Bald ein ganzes Jahr

Bald ein ganzes Jahr trieb ich mich in Mondsee herum, indessen der Krieg kein Ende nahm. Der Jahrestag meiner Verwundung war verstrichen, und ich wunderte mich selbst, dass es mir gelungen war, mir den Krieg so lange vom Leib zu halten. Als ich Ende November aus Wien eine Beorderung bekam, durfte ich mich nicht beklagen, jedenfalls nicht laut, denn in Wahrheit war es mir bisher vergönnt gewesen, einen unauffälligen Mittelweg zu gehen, der lag, sagen wir, zwischen dem allergrößten Glück mancher und dem härtesten Schicksal vieler. / In der Beorderung hieß es, dass ich mich binnen einer Woche in der Breitenseer Kaserne einzufinden hätte. Ich schaute mir stundenlang meine Befunde an, ob sich darin etwas Auffälliges fand. Die Lähmungserscheinungen mochten etwas hoch gegriffen sein, andererseits: Wenn einem kein Bein fehlte, galt man als gesund. / Hoffentlich fiel niemandem etwas auf.

Nicht einmal Margot wusste, dass die jüngsten Befunde gefälscht waren, ich trug es herum wie eine verschwiegene Krankheit.

In manchen Momenten erleichterte mich der Gedanke, dass ich wieder nach Wien musste, die ungewisse Situation zerrte an meinen Nerven, und es kostete mich Mühe, einen klaren Kopf zu behalten. Durch mein Selbstmitleid war ich schon zur Hälfte zerstört. Und eine gewisse Abhängigkeit von Tabletten war auch gegeben, ich wartete gar nicht mehr ab, ob es mir richtig schlecht ging, schon beim geringsten Anzeichen einer Unpässlichkeit schluckte ich ein Pervitin. Und wenn die Dose leer war, holte ich beim Gemeindearzt eine neue. Ich war zu schwach, um an dem Teufelskreis etwas zu ändern, lebte in den Tag hinein und hoffte, dass sich alles von selbst erledigte, indem das Kriegsende wie ein Vorhang herunterfiel. Die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit gestand ich mir dabei nur ungern ein, denn die allgemeine Auffassung lautete: Kriege enden nicht im Winter. / Und doch musste sich etwas tun, ich musste etwas ändern, ich konnte mich selbst nicht mehr ausstehen, und Margot hatte es auszubaden. Wenn ich sie wieder wegen einer Kleinigkeit angefahren war, fragte sie befremdet: »Wozu der Tonfall?«

Manchmal saß ich mit zur Decke gerichteter Mauserpistole vor dem Plattenspieler und hörte die Liebeslieder, die der südamerikanische Tenor zur Gitarre sang: Ai, yoyo … ai, yoyo …

Mitte November war der erste Schnee gekommen, zehn Zentimeter Weißware. Gemeinsam mit Margot hatte ich auf dem Vorplatz für Lilo einen Schneemann gebaut. Es gab jetzt wieder einen Hund, die Banater hatten ihn mitgebracht, einen schönen, jungen Hütehund, den Lilo liebte. Er pinkelte den Schneemann rundherum an, und als dann auch noch die Sonne schien, fiel dem Schneemann die Karotte aus dem Gesicht. Jetzt war er nur noch ein Haufen Matsch.

Oft stand ich untätig am Fenster, schaute hinüber zu den im Garten des Brasilianers grasenden und ständig ihre Notdurft verrichtenden Langhörnern. Wenn es Niederschlag gegeben hatte und die Sonne hervorkam, dampften die grauen Rücken der Rinder. Ihre langen Hörner mit den dunklen Spitzen waren auf einschüchternde Weise gewunden und erinnerten mich an die Hörner von Perchten. Den Winter aufhalten konnten sie aber auch nicht. / Und dann streifte mein Blick über das Gewächshaus, in dem vom Unterlauf der Donau geflohene Frauen und Männer die Arbeit des Brasilianers verrichteten. Ich empfand die Anwesenheit dieser Fremden als irritierend. Gleichzeitig boten auch sie sich als Möglichkeit an, meinen Blick zu erweitern und dann bestätigt zu finden, dass es nichts Absolutes gibt, nichts Totales, Herkunft, Rasse, gesellschaftliche Stellung, Überzeugung. Es lag nur an mir, hinüberzugehen.

