht erfolgt in der Batterie. Aber wenn nichts zu tun ist, müssen wir exerzieren oder Geländeübungen machen. Das Essen ist uns immer zu wenig, von der vielen Bewegung sind wir alle komplett ausgehungert.

Dass ich bei den Horchern gelandet bin, ich weiß nicht. Beim Scheinwerfer sieht man wenigstens das Flugzeug im Lichtkegel. Beim Geschütz sieht man die Granaten am Himmel zerplatzen. Beim Horchgerät sitzt du in deiner Dunkelkammer und kannst dir nur denken: Ich hab das Flugzeug! Ich höre es! Du musst eben stillhalten. Wenn man Erfolge sieht, macht es einem vielleicht Freude, aber auch von den Erfolgen bekommt man nur erzählt. / An den ruhigen Tagen mag ich das Horchgerät, denn ich kann dort allein sein. Als ich Mama davon erzählte, meinte sie, dann könne ich im Horchgerät für die Schule lernen. Aber ich schlage nur die Zeit tot. Ich höre den Krähenschwärmen hinterher und denke an dich, liebe Nanni. / Manchmal verfolge ich mit dem Horchgerät einen Krähenschwarm, der über den Äckern von Mannswörth fliegt, ich höre das zufriedene Krächzen und den langsamen Flügelschlag, wenn der Wind günstig steht. Oft bin ich müde. Oft schließe ich die Augen. Und dann ist es mir, als wäre ich mitten im Schwarm auf dem Weg zu dir.

Es herrscht beständiger Lärm in der Luft, man merkt es nicht so im Alltag, irgendwo schlägt einer einen Nagel ein, und irgendwo ruft ein Kuckuck, und irgendwo weint ein Kind, und irgendwo ertönt ein Schuss, und irgendwo übt jemand Flöte, und irgendwo liegt einer unter einem Baum und schnarcht. Es ist ein großes Durcheinander. Und dann hoffe ich, dass in das große Durcheinander sich deine Stimme mischt und dass ich das Gerät auf deine Stimme ausrichten kann, und dann höre ich dich reden auf einem Bahnhof, wo die Züge pfeifen, bitte eine Fahrkarte nach Wien, ich habe mir ein wenig die Welt angesehen, habe den Heiratsantrag eines Maharadschas abgelehnt und fahre jetzt wieder nach Hause, Kurt ist vermutlich schon ganz arschlahm, und Mama ist am Abend allein.

Deine Mutter ist sehr einsam, sie läuft herum wie ein Gespenst, die Gesichtszüge wie von einer Toten. Ich brachte ihr einmal ein Kilo Kirschen, sie sah mich dabei so komisch an, ich weiß nicht und will auch gar nicht wissen, was sie sich dachte. Manchmal sitzt sie herüben bei uns und starrt sinnlos auf einen nichtssagenden Punkt. Sie ist jetzt wirklich sehr bleich.

Du hast keine Ahnung, wie es jetzt in Wien ist. Wir bringen uns irgendwie durch, aber schlechter soll es nicht werden. Auch Mama hat jetzt sehr Angstgefühle und erschrickt bei jeder Kleinigkeit. Gut ist, dass sie am Sonntag durch eine Cousine eine Ablenkung hat. Am Abend gehen sie ins Kino. Die Kinos sind jetzt schlecht besucht. Wieso, das weiß ich auch nicht.

Von den Angriffen der letzten Woche wurde auch im Radio berichtet, vielleicht hast du davon gehört. Ich hatte große Angst, als die Bomben auf unsere Stellung fielen. / Die Angriffe waren auf Flugblättern angekündigt, die gruseligsten Nachrichten kursierten, die Stadt werde in Schutt und Asche gelegt. Von den Behörden wurde dementiert, man versuche nur, die Leute nervös zu machen. / Am Freitag war es in der Früh bewölkt, finster und aufreibend nach der Spannung der Vortage. Im Radio verkündeten sie aus Berlin den Beginn der Vergeltung. Um halb zehn gingen alle zum Gabelfrühstück, und ich blieb noch für einen Moment in der Horchstellung, um den Krähen zuzuhören. Ich wollte beim Essenfassen nicht so lange anstehen müssen. Dann verließ ich das Horchgerät, weil es zu regnen begonnen hatte. Draußen fielen mir kleine Tropfen ins Gesicht, ich war überrascht, wie leise sich der Regen außerhalb des Horchgeräts anhört. Rasch legte ich die zweihundert Meter zur Aufenthaltsbaracke zurück, und ich hatte plötzlich, wie schon lange nicht mehr, so ein leichtes Gefühl, als ginge mich der Krieg nichts an.

