Der Abschied von Wien

Der Abschied von Wien, zeitlich ja kurz, aber nicht minder dem Gedächtnis eindringlich, die trübere Seite. Er bildete den Nachklang für die ganze Fahrt und begann sich erst allmählich abzuschwächen in dem Maße, in dem wir uns in Budapest einlebten. Wien? Unser aller Geburtsstadt. Wir hatten unsere Flucht so lange hinausgezögert, dass wir davor geschützt waren, gleich Heimweh zu bekommen. In gewisser Weise hatten wir das Heimweh schon gehabt, als wir noch in Wien gewesen waren. Zu Wien gewannen wir bald Abstand, eigentlich schon am zweiten Tag, als wir bei István in der Stáhly utca einzogen. Heute existiert Wien schon fast nicht mehr.

In Istváns Absteige kamen wir völlig erschlagen an, es war, als hätten wir uns mit letzter Kraft an einen Ort gerettet, der zunächst geheimnisvoll und dunkel war, und erst nach mehreren Tagen wurde es hell. / Mein erster Eindruck von der Bude war deprimierend, so klein und ärmlich hatte ich’s mir nicht vorgestellt. Zu István sagte ich natürlich nichts, aber er entschuldigte sich von sich aus, ich winkte ab, ich hätte keine großen Erwartungen gehabt und sei nicht besonders überrascht. Da war er gekränkt. / Wenn man aufs Klo will, platzt einem die Blase, bis es endlich frei wird, das ist schon zum Kotzen. Die Nachbarn sind nett. Ganz am Anfang brachte uns Frau Földényi einmal Kuchen.

In der ersten Nacht schliefen wir zu dritt auf Istváns Couch, einer über dem anderen, so erleichtert waren wir trotz der Enge. In der zweiten Nacht schlief Georgili auf einem aus Kleidung am Fußboden bereiteten Bett. Und so lebten wir uns in dem muffigen Zimmer ein und ließen es uns den Verhältnissen entsprechend gutgehen. / Der Lokus ist insgesamt benutzbar, wenn er endlich frei ist, nur etwas kurz gebaut. Wenn ich mich setze, stoße ich mit dem Kopf gegen die Tür. Meistens ist er sauber.

In Budapest eingetroffen, änderte sich Wallys Zustand rasch. Schon lange hatte ich sie nicht mehr so glücklich gesehen. Es machte ihr eine tiefe Freude, dass wir in Budapest lebten. Leben! Wir durften in die Parks und an die Donau. Sogar den Nebel genossen wir. Wally sagte: »Die Behauptung, dass wir Wien gekannt haben, ist im Grunde nicht aufrechtzuhalten, denn dann wären wir früher weggegangen.« / Ich kaufte ihr bei einer Straßenhändlerin ein Halstuch aus Baumwolle, es gefiel Wally so gut, dass sie sagte, sie habe das Gefühl, es mache aus ihr wieder eine junge Frau. / Unser Glück hatte uns nicht ganz im Stich gelassen. Wally überlegte sich jeden Tag, wie sie Georg oder mir eine Freude machen konnte. Und die Geldfrage würde sich hoffentlich bald klären.

Wir frühstückten um neun, dann gingen wir zwei Stunden spazieren, die viele frische Luft tat uns gut. Auf der Donaupromenade war alles Bedrückende wie weggeweht. Georgili schlug Räder und redete viel. Wir schauten uns die prachtvollen Straßen an. Wie anders als in Wien fand hier das Leben statt. Mit großen Augen bestaunten wir die Brücken! Herrlich! Und die Auslagen der Geschäfte waren großartig dekoriert, und großartige Sachen zu sehen. Aber was sie verlangten, frage nicht. / Wenn wir Hunger hatten, kauften wir Gemüse oder Obst, aßen es im Freien, in der Sonne. Nie hätte ich gedacht, dass mir Budapest lieber sein würde als Wien. Die Stadt ist schöner gelegen mit dem Fluss und den Brücken. Es ist alles viel lebendiger hier. Und zum ersten Mal nach langer Zeit begannen wir glückliche Pläne für die Zukunft zu schmieden.

Im Sommer vor unserer Ankunft waren die meisten nicht ungarischen Juden von den Ungarn an die Deutschen ausgeliefert worden. Deshalb brauchten wir als erstes den Schutz einer wie auch immer gearteten Legalität. Bloß weg mit den uns in Wien aufgezwungenen Pässen, die auf der Vorderseite ein großes J trugen. Leider fehlte uns für gute Papiere das nötige Geld. Aber die Papiere eines ungarischen Juden, der die Mittel besessen hatte, sich arisieren zu lassen, beschaffte uns István, Gott segne diesen schönen Menschen. / Laut dieser Papiere bin ich fünfzig Jahre alt, zu alt für die Arbeitsbrigaden. / Manchmal habe ich das sichere Gefühl, in Budapest bleiben zu können, bis der Krieg zu Ende ist.