Stattdessen ging ich zum Onkel, um ihn zu bitten, mir eine Fahrerlaubnis für Wien auszustellen. Beim Posten hing draußen ein Schild, das mitteilte, der Posten sei nicht besetzt. / Ein Nachrichtenmädchen, erkennbar am Blitz an der Mütze und an den Ärmeln ihrer Uniformjacke, eilte vorbei, sie trug ein Paket unterm Arm, etwas, das in Zeitungspapier eingewickelt war, sie rief mir zu, die Polizisten führten bei der Brücke über die Zeller Ache, wo die Straße nach St. Lorenz abgehe, eine Kontrolle durch. / Ich wandte mich in die Richtung des Zeigens. Die Lagermädelführerinnen der Lager Stern und Schwarzindien kamen die Straße herauf. Da es regnete, hielten beide die Schirme vor und schauten nicht zu mir her.

An der von dem Nachrichtenmädchen bezeichneten Kreuzung standen der Onkel und sein Amtshelfer in ihren dunkelblauen Ölmänteln. Der Onkel hatte ein Gesicht wie ein ungemachtes Bett, wirkte erschöpft, hatte aber dennoch gute Laune. Aufgrund seiner Atemnot hatte man ihn beim Volkssturm abgelehnt, er sagte, sonst sei fast jeder genommen worden, nur solche mit sichtbaren Fehlern nicht. Er hustete und schnappte nach Luft und klopfte zärtlich auf seine Tabakdose in der Jackentasche, als habe sie ihm das Leben gerettet.

»Ich habe aus Wien eine Beorderung bekommen«, sagte ich, »ich muss in den nächsten Tagen hin und brauche eine Fahrbewilligung.« / »Du wirst also wieder einrücken …«, sagte er versonnen. / »Weil es Bestimmungen gibt, die mich dazu zwingen.« / Das hätte ich nicht sagen sollen, dachte ich im nächsten Moment. Aber der Onkel schien meine Antwort für eine gute Begründung zu halten, der schrille Beiklang befand sich in einer für ihn kaum wahrnehmbaren Tonlage. Er sagte: »Manches ist eben so, es bringt nichts, da tiefer zu loten.« Er hob die Schultern, das gestische Äquivalent zum verbalen: Man muss sich damit abfinden. / Dann nahm sein Gesicht einen freundlichen Ausdruck an, und er sagte: »Wir warten auf den Durchzug der Schwarzindierinnen, sie übersiedeln nach Mondsee. Sowie die Mädchen das Feld geräumt haben, führen wir eine Verhaftung durch.« / »Was für eine Verhaftung?«, fragte ich beunruhigt. / »Es gibt Leute, die ausländische Sender hören und von ihren Verwandten verpfiffen werden. Du weißt ja, wie die Leute sind, mit Neid, Missgunst und Tratsch bis obenauf voll.« Er zwinkerte mir zu. Und ich hakte noch einmal nach, wo genau er hinmüsse. Er blockte ab. Da fragte ich nicht länger nach.

Jetzt kam der kleine Treck mit den Verschickten zwischen den Bäumen hervor. Wie bei der Ankunft im Jänner wurden die Mädchen von einer Abordnung Pimpfe begleitet, dieselben Leiterwagen, dieselben Koffer und Rucksäcke, vergleichbar winterlich nasse Wege. Aber während die Mädchen als ungeordneter Haufen nach Schwarzindien hinausgezogen waren, verließen sie es in Zweierreihen, den Eindruck erweckend, sie seien vollzählig, die Reihen geschlossen. Die Kleidung der Mädchen war nicht mehr ganz so tadellos wie vor bald einem Jahr. An manchen Schuhen sah man verschiedenfarbene Schnürsenkel, da und dort waren Mäntel zu kurz geworden. / Überraschend fand ich, dass die Mädchen Alle meine Entlein sangen, mehrmals, immer wieder von vorn. Erst als sie die Brücke über die Zeller Ache erreicht hatten, stellten sie das Singen und Marschieren ein. Ein Pfiff genügte.