Nachher trieb der Wind die Wolken auseinander, und eine warme Sonne kam hervor. Ich ging zurück ins Horchgerät, weil ich dir ein paar Zeilen schreiben wollte. Ich war nervös und hatte so ein komisches Gefühl, dass irgend etwas kommen wird. In dieser Stimmung saß ich allein an meinem Platz, vor mir der Kopfhörer, da gab es Voralarm. Fünf Minuten später meldeten wir Feuerbereitschaft.

Jetzt muss ich Gott danken, dass ich heil davongekommen bin, es hätte auch anders ausgehen können. Links und rechts der Straße, die bei unserer Stellung vorbeiführt, haben die Bomben große Erdtrichter aufgerissen, teilweise so groß, dass du ein Haus hineinstellen könntest. Erdklumpen, Steine und Splitter sind bei uns genug hereingefallen, wir waren sicher in Lebensgefahr. Es prasselte auf den Stahlhelm, als würde es hageln. Ich war nicht einmal in Deckung, weil mein Gerät gleich zu Beginn beschädigt worden war, und so musste ich bei einem Geschütz nachladen helfen. Ich hatte nur den Stahlhelm auf, ein Splitter fiel mir direkt vor die Füße.

Links von der Straße die Ölraffinerie ist kaputt, mehrere Tanks mit insgesamt 10.000 Tonnen Rohöl stehen in Flammen, die letzten Brände sind noch immer nicht gelöscht, bei den Löschteichen stehen immer mehrere Tankwagen gleichzeitig. In Schwechat sind viele Fensterscheiben kaputt, das letzte kleine Haus rechts, schon ganz heraußen, ist vollständig zerstört, acht Personen, die dort im Keller waren, sind tot. Es ist ein trauriger Anblick. Die Pfarrkirche ist gesperrt wegen Einsturzgefahr, es fielen vier Bomben durchs Dach und durch die Decke, und keine einzige ist explodiert, Glück braucht der Mensch, sonst wäre die Kirche zusammengestürzt. Bei uns heraußen sollen fünf Ölwerke ausgebrannt sein. Was werden wir noch alles erleben oder nicht mehr erleben.

Es sind immer Amerikaner, die kommen. Mir tut’s ein bisschen weh, du weißt, ich wollte immer, wenn ich die Schule fertig habe, nach Amerika und mit einem guten Motorrad einige Jahre durchs Land fahren, mir einmal ein bisschen Geld, einmal ein bisschen Essen stehlen und einfach Freude am Leben haben. Hast du schon entschieden, ob du mitkommen willst, Nanni? Wenn ja, sag es mir, man muss von Indien träumen, um Amerika zu finden.

Der aufgewirbelte Staub und die Brände haben die Sonne verdunkelt. Der Wind bläst mir Staub und Asche in die Augen. Die brennenden Öltanks qualmen schwarz in den Wind hinein, und der Wind drückt den Qualm nach Süden. Von der Raffinerie sind nur Umrisse erkennbar.

Die schöne Welt geht kaputt, liebe Nanni, vorbei, und morgen vielleicht der nächste Angriff. Muss eh! Also, mein guter Engel, vergiss deinen Kurti nicht, wenn er einmal nicht mehr schreibt.

Ich gehe am Abend immer schon um neun Uhr schlafen, ich hoffe, du glaubst es mir. Du fehlst mir sehr, Nanni, ich möchte, dass du das weißt. Wenn es neun am Abend ist, und ich liege im Kabinett, und das Klopfen an der Wand kommt nicht, da ist mir immer bange, ich kann mich nicht daran gewöhnen. In der Nacht schrecke ich aus dem Schlaf, weil mir war, als würde es klopfen, und ich richte mich im Bett auf und horche, ob du jetzt nach Hause gekommen bist, und dann klopfe ich, und es kommt keine Antwort, und dann weiß ich, es ist nicht wahr.