Dank der verhältnismäßig guten Ernährung erholten wir uns auch äußerlich, in Wien hatten wir ein schlechtes Aussehen bekommen. Ich war glücklich, wenn ich Wally und Georgili sah mit etwas Farbe im Gesicht, wir hatten den Tiefpunkt hinter uns. Es kam jetzt auch wieder vor, dass Georgili mit anderen Kindern herumtollte. Er trieb sich auf dem Kerepesi Friedhof herum und brachte von den alten Frauen Brot und Süßigkeiten. Manchmal stahlen die Kinder wohl auch Obst, ich fragte dem nie näher nach. / Während der ersten Zeit ging es besser als erwartet. Und weil wir in dieser totalen Zeit totale Habenichtse geworden waren, schickten wir Georgili in die Schule, damit er etwas hatte, das man ihm nicht an der nächsten Straßenecke wegnehmen konnte. Für einige Monate besuchte er die Schule in der Wesselényistraße, der Lehrplan war auf Auswanderung zugeschnitten, Fremdsprachen hatten Vorrang.

Von meinem Bernili-Buben hatte ich mittels Einschluss-Briefen über das neutrale Ausland immer die besten Nachrichten aus Bath, Somerset, Fairfield Park. Es geht dem Jungen dort wirklich gut, er ist bei dem Ortsleiter der Baden-Powell-Scouts untergebracht, einer Familie, die sich dem Kind mit voller Liebe widmet. Bernili ist groß und kräftig, das Pfadfinderleben tut ihm gut. Er hat schon den dritten Grad, lernt fleißig kochen, kann perfekt Tauknoten binden und Signal geben. Dass er nur mehr Englisch spricht und schreibt, ist dadurch bedingt, dass weder die erste Kostfamilie noch die jetzige noch der Gönner ein Wort Deutsch sprechen. Aber da es für uns in Deutschland keine Zukunft gibt, ist es um das Deutsche nicht schade. / Bernili bereitet mir viel Freude.

Heute ist ein Schalttag, 29. Februar 1944, es sind zwei Jahre und drei Monate, dass wir in Budapest sind. Wie rasch das Leben vergeht und wie langsam der Krieg. Georgili liegt seit sieben Wochen im Spital, muss noch bis zum 3. März bleiben, geht ihm aber schon gut, ist fieberfrei. Hat irrsinnig viel mitgemacht. In der vierten Woche bekam er einen zweiten Scharlachanfall. Und täglich muss sich entscheiden, ob die Behörde gestattet, ihn nach England zu schicken. Ich habe große Hoffnung diesbezüglich, das Verbleiben auf Dauer ist sehr schwer. Auch Wally hat mit Georgili viel mitgemacht, denn was es heißt, in dieser furchtbaren Lage im Elendsquartier krank zu sein, noch dazu eine so entsetzliche Krankheit, kann man sich denken. Ich laufe den ganzen Tag herum, um für Georgili das Notwendigste zu erbetteln, er soll viel Obst und Süßigkeiten essen und verlangt auch gierig danach. / Am Anfang war sein Ausschlag arg, der Arm rot und sehr fest, er weinte die ganze Nacht, und leider sind Wally und ich schlechte Schlafentbehrer. / Jetzt sitze ich an seinem Bett und schreibe. Später werde ich an meinem Mantel einen losen Knopf wieder festnähen.

Ich habe viel Ungarisch gelernt und bin wirklich schon recht gut. Den Filmen im Kino kann ich folgen und auch mit den Leuten Konversation machen, das macht mir viel Freude. Bei Wally hapert es sehr, hat jetzt, da ich gut spreche, keine Freude mehr, lässt sich alles von mir übersetzen. Ich habe versucht, am Abend mit ihr Lektionen nach dem Buch zu machen, aber sie drückt sich mit der Behauptung, sie sei zu müde, mit anderen Worten, es freut sie nicht. Doch wäre es wichtig für uns. / Vielleicht geht ihr der Knopf auf, wenn einmal Georgili besser Ungarisch spricht als Deutsch.