»Ihr seid spät dran«, sagte der Onkel. / »Wir haben noch einen Regenguss abbekommen und konnten uns gottlob unter Bäume flüchten, die haben das Ärgste abgehalten, sonst wäre das ganze Gepäck nass«, sagte die Lagerlehrerin. Beklommen lächelten wir einander an. / »Alle vollzählig?«, fragte der Onkel. Die Lehrerin ließ der Form halber ihren Blick über die Mädchenreihen schweifen, sie nickte. Dann unterhielt sie sich mit dem Onkel über letzte Details der Lagerauflösung, und sowohl der alte Mann mit der Zigarette im Mundwinkel als auch die junge Frau mit der Pudelmütze schenkten mir keine weitere Beachtung. / Aber einige Mädchen schielten wie immer zu mir herüber, dabei machten sie keinerlei Versuche, ihren Ärger über die Umsiedlung zu verbergen. Nur die kleine Fotografin, die von Anfang an das Lagerleben dokumentiert hatte, die Kleinste der Belegschaft, schien Freude zu haben an den verdrossenen Gesichtern. Sie machte Fotos vom Onkel und dem Amtshelfer, der Treck und die finsteren Wolken gaben den Hintergrund. / Indem ich dem Mädchen Platz machte, sagte ich: »Bitte sehr, young Lady.« Und einige der anderen Mädchen johlten und platzten vor Lachen und pfiffen auf den Fingern, und sofort war die Ordnung vollständig aufgelöst und musste von der Lehrerin mit Zurechtweisungen wieder hergestellt werden. Von einer Sekunde auf die andere strahlte erneut eine Atmosphäre der Organisiertheit von den Mädchen ab.

Kurz darauf setzte die Marschkolonne ihren Weg fort, ganz vorne ein Pimpf mit Fahne, dann die von Pimpfen gezogenen Leiterwagen mit dem Gepäck und zuletzt die Mädchen. Im Gleichschritt zogen sie an mir vorbei.

Jetzt war der Onkel voller Tatendrang. Woher dieser Tatendrang? Was versprach er sich von der Verhaftung eines Menschen, der ausländische Sender hört? Dass seine nie sonderlich vermehrungswilligen Streifen und Sterne am Kragen zu spätem Kinderglück kamen? Dass man ihn in den Ruhestand versetzte, wenn er noch mindestens fünf so tolle Verhaftungen vornahm? Ich weiß es nicht. / Der Amtshelfer schob das Motorrad heran, sprang auf den Anlasser und putzte den Motor einmal durch, dass es dröhnte. Mit einem unguten Funkeln in den Augen schwang sich der Onkel auf den Sozius, und so tuckerten die beiden Gendarmen am See entlang davon.

Gleich würde es dunkel sein. Der erste Fuchs streunte in den Ort herein und schnüffelte an den Stalltüren. Die Hunde bellten und rissen an ihren Ketten. / Ich ging nach Hause, Margot hatte Suppe gekocht, ich wollte mich rasch umziehen. Und als ich die endlich reparierten Stiefel schon ausgezogen hatte, wurde mir plötzlich bewusst, dass sich der Onkel über mich lustig gemacht hatte. Die Verhaftung galt dem Brasilianer. Warum sonst musste die Übersiedlung der schwarzindischen Mädchen abgewartet werden.