Ich horche ständig, tagsüber in der Stellung, nachts im Bett, ich denke schon, ich werde wahnsinnig. In der Nacht höre ich Stimmen. Und dass ich von meiner Nanni nichts höre, das drückt mich sehr herunter. Ich habe den ganzen Tag Zeit zu träumen und zu wünschen. Überhaupt weiß ich nicht, was ich machen soll. Das ganze Leben bei mir ist stehengeblieben.

Oft habe ich solche Sehnsucht nach dir, ich kann dir’s gar nicht sagen, oft will ich es gar nicht glauben, dass ich dich schon so lange nicht gesehen habe. Mein Traum wäre, dass du wieder in Indien bist und ich mich als Mädchen verkleide und dort mit dir lebe, im gleichen Zimmer. Leider wird das nicht möglich sein, denn ich bin schon wieder gewachsen, nur noch zwei Zentimeter fehlen mir zu Papa, sein brauner Anzug passt mir schon sehr gut, du würdest staunen, ich habe mich in dem halben Jahr sehr gut entwickelt, und wenn man mich genau anschaut, sehe ich einem Mann schon ziemlich ähnlich. Lach nicht, aber wenn ich so weitermache, werde ich ein richtiger Lackel. / Meine Uniformjacke habe ich mit einem Kameraden getauscht, der eine zu große Jacke gefasst hatte. Die Socken taugen nichts, wir tragen fast alle Privatsocken.

Die Mäuseplage in unserer Baracke ist kaum zum Aushalten. Wenn ich am Tisch sitze, kann ich die Mäuse unter den Fallen spielen sehen. Die ganze Nacht haben sie ein Gepfeife und eine Springerei, es ist nur gut, dass überall genug Essen herumliegt, sonst würden sie noch an mich gehen. Wenn ich die Schultasche öffne, kommt so ein Vieh heraus, das ist ganz normal. Wir haben den Zugführer um Gift gebeten, damit wir den Spuk etwas eindämmen können. Aber es kümmert ihn nicht. / Als beim Angriff am Freitag von der brennenden Raffinerie eine gelbe Wolke zu unserer Stellung herübertrieb, rief der Zugführer Giftalarm aus, wir rissen die Masken von den Koppeln und setzten sie uns ordnungsgemäß auf. Hardi riss sich die Maske gleich wieder herunter, weil er keine Luft bekam. In Todesangst schlug er gegen den Filter und schüttelte die ganze Maske, da sprang eine Maus aus dem Schlauch. Kannst dir vorstellen. Über uns das Bombergeschwader.

Seit zwei Tagen haben wir plötzlich Hochsommer, und es weht seit der Früh der gewohnte Geruch der Raffinerie herüber, dort ist wieder Normalbetrieb. Tagsüber kann man mit bloßem Oberkörper umhergehen, die Straßen trocknen rasch ab, und es staubt schon fast überall. Mit der besseren Wetterlage werden unter Umständen auch wieder Angriffe zu erwarten sein, im Moment ist es noch ruhig. Andererseits wäre natürlich auch einmal eine Entscheidung zu wünschen.

Wenn wir am Abend in einem der Löschteiche schwimmen gehen, verschwindet manchmal der Krieg aus meinen Gedanken. Manchmal glaube ich, auch du müsstest einmal vor der Stellung auf mich warten. Vom Fenster der Baracke aus sehe ich immer nur die Freundinnen der Kameraden. Und wenn sie einander küssen, drückt es mir das Herz ab.