Während der ersten Zeit arbeitete ich als Nachtwächter in der Vaterländischen Papierfabrik. Das Ende des Jahres 1943 erlebte ich als Handlanger in einer Getreidemühle auf der Insel Czepel. Dann quetschte ich mir beim Hantieren mit einer eisernen Schubkarre den Nagel des kleinen Fingers ab, später begann die Fingerspitze zu vereitern. Es wurde alles weggeschnitten, auch der Nagel, hatte einen großen Verband um den Finger und konnte nicht mehr arbeiten. / Zu der Operation wurde ich eingeschläfert, na, das war ein komisches Gefühl, man fühlt das Herz geradezu ausgehen. Einer, der vor mir ebenfalls diese Narkose erhielt, schrie laut auf vor Angst. Allzu oft möchte ich dies nicht mitmachen. / Der Finger ist jetzt wieder gut, Nagel wächst so langsam nach, später wird man gar nichts mehr sehen. Beschwerden habe ich keine, aber fest anstoßen sollte ich nicht, die Fingerspitze ist noch empfindlich.

Seit einer Woche habe ich wieder Arbeit, bei Tungsram im Rohstofflager. Habe mir einen ungarischen Schnauz wachsen lassen und sehe dadurch aus wie einer, der als Arbeitskraft taugt. Ist aber eine mühsame Arbeit, schwere Lasten, dass einem die Luft wegbleibt. Das alles habe ich bis jetzt halbwegs durchgehalten, bin aber nochmals schlanker geworden, das merke ich an der Anzugsjacke, die ich von István habe. Zunächst war kaum ein Hineinkommen, jetzt geht es ganz leidlich. / Leider bin ich ein Mensch, der ein ruhiges Leben braucht und so in mancher Hinsicht den Kampf nicht aufnehmen kann.

Georgili ist schon wieder krank, wir sitzen ständig mit ihm bei den Ärzten. Da dem Körper die Vitamine fehlen, hat das Kind einen Ausschlag in den Augen bekommen, was irrsinnig schmerzhaft ist. Ich hoffe, dass er bald wieder ganz zu Hause sein kann, obwohl es hier sehr traurig ist. / Jeannette, meine liebe, liebe, gute Cousine, bitte, bitte schreibe mir ein paar Zeilen, mach mich glücklich, damit ich in dieser traurigen Zeit wieder einmal einen Lichtblick habe. Und wenn möglich, schicke uns Geld an die Adresse von István.

Vom Einmarsch der Deutschen in Ungarn habt ihr sicher gehört, jetzt geht es hier von vorne los. Alles trieft vor Angst, wir stehen da mit aufgerissenen Mündern. Gestern, als Georgili eingeschlafen war, redeten wir flüsternd: »Wie soll es weitergehen?« »Neuerliche Flucht?« »Aber wohin?« Wir sind ganz ratlos.

Die Stadt wimmelt und pulsiert wie am Vorabend des Jüngsten Gerichts. Jeder hat rasch was zu erledigen, jeder versucht, ein paar Pengő zu verdienen oder sich sonstwie in eine bessere Position zu bringen. Auch menschlich steht die Stadt im letzten Ausverkauf. Vom Fenster aus beobachten wir das Chaos in der Straße. Zur Arbeit gehe ich nicht mehr, ist mir jetzt zu riskant.

So war’s also doch ein Fehler, nach Budapest zu kommen. Oft hat man ein Pech, ich leider öfter als der Durchschnitt. Manchmal, wenn ich auf meiner Pritsche liege, alles still, und der Geist löst sich vom Körper, sehe ich mich mit Wally und Georg an Bord eines Schiffes, kurz vor der Einfahrt nach Haifa. Am Horizont die kahlen Berge des Karmel. / István ist böse, weil ich so hadere, er sagt, so eine Phantasie kann man von niemandem verlangen, dass er das Schlimmste vorhersieht. Ein gesunder Mensch rechnet nicht immer mit dem Schlimmsten. / Ich drehte mich zum Fenster und musste mir mit der Hand den Mund zuhalten.

Ich gehe nur bei Sonnenschein aus dem Haus und dann auf der Schattenseite der Straße, ist weniger gefährlich, dort trifft man weniger Deutsche, und wenn doch, sind sie mit sich selbst beschäftigt. Auf der Schattenseite der Straße wurde ich noch nie beanstandet, auf der Sonnenseite der Straße musste ich einem jungen Soldaten mit dem Rücken ein Schreibpult machen, er schrieb einen mehrseitigen Brief, Liebe Margarete …

Ich komme von der Post, wo ich einen Brief an Bernili auf den Weg gebracht habe, geht ihm gottlob ausgezeichnet. Musste mich mit der Aufgabe beeilen, wer weiß, ob ich morgen die Postmöglichkeit über die Schweiz noch habe. Es ist hier nicht schön, nur das Wissen, dass ihr alle fort und in Sicherheit seid, ist mein einziges Glück. / Was mit uns sein wird, weiß ich nicht, wir werden halt durchhalten müssen, was auch kommen mag.