So kann es nicht enden, dachte ich. Doch, so wird es enden, sagte ich. Und wenn ich die Zeichen missdeute? Wohl kaum. Was also tun? – Und ohne mir eine Antwort zu geben, fuhr ich in Arbeitskleidung, die ich noch vom Brasilianer hatte, fuhr in die Stiefel, und von hier an passierten nur noch Dinge, die mir vorkamen, als folgten sie einer Traumlogik. Ich nahm die Pistole vom Balken herunter, schluckte vorsorglich ein Pervitin, bei der Heftigkeit meines Herzklopfens würde es rasch seine Wirkung entfalten. Und ohne Margot Bescheid zu sagen, sprang ich die Treppe hinunter, durch die hintere Scheunentür hinaus, zog mir die Wollmütze tief ins Gesicht, und gleich darauf rannte ich über die vollgesogenen Felder in die rasch dichter werdende Dunkelheit.

Man weiß, wie schnell Ende November die Nacht hereinbricht, sie fällt aus dem All und kriecht gleichzeitig aus dem Boden. Und wenn die beiden Sorten Finsternis einander treffen, verklumpen sie zu einer Masse von ungewöhnlicher Dichte, bis man glaubt, eine geteerte Mauer vor sich zu haben. So kam es mir vor. Alles schien in Sackgassen zu enden, der Tag, der Krieg und mein Leben. Gleichzeitig staunte ich über jeden weiteren Schritt, den die Finsternis zuließ. Nur aus Erfahrung wusste ich, dass es dies alles gab, Weg und Steg und über allem die albtraumhaft hingestellte Drachenwand.

Wenn ich, wie am Badeplatz hinter dem Höribach, in offenes Gelände kam, war etwas mehr zu erkennen, die Bäume auf den Wiesen erschienen mir dann doppelt, dreifach, und dann versteckte sich plötzlich ein Baum hinter dem andern, und die Dunkelheit wurde wieder derart tief, dass alle Dinge verschluckt schienen bis auf das Geräusch meiner Schritte.

Als ich das Gasthaus Schwarzindien erreichte, war es noch immer stockfinster, jetzt aber sah ich besser, denn es stimmt, dass sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt. Das von den Verschickten geräumte Haus hätte den Eindruck gänzlicher Verlassenheit geboten, wäre vor der Eingangstür nicht das Motorrad der Gendarmen gestanden. Alles still. Erst als ich ganz nahe an ein Fenster heranging, sah ich zwischen Fensterrahmen und Verdunkelungsrahmen eine hauchdünne Lichtnaht.

Da ich in Wahrheit nicht wusste, was ich überhaupt wollte, kauerte ich mich auf der anderen Straßenseite bei dem zum Gasthaus gehörenden Wirtschaftsgebäude hinter einen Holunderstrauch und wartete. Ich bemühte mich, flach zu atmen, aber das gelang mir jeweils nur für drei Atemzüge, dann keuchte ich um so heftiger, denn vom Laufen war ich außer Atem. Sowie sich mein Puls etwas beruhigt hatte, hörte ich meine Armbanduhr. Unter gleichmäßigem Tick-tack, Tick-tack trennte der Zeiger die Sekunden ab, es klang, als würden die Sekunden ausgestanzt, als schepperten sie, einen Moment lang greifbar, in ein Behältnis, das sie auffing: kleine Nägel, Nägel zu meinem Sarg.

Jetzt öffnete sich die Eingangstür des Gasthauses, und fluchend trat der Amtshelfer heraus, gefolgt vom Onkel, der in der offenen Tür stehenblieb, ich sah lediglich seinen aus der Tür auf den Vorplatz fallenden, langen Schatten. Soweit das unsichere Licht es zuließ, konnte ich erkennen, dass jemand dem Amtshelfer eine gravierende Verletzung am rechten Ohr beigebracht hatte, Blut schlug durch das Tuch, das er um den Kopf gebunden hatte. Der Onkel sagte, er solle den Gemeindearzt herausklingeln, damit die Wunde gleich genäht werde, der Kollege aus Unterach fahre gleich los und werde in fünfzehn Minuten eintreffen. / Der Amtshelfer sprang auf den Anlasser des Motorrads, das Motorengeräusch dröhnte über den See. Vorne das Licht war größtenteils abgedeckt, nur ein schmaler Streifen durchlässigen Papiers ließ blaues Licht auf die Straße fallen, damit sich der Fahrer orientieren konnte. Aber zum Schnellfahren reichte es nicht. Noch für längere Zeit hörte ich das Knattern des Motorrads.