Gestern Nacht, als ich dir klopfte, klopfte es zurück, ich war ganz aufgeregt, klopfte noch einmal, und wieder kam Antwort. Ich lief hinaus und rief deinen Namen und weckte alle, auch Susi, und es stellte sich heraus, dass deine Mutter in deinem Bett geschlafen hatte, und weil ihr so einsam war, klopfte sie zurück. Sie hatte ganz verweinte Augen und erklärte fortwährend, ihr komme alles spanisch vor, und sie drehte sich fortwährend im Kreis. Wir tranken dann alle zusammen einen Wein, nur Susi nicht, und deine Mutter schaute mich immer so ein bisschen traurig an, als glaube sie weiterhin, dass ich wisse, wo du bist. Und irgendwann fasste ich mir ein Herz und sagte: »Mir fehlt die Nanni so wie dir.« / Wir beschlossen, wenn du wieder bei uns bist, bekommst du die von dir so geliebten Omeletten und Mehlspeisen, natürlich vorausgesetzt, dass wir weißes Mehl haben, im Moment gibt es nur ein Kilogramm pro Monat, da müssen tüchtig die Kartoffeln herhalten. Dein Bett steht noch immer so, wie du es im Jänner verlassen hast, deine Mutter wünscht sich von Herzen, dass du bald wieder darin schlafen wirst. Hoffentlich hast du auch jetzt eine warme Schlafstelle.

Ich male mir dein Nachhausekommen immer so schön aus, wie du anläutest, und ich mache auf und du fällst mir gleich um den Hals. Und dann gehen wir gemeinsam in den Prater, und ich fahre mit dir Karussell und auf der Hochschaubahn. Das sind so meine Gedanken vor dem Einschlafen. Und ich träume von Federbetten, während ich hier auf einem Strohsack liege und mich von Läusen beißen lasse. / Ich hoffe, es wird auch wieder die Zeit kommen, wo wir alle im eigenen Bett schlafen.

Frau Brand von der Sechserstiege hat wieder geheiratet, du kennst sie, die große Blonde. Der erste Mann war ihr zu ernst, ist nun mit einem Herrn Jarosz verheiratet, Mama sagt, dieser sei aber noch ernster. Muss es auch geben, wie du dich ausdrücken würdest. Und die Frau Angela von der Dreierstiege sagt, sie stirbt bald, aber zur Hochzeit von Hikker Anton will sie noch mit, das wird eine Freude, das 3er-Haus wird kopfstehen. Gell, Schorsche, du kommst wieder in dein schönes gutes Bett, da wirst du gut schlafen und nie mehr fortgehen, und ich werde dir in der Früh an die Wand klopfen. Es ist mir alles egal, wenn nur du wieder kommst. Ich habe so Angst, es könnte dir etwas zugestoßen sein. / Leb wohl, Schorsche, ich kann heut nicht mehr weiter schreiben, es macht mich alles so unglücklich, weil ich nicht weiß, was mit dir ist.

Gestern hatten wir den nächsten schweren Angriff, eine Bombe ganz in der Nähe hat uns wieder das halbe Feld in die Stellung geworfen. In meinem Horchgerät sehe ich nichts, aber die andern sagen, wie mit der Kohlenschaufel werfen sie die Bomben aus ihren Flugzeugen. Und die Flak trifft herzlich wenig. / Von einer Druckwelle spürt man manchmal ein kleines Reißen im Trommelfell, dann weiß man, das war jetzt ganz in der Nähe. / Es gab einen Volltreffer in ein nicht ganz fertiggestelltes, unbewohntes Haus in Sichtweite. Die Frau war lange nicht hier, denn ihr Mann ist gefallen, und da ist sie ein wenig geistesgestört geworden, so dass sie sich in einer Heilanstalt aufhält. So sagte es uns der Zugführer.

Am Nachmittag waren wir zu Aufräumarbeiten in der Lobau bei den Öltankern. Jetzt sitzen wir in den Baracken und schlagen die Zeit tot. Zwei spielen Schach, einer montiert an gefundenen Radioteilen herum, wieder zwei andere rupfen ein Huhn, natürlich ebenfalls gefunden. Und der letzte liegt auf seiner Falle und schreibt, das bin ich.

Angeblich hat in Zwölfaxing ein Dutzend KZ-Häftlinge den Angriff zur Flucht genutzt, wir sind angewiesen, uns verdächtig erscheinende Personen zu melden. Wir glauben aber, dass diese Leute längst in Wien oder Ungarn sind. Zwölfaxing ist der Nachbarort, dort werden Kampfflugzeuge gebaut, soll alles kaputt sein. Viele Häftlinge und auch Bewachungspersonal sind ums Leben gekommen. / Sonst, mein Schatz, geht es uns hier, wenn man auf die Bomben nicht achtet, ganz gut.