Es wird immer schwieriger, sich unter falschem Namen gefahrlos zu bewegen. Bin fallweise unterwegs, eile und laufe von der Kultusgemeinde zum Komitee, will nochmals die Identität wechseln. Ihr müsst mir unbedingt helfen, die liebe Wally und den lieben Georgili von Budapest wegzubringen, indem ihr an die Anschrift meines Bruders auf irgendwelchem Weg entweder Scheck oder sonstwie Geld sendet, sonst weiß ich nicht, was werden wird. Mein Bruder hat durch das Judengesetz die Stellung verloren und war auch vordem ein Habenichts, ergibt Doppelnull.

Auf der Suche nach Hilfe bin ich am Vormittag durch Budapest gewandert, Erkundigungen einholen, Geld verdienen, Ausschau halten und tausend Wege. In solchem Tageslauf zehrt sich das Leben auf, immer mit eingezogenem, gesenktem Kopf, damit ich möglichst unbemerkt vorbeikomme, ich achte sorgsam darauf, kein Aufsehen zu erregen, bin ein Duckmäuser geworden. An meinen ehemaligen Landsleuten gehe ich wie unsichtbar vorbei, ich meide den Kontakt mit Deutschen, aber wenn ich eine österreichische Sprachfärbung höre, bin ich besonders auf der Hut.

Ein paar Juden saßen verstreut im Hinterhof des Komitees, erschöpft und gequält von der Unsicherheit, diskutierten das Gerücht, dass nur die Chassiden im Osten und in Transsylvanien deportiert würden. Die herrschende Atmosphäre inspirierte zur Gotteslästerung. Als ich sagte, dass ich die Chassiden um ihr Gottvertrauen beneide, sagte ein Pole: »Gott? Die Deutschen sollen ihn umbringen. Er hat es von allen am meisten verdient.«

Mit diesen Polen ist es immer dasselbe, kommen hier an, immer ohne Familie, aber mit schwarzen Ringen um die Augen, und verbreiten ihre Geschichten, war keine Ausnahme, erschlagene Kinder und solche, die in die Luft geworfen und erschossen werden. Er sagte: »Lieber dreimal sofort sterben als den Deutschen in die Hände fallen.« Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht und behauptete, ihm sei ein Geheimnis der menschlichen Natur enthüllt worden: die menschliche Unmenschlichkeit.

Weil die Polen jetzt am heftigsten bestrebt sind, aus Ungarn rasch wegzukommen, redeten wir über weitere Fluchtmöglichkeiten. Der Pole sagte, er sei im vergangenen Winter gekommen, einer, der ums nackte Überleben kämpfe, habe im Winter Vorteile gegenüber denen, die nicht zwingend in die Kälte müssten. In den dunkelsten Nächten beim größten Frost stünden die Chancen, durchzukommen, am besten. Er riet mir, keine Gelegenheit einfach ungenutzt zu lassen, man wisse nicht, was noch komme, er habe Menschen gesehen, die eine Gelegenheit, sich zu retten, verstreichen ließen wegen eines Kindergeburtstags. Er sei ein erfahrener Verfolgter, eine Fachkraft im Fliehen, in den vergangenen Jahren habe sich diese neue Profession herausgebildet, man dürfe sich keine Unachtsamkeit mehr leisten, er selber gehe zu den Partisanen in Serbien.

»Ein großes Vermögen wäre von Vorteil«, sagte der Pole. »Die Deutschen machen aus allem ein Geschäft, sie tun so, als sei ihnen der Umgang mit Geld widerwärtig, aber in Wahrheit sind sie es, die sich dem Geld unterjocht haben. Die Deutschen führen den Krieg von der Hand in den Mund. Wenn sie einmal ein halbes Jahr keine neuen Raubgründe finden, sind sie erledigt, seit sechs Jahren geht das so, jetzt ist Ungarn an der Reihe. Niemand ist geldgieriger als die Deutschen, sie würden die Pisse der Juden in Flaschen abfüllen, wenn sie Geld dafür bekämen. Und was ihre besondere Vorliebe ist: das Aufwiegen von Menschenleben mit Geld.«

Er appellierte an meine Intelligenz und atmete mir direkt ins Gesicht. Er erwähnte die Konzentrationslager und den Bau von riesigen Fabriken, und wer nicht arbeiten könne, komme ins Gas. / »Nicht im Ernst?«, sagte ich. / »Doch, weil ihnen das Töten der Leute sonst zu mühsam ist, so macht es weniger Umstände.«

An diese Art von Gerüchten hatte ich mich schon gewöhnt, und weil der Pole sah, dass ich ihm nicht glaubte, sagte er, ich solle mich auf das Schlimmste vorbereiten, die meisten von uns würden untergehen. Damit verabschiedete er sich. / Weil sein Gesicht so ernst gewesen war, erzählte ich es István, ich bat ihn, bei seinen besser informierten Bekannten nachzufragen. Er brachte die Auskunft, im Moment bestünde keine akute Gefahr, wir würden als Arbeitskräfte benötigt. Doch wenn weiter so viele Flüchtlinge aus Moldawien und der Ukraine hereinzögen, benötige man uns bald nicht mehr, er schließe sich der nächsten Arbeitskolonne an.