Der Onkel stand einige Sekunden bewegungslos in der offenen Tür, der lange, über den Vorplatz und über die Straße geworfene Schatten rief mir in Erinnerung, wie mager der Onkel seit dem Sommer geworden war. Schließlich ging die Tür zu, und von einer Sekunde auf die andere war wieder alles in Dunkelheit getaucht. / Eine Zeitlang blieb ich noch hinter dem Holunderstrauch versteckt, wartend, bis das Geräusch des Motorrads verklungen war.

Für einen kurzen Moment trat jenseits des Sees der Mond zwischen den Wolken hervor und warf einen glitzernden Pfad über das Wasser. Einmal in seinem Leben muss jeder Mensch dort hinüber. / Ich kam aus meinem Versteck, und natürlich wusste ich, dass der Weg, den ich jetzt beschritt, einer war, den ich nicht kannte. Wollte ich wirklich tun, was ich tat? – Keine Ahnung, ich hatte keine Zeit mehr für langes Nachdenken. / Mit der Mauserpistole in der Hand ging ich zum Haus und drückte mich unbemerkt zur Eingangstür hinein. In der Wirtsstube hatte jemand das Radio aufgedreht, ein Soldatensender schickte Grüße hinaus in die Welt, die für die deutschen Soldaten von Tag zu Tag kleiner wurde. Fast alle Stühle standen auf den Tischen, mit den Beinen nach oben. Nur zwei Stühle waren heruntergenommen, auf dem einen saß Onkel Johann, auf dem andern der Brasilianer. Von den neben und hinter ihnen aufragenden Stuhlbeinen waren die beiden wie umstellt.

In einem Winkel waren Dinge zusammengerückt, die am Nachmittag wegen des Regens zurückgelassen worden waren. Auf die Schultafel hatte jemand zum Abschied mit Kinderschrift einen Zungenbrecher geschrieben: Aus Kalau erhielt ein Kuli in Kola ein Kolli mit drei Kilo Kali.

Der Brasilianer sah jämmerlich aus, von bleigrauer Hautfarbe, struppig, in schmutziger Kleidung, Dreck und Stroh im Haar, erschöpft und enttäuscht. Er erweckte nicht den Eindruck, als sei er im Haus untergebracht gewesen, eher in einem Erdloch, das überraschte mich am meisten. / Der Onkel wirkte ebenfalls abgekämpft, das Gesicht aufgedunsen, uralt. Mühsam stand er auf. Und während der Brasilianer auf seine Hände starrte, suchte der Onkel die Schränke ab, bis er eine Flasche mit Schnaps gefunden hatte. / »Ich muss meinen Husten ersticken«, sagte er und setzte sich die Flasche direkt an den Hals. Er bot auch dem Brasilianer einen Schluck an, der schüttelte den Kopf.

Bestimmt schon zwei Minuten stand ich im Vorraum, und ich wusste, dass ich nicht auf halbem Weg stehenbleiben konnte, ich musste einen sauberen Schnitt machen, ein sauberer Schnitt ist etwas, bei dem es kein Zurück gibt. Also trat ich in die Wirtsstube. Ohne ein Erkennungszeichen in meine Richtung sprang der Brasilianer auf und nahm Abstand vom Onkel. Der Onkel blickte mich mit blutunterlaufenen Augen an, dann stand er ebenfalls auf, ich sagte, er solle sich wieder hinsetzen, aber er reagierte nicht darauf. In versöhnlichem Ton, fast beschwörend sagte er: »Bitte spiel jetzt nicht den edlen Rittersmann, geh einfach wieder nach Hause, und ich habe dich hier nicht gesehen.« / Ich vermochte mich nicht zu entschließen und ließ den Onkel reden, bis er ganz unsicher geworden war und nicht mehr weiter wusste. »Es ist schon genug Unheil angerichtet«, sagte er. Und dieser Satz ließ alle Schäbigkeiten des Onkels aufleben, und ich hatte kein Mitleid mit ihm, wie er nie mit irgendwem Mitleid gehabt hatte. Und das Pervitin war bestimmt auch nicht ganz schuldlos, dass ich abdrückte. Es erforderte gar nicht so viel Mut, aber wohl war mir nicht dabei, und ich konnte im nächsten Moment auch nicht glauben, dass ich soeben das Gute vollbracht hatte, das jeder Mensch in seinem Leben vollbringen soll. Von gut war alles weit entfernt.