Die Sascha war vor einer Woche in Wien, weil ihr Vater Urlaub hatte, Ferdl brachte mich mit ihr zusammen, sie erzählte von Schwarzindien, ich ließ sie reden, ich hoffte, sie sage etwas über dich. Aber sie redete nur Gleichgültiges, kein Wort über dich, obwohl ich mehrere Anläufe nahm, ihr den Einstieg zu ermöglichen. Ich hatte dann kein Bedürfnis mehr, ihr Fragen zu stellen. / Auch Frau Musil, die Mutter deiner Schulkollegin, habe ich getroffen. Ich sprach sie an und fragte, was sie Neues aus Schwarzindien wisse. Doch da kam ich nicht gut an. Entweder gab sie keine Antwort oder eine solche, die sich gewaschen hatte. Schließlich erklärte ich ihr, dass es für mich nicht leicht sei, wie alle mich behandeln. Hierauf tat sie so, als sehe sie es ein, und schwieg dann wieder.

Und bitte, bitte, denk nicht schlecht von mir, weil ich zu Ostern nicht gekommen bin. Sei bitte nicht mehr böse. Weißt du, ich bin hier nicht mein eigener Herr, geschweige denn, dass ich Geld habe für Fahrkarten und dergleichen, es bringt mich zur Raserei. Ich werd auch jetzt ganz zornig, wenn ich dran denke, wie lange wir uns nicht gesehen haben. Wir beide zwei.

Bei uns herrscht jetzt Hochsommerwetter, schwül und gewittrig, du musst schon entschuldigen, dass meine Schrift nicht sehr schön ist. Ich sitze im Horchgerät und schwitze ganz entsetzlich. Lästig sind die Fliegen und Mücken, in der Nacht kann man nicht schlafen, da krabbelt alles Mögliche herum, es juckt einen am ganzen Körper. / In Schwarzindien werden sie jetzt fleißig baden. Ich bin auch schon sehr braungebrannt. Schwitzen tun wir genug, wenn wir mit Spaten und Stahlhelm zu einem Trichter marschieren.

Wenn ich während der Ruhezeiten im Horchgerät sitze und in die Welt hinaus lausche, habe ich manchmal das Gefühl, ich bin kurz davor, dass ich höre, was ich hören muss, damit ich endlich Bescheid weiß. Aber ich komme nie nahe genug heran. So geht es mir sehr oft. Ich habe dauernd das Gefühl, dass es einen ganzen Haufen Dinge gibt, die andere Leute wissen, sie sind geradezu geboren mit diesem Wissen, und ich höre die Krähen krächzen.

Mama hat mich heute nur einmal zusammengeschissen, sie hatte auch nicht mehr Gelegenheit dazu, denn ich habe mich den ganzen Tag versteckt. Also nicht richtig versteckt, nur war ich halt immer woanders, unter anderem bei deiner Mutter. / Seit deine Mutter zurückgeklopft hat, verstehen wir uns besser. Ich leiste ihr öfters Gesellschaft, sie ist ein bisschen beruhigter, wenn ich bei ihr bin. Tagsüber geht es, da hat sie ihre Arbeit, doch wenn sie heimkommt … ich kann sie verstehen. Für sie ist alles eine Qual. Und da sage ich mir, man weiß nie, ob es nicht gut ist, wenn man anderen hilft. Und die Zeit geht auch vorbei, wo es ihr so hart ist. Und hoffentlich kommst du bald nach Hause. / Deine Mutter und ich sitzen am Abend zusammen, hören Radio, ich schreibe, und sie massiert sich die Hände. Sie nietet weiterhin Spatentaschen, aber nicht mehr im Akkord, bekommt deshalb nur noch zweiundzwanzig Reichsmark in der Woche, denn sie schafft keine zweihundertfünfzig Spatentaschen am Tag und will nicht für einen Kriegsgewinnler, wie sie sagt, ihre Nerven endgültig ruinieren. Mama hat deiner Mutter Buerlecithin besorgt, womit deine Mutter eine Kur machen und wieder ins Gleichgewicht kommen soll, und deine Mutter sagt, dass es ihr schon besser geht. Vor vier Wochen saß sie nur immer da und stierte vor sich hin.