Während István ein paar Sachen zusammenpackte, wusste ich, dass es ohne ihn schwer werden würde. Ich wartete, bis dieses Gefühl nachließ, dann dankte ich ihm für die Unterstützung während der vergangenen fast zweieinhalb Jahre, umarmte und küsste ihn. Er sagte: »Wer weiß, Oskar, vielleicht werde ich mir noch den Kreml anschauen.« / István ging zum Güterbahnhof, wo man die Arbeitsmänner sammelte und in Brigadenstärke abtransportierte. Gott segne ihn!

Gestern war nach vielen kalten Tagen ein heißer Tag, so heiß wie in Wien im Juli. Wally und Georgili waren auf eine Stunde weg, kamen ganz erschöpft nach Hause. Wally rannte sofort hinunter, um frisches Wasser zu holen. Und während sie sich wusch, ertappte ich mich dabei, dass ich an den Polen dachte und an das, was er über verpasste Gelegenheiten gesagt hatte. Nachdem Wally sich gewaschen hatte, schüttete sie das schmutzige Wasser in den Kübel unter dem Lavoir, sie sagte: »Jetzt beginnt wieder das lange bange Dahinleben.« / Georg setzte sich an den Tisch und zeichnete die Aussicht auf das St. Rochus-Krankenhaus. Später sprang er mit der Springschnur, Georg, mein hübscher Junge.

Gearbeitet habe ich seit Wochen nicht. Wir ernähren uns von Bohnen, Erbsen und Linsen oder von überhaupt nichts. Als Brotaufstrich haben wir etwas Schmalz, das uns allen zum Hals heraushängt bei dieser Hitze. / Angeblich fahren endlos lange Güterzüge mit ungarischen Pflanzenölen und Pfirsichkonserven Richtung Deutschland, die Leute sagen, die Güterzüge wären doppelt so lang, würde nicht das nötige Rollmaterial fehlen.

Leider muss ich jetzt mehr riskieren, um die Miete für Istváns Zimmer bezahlen zu können. Am 24. hatte ich, Gott sei Lob und Dank, einen Treffer, ich kaufte einem deutschen Soldaten um 70 Pengő einen Elektrokocher ab, verkaufte ihn noch am gleichen Tag um 100 Pengő weiter. Das sichert uns das Überleben für ein paar Tage. / Als ich Wally das Geld zeigte, sagte sie, ihr Herz schlage nicht, es singe. Ich war froh, sie lächeln zu sehen, kommt selten genug vor. Und Wally sagte: »Es ist eine miese Zeit, aber irgendwann werden auch wir uns wieder freigekämpft haben.« / Ihr plötzliches Vertrauen in meinen Kampfesmut machte mich beklommen.

Mein Spiegelbild in den Schaufenstern war zum Erschrecken, so dünn war ich geworden, graue Strähnen durchzogen mein Haar, ich war ein Mann mit einem aschfahlen Gesicht, in einem schlecht sitzenden, abgenutzten Anzug und ging auf der Schattenseite der Straße. Die Knochen standen mir überall heraus, fast täglich hatte ich Magenkrämpfe, war zu nichts mehr zu gebrauchen, mit großen Schritten glich sich mein Aussehen dem in meinem Pass angegebenen Alter an. Ein heimatloser Flüchtling, ein heimat- und staatenloser Mensch, unter falschem Namen, mit falschen Papieren, mit falschem Blut, in der falschen Zeit, im falschen Leben, in der falschen Welt.

Dass die Zeit verging, merkte ich an Dingen wie meinem Fingernagel, er war jetzt ganz nachgewachsen. Und auch Georgili war gewachsen, Wally hatte den Saum seiner guten Hose heruntergelassen, ein letztes Mal, mehr geht nicht, sagte sie. / Wir hofften alle, dass das Kriegsende bald kam.

Der Krieg! Es bestand natürlich Hoffnung, dass alles ganz abrupt zu Ende ging, überall war davon die Rede. Aber anderthalb Jahre schob die Rote Armee die Deutschen schon vor sich her, trotzdem stolzierten die Deutschen in Budapest herum wie Gockel, sie sahen viel weniger gehetzt aus als ich. / Bumbumbum-bum … Bumbumbum-bum … Hier ist England! … Hier ist England! … Zunächst die Nachrichten in Schlagzeilen! / Aus den Nachrichten erfuhren wir, dass die Amerikaner Rom eingenommen und sich an der französischen Küste festgesetzt hatten. In Weißrussland waren mehrere deutsche Armeen von der Roten Armee vernichtet worden. Das klang verheißungsvoll. Tatsache war leider, dass die Front sich langsamer nach Westen verschob, als wir seit Monaten hofften. Die größeren Bemühungen der Roten Armee richteten sich auf das Baltikum im Norden und Rumänien im Süden.

Gestern ein Bombenangriff auf Budapest. Mit den Bomben wurden Flugblätter abgeworfen, sie enthielten Warnungen an die ungarische Regierung und die Aufforderung an die Bevölkerung, die ungarischen Juden zu schützen. Stiller Jubel unter den Budapester Juden und böse Bemerkungen über die plötzliche Sorge der Ungarn, ihr Ruf im Ausland könnte Schaden nehmen.

Trotzdem tauchten wieder die mit Erschießung drohenden Erlässe in den Anschlagkästen auf, man erkannte die alte Handschrift, es waren die nur geringfügig modifizierten Verordnungen des Reiches. Deshalb beschlossen Wally und ich, nach Rumänien zu gehen. Aus Wien waren wir gut entkommen, und Wally lebte im Vertrauen zu Gott, dass er uns zu Gutem führt. / Wally musste die Mehrzahl der Wege machen, die Gefahr, dass sie zum Arbeitseinsatz verschleppt wurde, war nicht so groß wie bei mir, mein abgenutzter Anzug wies mich jederzeit als das aus, was ich war. Ich beneidete die Männer auf der Straße um ihre unbeschädigten Anzüge.

In der Nähe der Elisabethbrücke traf ich Berl Feuerzeug, den ich aus Wien kannte. Er hatte arische Papiere bei sich und fühlte sich sicher. Er sagte, es gehe ihm gut, er sei verlobt. Viel mehr redeten wir nicht, hatten beide Angst, dass wildfremde Menschen zuhören könnten. Um irgendetwas Persönliches zu sagen, sagte ich, dass ich oft Albträume habe. Er tröstete mich und sagte, dass auch er dann und wann Albträume habe. So gingen wir auseinander.

Bei der Planung unserer weiteren Flucht spürte ich, wie ausgelaugt ich war, es war mir, als hätte ich einen Tag lang Ziegel an einen Ort getragen, bis einer kam und sagte, die Ziegel müssten an einen ganz anderen Ort.

Die Zuteilungen entsprachen Hungerrationen, wir hatten nicht genug zum Leben und litten darunter. Bei der Jüdischen Selbsthilfe bettelte ich um Sohlen, um mir die Schuhe doppeln zu lassen, war bereits auf den Socken gegangen. Das Geld reichte hinten und vorne nicht, ich lief ständig mit leerem Magen herum. / Am Freitag stellte ich mich bei der Ausspeisung an, es gab Tscholent, schmeckte so gut, dass ich am liebsten um das Rezept gebeten hätte. Ich stellte mir vor, dass ich zu Hause an einem Freitag für die ganze Familie Tscholent koche. Nicht in Wien, sondern in Akkra, Goldküste, in einem ebenerdigen Bungalow mit Strohdach. / Wir hatten jetzt alle wieder ein schlechtes Aussehen.

Wie es wohl unserem hübschen Bernili-Buben gehen mag? Wir sehen ihn als freien Inselbewohner, als Besitzer einer besseren Zukunft. Hier wäre es ihm verboten, mit seinen Freunden in den Park zu gehen, selbst im Innenhof des Stern-Hauses, in das wir übersiedeln mussten, laufen die Kinder Gefahr, dass man ihnen den Ball wegnimmt. / Es ist gut, dass ich wenigstens einen der Menschen, die ich liebe, zu schützen vermocht habe.

In der Nacht träumte ich erstmals von Kartoffeln. Früher waren meine Träume anspruchsvoller.

Unsere echten Papiere habe ich vor zwei Jahren weggeworfen, weil es die falschen waren, die falschen sind nicht echt. Mit den echten bekäme ich jetzt vielleicht einen Schutzbrief des Vatikans. Aber mit etwas so Halbem wie unseren falschen Papieren ist es schwer, jemanden zu finden, der einem hilft. / Wie schlecht eine Zeit ist, erkennt man daran, dass sie auch kleine Fehler nicht verzeiht.

Sechs Wochen habe ich nicht geschrieben, ich befand mich unter einer so starken nervlichen Anspannung, brachte keinen Gedanken zusammen. Der für mich schlimmste mögliche Fall ist eingetreten, das, wovor ich mich immer gefürchtet habe, schlimmer als schrecklich. Es kommt mir vor, als würde ich durch alles hindurchfallen, ohne Halt zu finden.

Am Sonntag den 16. Juli standen wir um acht Uhr auf, es war ein windiger Tag, leider kein Regen, der Wind hatte ihn verblasen. Wir frühstückten, waren auf trockenes Brot und bitteren Tee gesunken. Wally brachte Georgili in die Sonntagsschule. Ich begleitete die beiden bis zum Haustor, wir küssten einander, und ich sah ihnen nach, bis sie um die Ecke verschwunden waren. Das war unser Abschied. / Als sie am Nachmittag nicht zurückkamen, wuchs meine Sorge von Stunde zu Stunde. Ich begab mich zur Gemeinde, dort sagten sie, Wally und Georg seien bei der Sonntagsschule nie angekommen. Einige weitere Nachforschungen brachten die Auskunft, dass es am Klauzál tér eine Razzia gegeben habe, niemand konnte mir nähere Auskunft geben.

Als ich mich spät in der Nacht niederlegte, war mir nicht bewusst, wie schlimm es werden würde. Wie sich nun das wieder klären soll, habe ich mich gefragt und mir lange Gedanken gemacht, betend, dass auch dieser schwarze Tag bald in Vergessenheit geraten darf. Drei Tage später war ich so unglücklich, nervös und angespannt, dass Dr. Weisbrod mich schüttelte, so würde ich es nicht lange machen, dann könne ich mich gleich aufhängen, damit sei niemandem gedient.

Wally und ich hatten einen Treffpunkt vereinbart für den Fall der Trennung, wenn eine Rückkehr in die Wohnung nicht möglich war. Aber am vereinbarten Ort tauchten Wally und Georgili nicht auf, hinterlegten auch keine Nachricht. Und als ich mein Leid klagte, bat eine Nachbarin um Georgs und Wallys Kleidung mit den Worten: »Andere haben sie jetzt nötiger.« / Das brachte mich ganz aus dem Gleichgewicht. Für einige Tage war ich so teilnahmslos wie nicht mehr, seit man uns in Wien aus unserer Wohnung in der Possingergasse gewiesen hatte. Alles war weit weg und schien sich immer weiter zu entfernen. Nichts war von Bedeutung. Hätte jemand gesagt, am Vörösmarty Platz werden neuseeländische Visa verschenkt, hätte ich nur geantwortet: Bitte lasst mich, macht mit den neuseeländischen Visa, was ihr wollt, aber verschont mich, ich kann nicht mehr.

Oft schon hatte ich mir die Situation vorgestellt, ich komme nach Hause, Wally und Georg sind nicht mehr da. Ich hatte mir vorgenommen, alle Hebel in Bewegung zu setzen, notfalls mein Leben zu riskieren, weil das Leben ohne Wally ohnehin nichts wert ist. Jetzt war ich ganz apathisch.

Bei Erkundigungen sagte mir eine Sekretärin sehr eindringlich, ich könne im Moment nichts für Wally und Georgili tun, ich solle versuchen, mich selbst in Sicherheit zu bringen. / Wenn ich jetzt ebenfalls verschwinden würde, fiele es niemandem auf. Es gibt niemanden, der auf mich wartet, niemanden, der etwas von mir will. Wenn ich weg wäre, gäbe es eine freie Matratze und einen weniger, der auf dem Fußboden schläft. / Mit Herzklopfen esse ich die letzten Zwetschken.

Die Lebensweise, die jeder Mensch in sich trägt, ist mir genommen. Du drehst dich um und willst etwas sagen, aber da ist niemand. In so belanglosen Augenblicken wird mir bewusst, wie sehr mir Wally fehlt. / Wally, mit der ich fünfzehn Jahre lang Hand in Hand gegangen bin, einmal sie voraus, einmal ich voraus. Und plötzlich verschwindet dieser Mensch, gleitet dir aus der Hand, du drehst dich um, aber da ist nichts, buchstäblich nichts. Das ist jetzt einfach erloschen, wie ausgeblasen von einem Windstoß. / Lieber Gott, hol mich heim in der Nacht, und keiner weiß was davon. Ruhe, Ruhe, das, was ich brauche, finde ich sowieso nicht. Wer sagt mir noch, dass er mich liebt. Niemand. Ich gehe jetzt ins Bett und bitte darum, nicht mehr aufzuwachen. Nie mehr.

Es regnet, ich bin erschöpft, ganz bestürzt, dass mich das Leben so in die Ecke tritt. Ich lebe in ständiger Anspannung, bin mit meinen Nerven am Ende, auch etwas, was nicht gut ist. Und ganz leicht zu erschrecken bin ich seit neuestem, ich glaube, es liegt an meiner Einsamkeit. Bis zur Unerträglichkeit lebe ich in einer steifen, sich nicht bewegenden Einsamkeit, ich bin allein in einer aussichtslosen Lage, ich lebe kaum. Ganz wenig nur.

Deutlich erinnere ich mich an zwei Dinge, an unsere Ankunft in Budapest, als ich Wally das Halstuch kaufte, wir waren so voller Glück, dass wir in Istváns Zimmer tanzten, lachend und weinend, bis wir atemlos auf Istváns Bett fielen. Und an unseren Urlaub am Gardasee, als wir auf der Bank saßen und Pfirsiche aßen, Pfirsiche mit fünfzehn Zentimeter Durchmesser, wunderbarer Saft. Und Wally sagte: »Ich höre den Wind auf Davids Harfe.« / Im Traum flüstere ich Georgili zu: »Trink das, dann geht es dir besser.«

Und Tag und Nacht immer das gleiche: Selbstvorwürfe. Warum habe ich nicht besser aufgepasst? Ich gehe die letzten gemeinsamen Tage durch, suche nach dem, was ich übersehen habe, und bilde mir Dinge ein: dass Wally erwähnt hat, sie ziehe mit Georg in die schwedische Botschaft, sie nähmen dort nur Frauen und Kinder. Dann löst sich der Spuk auf, und ich sehe, wie Wally und Georg auf den Klauzál tér treten, der hinter ihnen abgeriegelt wird. / »Nicht, Wally! Lauf weg! Geh Richtung Vörösmarty! Schnell!« / Dann beiße ich in das Halstuch, das ich Wally vor dem Keleti Bahnhof gekauft habe, ein Bindeglied zu glücklicheren Tagen.

Lieber Gott, ich bin mit allem zufrieden, ich verlange kein weiches Bett, will auch die alte Wohnung nicht zurück. Nur Wally und die Kinder. Werden uns schon irgendwie durchbringen, wenn man uns leben lässt. Alles ist nicht so wichtig, man kann sich auch von Kartoffelschalen ernähren, die jemand weggeworfen hat, wenn man nur sonst in Ruhe gelassen wird.

Die Schlüssel zu unserer Wohnung in der Possingergasse habe ich gestern in die Donau geworfen. Habe sie lange mit mir herumgetragen, den Schlüssel zum Haustor, den Schlüssel zur Wohnung, den Schlüssel zum Kellerabteil. Dann habe ich mich in den Hof des Gelben-Stern-Hauses gesetzt und mich von der Herbstsonne wärmen lassen. Nicht dass es kalt ist, aber ich habe mich seit Tagen nicht mehr satt gegessen. Hätte nicht gedacht, wie kühl einem vom Hunger wird.

Ich kann und mag nicht mehr schreiben. Es ist alles zu traurig, ich bin fast am Ende meiner Nervenkraft. Es gibt keine Hilfe mehr.

Liebe Jeannette, über den Aufenthaltsort von Wally und Georg kann ich dir nichts mitteilen. Sie sind weggefahren. Georgili war zu diesem Zeitpunkt vollkommen wiederhergestellt, ich hatte mich bemüht, dem Kind möglichst viel Obst als Zuschuss zu besorgen. Wir hatten mit dem süßen Kerl einen harten Strauß mit Kranksein und Dalles, aber trotz der Schlechtigkeit der Menschen konnten wir ihn über alles Traurige hinwegbugsieren. Ich habe es mehr oder minder mit Gewalt und auf vielen Umwegen, wie ich heute mit Genugtuung feststellen kann, geschafft. Georgili war tapfer, hat zum Schluss schon gut ungarisch gesprochen und war ein ganz raffinierter Zigeuner. Obwohl sein Vater Oskar verschollen ist und ich, der Sándor Onkel, für ihn so brav sorgte, mussten er und Wally wegfahren. Wo die beiden sind, weiß ich nicht. Es hat daher keinen Sinn, wenn ihr in Hinkunft Briefe mit lieber Oskar schreibt, da er ja verschollen oder gestorben ist. Aber Wally und Georgili sind bestimmt sehr tapfer, wenn Wally auch vielleicht glauben mag, es geht nicht mehr weiter. Solltest du Kontakt haben, sage Wally, sie solle gefasst sein, weil sie den Georgili bei sich hat und es dem Bernili in England gut geht. / Sei gegrüßt und geküsst von deinem Sándor Onkel.

Milch Sándor ist es, der dies schreibt.

Nun endlich ist Debrezen gefallen.