Die Augen des Onkels flatterten irr, in der Wirtsstube verschwamm alles, was auch auf das Radio zurückzuführen war, in dem Evelyn Künneke das betörende Lied vom Karussell sang. Ich sagte zum Onkel, er solle sich doch wieder hinsetzen. / »Spar dir deine Ratschläge«, stammelte er, nach Luft ringend, mit kaum hörbarer Stimme. Und er starrte auf seine Hände über der Brust. Er spuckte Blut, mir wurde übel bei dem Anblick. Mit schmerzlich verbissenem Gesicht sagte der Onkel: »Scheiße.« Und etwas in ihm fiel hinunter und zerbrach, und als hätte er mit dem soeben gesprochenen Wort seine letzte Lebenskraft verbraucht, sank er auf den Stuhl, den ich ihm hingeschoben hatte, fiel aber gleich zu Boden. Und dort starb er, die Augen offen, aber mit tief versonnener Miene. / Nachts im November, wenn draußen dunkle Wolken am Himmel stehen und man müde ist, stirbt es sich hoffentlich leichter.

Gemeinsam trugen wir den Onkel hinaus und versteckten ihn, um möglichst viel Zeit zu gewinnen, hinter dem Wirtschaftsgebäude auf der anderen Straßenseite. So war der Onkel jetzt nur mehr eine ins Dunkel geworfene Leiche, aus und vorbei. Der Brasilianer suchte die Toilette auf, und während ich das Licht löschte, dachte ich, er ist verrückt, man wird uns beide verhaften. Aber nach fünf Sekunden war er wieder zurück, er hatte sich nur die Seife geholt, die es hier noch gab, ein halbes Stück Einheitsseife. Er fragte mich, warum ich das Radio nicht abgedreht hätte, und weil ich nicht sagen wollte, es ist für die Toten, zuckte ich die Achseln.

Endlich waren wir draußen. Ein eisiger Ostwind trieb mir Graupel ins Gesicht. Der Brasilianer bedankte sich noch einmal und sagte, ich solle mir um ihn keine Sorgen machen, er habe ein zweites Versteck und getrocknetes Obst und Gemüse für ein halbes Jahr. Und er werde sich auf seine Biologie- und Geländekenntnisse verlassen. / Er ging hinunter zum Bootsschuppen, kletterte auf die obere Etage und warf seinen Sack herunter. Er meinte: »Menino, wir reden noch, irgendwann.« / Ich sagte: »Schön wär’s, aber schwer vorstellbar.« / Er räusperte sich. Das Geräusch verhallte im Schneeregen. Ich lauschte, und auch der Brasilianer lauschte. Stille breitete sich aus, und der Brasilianer sagte: »Ruhig wird das Herz erst, wenn wir geworden sind, was wir sein sollen.«

Mit dem Sack über der Schulter hastete er davon. Die Dunkelheit schloss sich sofort hinter ihm, und so war es auch bei mir. Als ich einen hastigen Blick zurück auf das Gasthaus Schwarzindien werfen wollte, war da nichts mehr, nicht einmal eine dunkle Struktur, die erahnen ließ, wo das Gebäude stand. Alles hatte sich aufgelöst in der tintenschwarzen Finsternis. / Und so wandte ich alledem den Rücken, dem schwarzindischen Lager, der schwarzindischen Lehrerin, der toten Nanni und dem toten Onkel. Und in meinem Herz zog sich etwas zusammen, und mich befiel jene tiefe Traurigkeit, für die ich eine Veranlagung besitze. Das alles ist jetzt vorbei, dachte ich, es stimmt, was vergeudet ist, kann nicht zurückgewonnen werden.

Auf dem Weg nach Mondsee machte ich mehrere Pausen und weinte. Einmal versteckte ich mich für eine halbe Stunde. Die Hunde bellten. Ich schlich an einem Bauernhaus vorbei. Aus dem Stall hörte ich das Scheppern eines Kübels und Holzschuhe auf dem Betonboden. Ich passierte eines der Lager. Wenn man in der Nacht an den Lagern der Verschickten vorbeiging, hörte man keinen Laut, auch nicht im Sommer bei offenen Fenstern. Wie leise die Kinder schlafen.

Am Brunnen vor dem Haus wusch ich Hände und Gesicht. Auf der anderen Straßenseite schnaubten und stampften die Langhörner. Dann tastete ich mich vorsichtig zur unbeleuchteten Treppe und stieg hoch. In meinem Zimmer hatte ich wieder festeren Boden unter den Füßen, obwohl ich kein Licht machen konnte, denn die Verdunkelungsrahmen waren nicht eingesetzt. / Auf dem Bett kauernd, wartete ich, lauschend, ob nicht doch irgendwann die Tür zu Margots Zimmer ging. Zwischendurch stellte ich fest, dass ich wieder weinte. Nachher legte ich die Pistole hinauf auf den Balken und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Es gelang mir nicht. Vielleicht tut man den Gedanken Unrecht, wenn man sie ordnet, und dabei beließ ich es.

Später holte ich die Pistole wieder vom Balken herunter und nahm sie mit ins Bett und wärmte sie unter dem Kopfkissen. Und erstmals seit bald einem Dreivierteljahr deckte ich mich wieder mit meinem Militärmantel zu. Ich horchte. Das Muhen der Langhörner war zu hören. Und ich nahm wieder meine Schlafstellung ein, und die Geräusche der Rinder begleiteten mein Grübeln. Um einschlafen zu können, sagte ich mir Sprichwörter vor, einen alten Wolf reiten die Krähen undsoweiter. Darüber schlief ich ein.

Zwei Kameraden erschienen mir im Traum, Josef Gmoser und mein Beifahrer der ersten beiden Jahre, Helmut, der beim Ausbruchsversuch aus Tarnopol gefallen war. Die beiden kamen in ein Hotel, in dem ich abgestiegen war. Sie standen vor der Tür und sahen herein, verloren und befremdet. Interessanterweise war es Josef, der das Reden übernahm, und Helmut lehnte sich zurück und lächelte. Helmuts Haare waren nass, und Josef hatte eine Schramme im Gesicht. Ich erinnere mich nicht, was wir redeten. Aber ich weiß, dass sie nicht gekommen waren, um zu klagen, es ging ihnen den Umständen entsprechend gut, so hatte ich den Eindruck.

Unmittelbar nach dem Traum erwachte ich, benommen und fröstelnd, und nochmals um vier Uhr vom Geräusch des Graupels, der gegen die Fenster geweht wurde. Ich stand kurz auf und trank ein Glas Wasser. Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, brauchte ich einige Zeit, um mich zurechtzufinden, dann sah ich zu meiner großen Erleichterung, dass sich die Erde bereits merklich dem neuen Tag entgegendrehte. Das Dunkel in den Fenstern war nicht mehr ganz so hart. Jetzt schlief ich zwei Stunden am Stück.

Um halb zehn am Vormittag ging ich zu Margot hinüber und setzte mich bei ihr hin. Sie war schon einkaufen gewesen und wusste vom Tod des Onkels. Sie stellte mir eine Tasse Kaffee hin und fragte, ob alles gutgegangen sei. Ich antwortete: »Ja. So weit.« / »Dann bin ich froh«, sagte sie. / Ich glaubte zu sehen, dass sie etwas ahnte, aber sie fragte nicht weiter nach, und ich gab keine weitere Auskunft, und es wurde nichts mehr darüber gesprochen.