Alarm haben wir oft. Es ist durchaus nicht ideal hier. Mama und Susi sitzen im Keller zwischen Kohlen und Kartoffeln, die Detonationen rollen wellenartig durch den Boden, und der Mörtel rieselt aus den Ziegelritzen, und vom Luftdruck klappern die Lüftungsklappen. Beim letzten Angriff sind die beschädigten Häuser auf der Alszeile nochmals niedriger geworden, ich hatte sie besichtigt, es hatte ausgesehen, als stünden sie nur noch aus Gewohnheit. / Schade um unser schönes Wien. Heute regnet es. Sonst nichts Neues.

Am Bahnhof von Schwechat haben sie einen entlaufenen Häftling aufgegriffen, und er wehrte sich wie ein Teufel, sie haben ihn niedergeschlagen, bis er sich nicht mehr rührte. / Ein Fußballspiel gegen die Flakhelfer aus Laxenburg haben wir vorgestern verloren. Aus den Stellungen und Bunkern haben die andern zugeschaut wie aus den Logen im Theater.

Ja, du, liebe Nanni, liebe Schorsche, mach keine Dummheiten, bitte, und komm bald nach Hause, ich flehe dich an. In Gedanken bin ich den größten Teil des Tages bei dir, und wenn ich schlafen gehe, erst recht. Jetzt muss ich aufhören, ich sehe kaum noch zu den Augen hinaus. Und auch der Sturm hat sich ein wenig gelegt, immer, wenn ich dir schreibe, wird’s drinnen ein wenig stiller.

Wenn ich an dich denke, sehe ich dich in Schwarzindien, und solange ich nicht weiß, wo du hingekommen bist, bleibst du in Schwarzindien. Schwarzindien … das klingt heute ganz anders als im März, jetzt klingt es, als liege es nicht um die Ecke. Jetzt bist du schon drei Monate weg und hast dich nicht gerührt. Was kann in drei Monaten alles passieren! Wie weit kommt man in drei Monaten? Und warum schreibst du mir von dort, wo du bist, keine Karte? Vom Ganges. Bitte schreib mir eine Karte vom Ganges, damit ich nicht mehr so viel Angst habe. Deine Mutter sagt, sie glaube, du seist tot. Dann läuft es mir kalt über den Rücken, und ich muss mich an das erinnern, was Erhard über den Krieg sagt: »Du glaubst nicht, was ein Mensch vermag.«

Die Schule klingt langsam aus. Sie haben beschlossen, uns das letzte Schuljahr zu erlassen, es ist Teil der Totalverpflichtung. Ich musste meinen eingeschlafenen Lerneifer wieder mobil machen, habe mich mit Lernen auch ein wenig abgelenkt. Leider kann ich mich nicht mehr so gut konzentrieren wie vor einem Jahr. Dauernd wandern meine Gedanken herum. Und draußen das herrliche Sommerwetter. Am Abend sitze ich manchmal bei deiner Mutter, aber meistens sitze ich zwischen Mauern aus Büchern. Irgendwie muss es gehen. / Die schriftlichen Prüfungen werde ich wohl gut bestanden haben, war insgesamt nicht schwer, man will, dass alle durchkommen. Die mündlichen Prüfungen werden nur noch Formsache sein. Dann wird es uns bald treffen, es scheint, als wollten sie mit Ferdl und mir den Krieg gewinnen.

Eben spielt das Radio dein Lieblingslied, die Dorfschwalben. Wie schön war es, als wir zu Silvester alle beisammen waren und du uns das Lied gesungen hast. / Wo bist du, Nanni? Ist es dort, wo du bist, besser als in Indien? Kannst du wirklich nicht begreifen, was du zu tun hast? Am besten wär’s, du kämst zurück nach Wien, ich meine, es seien schon drei Jahre vergangen, seitdem du das letzte Mal bei mir warst. Wenn du kämst, würde ich dich abküssen, dass kein Fleck an dir ungeküsst bliebe.

Und sollte die schwarzindische Wildnis weiterhin Ohren haben: Ich versteh die ganze Geschichte nicht. Ich versteh nicht, was ihr von Nanni und mir wollt. / Ein weiteres indisches Sprichwort sagt: Am Ende ist alles gut. Wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende.