Es sind vom Eichbaumeck

Es sind vom Eichbaumeck bald alle fort, in den Betrieben und Kanzleien werden die Männer durch Frauen ersetzt, die Männer schimpfen, so mancher wird sich’s halt leichter vorgestellt haben. / Herr Kresser sagt, wir bekämen jetzt zuverlässig, was von Anfang an auf der Packung gestanden habe in fünf dicken Buchstaben: Konrad, Richard, Ida, Emil, Gustav. Immer wolle der eine den andern unterbuttern, und das gehe so lange, bis alles auf dem Rücken liege, dann sei wieder für einige Zeit Ruhe.

Bevor Herr Kresser einrückte, half er mir, den Lederbirnbaum abzubeuteln. Nun sind alle Früchte herunten, zwar klein, aber wohlschmeckend, fünfundzwanzig Kilo. Dienstag kochte ich sie ein, und um nichts wegwerfen zu müssen, du kennst deine Mutter, aß ich die Kernhäuser, daraufhin musste ich am Mittwoch den ganzen Tag liegen. Ich bin auch heute noch nicht ganz auf den Beinen. Hätte ich die Kernhäuser doch lieber weggeworfen, mein schwacher Magen verträgt solches nicht mehr.

Es war dann zwei Tage ununterbrochen kalt und stürmte, ich musste den Ofen einheizen. Gott sei Dank war die Ernte schon unter Dach, die Kartoffeln daheim, leider die Kinder nicht. Die schönen Blumen hinten im Garten, die für Allerheiligen gedacht waren, sind erfroren. / Sehr viel von den Dingen, die noch von dem großen Angriff am 11. September in den Bäumen hingen, kam beim Sturm herunter, Gardinen, Fensterrahmen, Kleidung, Schultaschen, das war vom Luftdruck hinaufgeworfen. Kann mir nicht vorstellen, dass noch viel Brauchbares dabei war außer Brennholz. / Bei uns verwüstete es den Garten, vier Körbe mit Winteräpfeln musste ich auflesen, jetzt tun mir die Beine weh.

Am Allerheiligentag wanderte ich von einem Friedhof zum nächsten und beneidete andere, die mit der Familie zu den Gräbern gehen konnten. An solchen Tagen spürt man das Alleinsein doppelt. / Auf dem Friedhof von Bessungen traf ich Frau Albus, ich soll dir von ihr schöne Grüße ausrichten. Sie hatte grad vorher am Telefon mit Anni gesprochen, die eine Quelle für Bohnenkaffee hat. Ich werde auch ein Pfund bekommen, es kostet fünfunddreißig Mark, egal, man ist froh, wenn man welchen hat, um seine Müdigkeit zu beseitigen. Für die Nerven ist es natürlich nichts.

Der Brinkmann-Tabak, den du mir geschickt hast, war ein Gedicht. Sag dem Soldaten unbekannterweise meinen herzlichsten Dank. Du erwähnst ihn nicht mehr so oft wie früher, da soll man sich auskennen. Aber du warst schon als Kind so, immer mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. / Jedenfalls bin ich froh, dass du endlich einen Brief bekommen hast, in dem ich dir von Tante Helen, Helga, Tante Emma und Onkel Georgs Tod schrieb. Deine Briefe treffen jetzt im Durcheinander ein, es kommen ein über den andern Tag drei oder vier Stück, achtzehn oder neunzehn seit dem Angriff, kamen alle innerhalb weniger Tage.

Dein Nachbar liegt also wieder hinter seinem Haus in der Hängematte, während Alarm ist. So bist du die Gärtnerei wieder los.

Gestern war am Abend noch Nelli bei mir zu Besuch, sie war für einen Tag in Darmstadt, sie hat sich sehr verändert und schaut furchtbar schlecht aus, ich glaube fast, sie ist wieder lungenkrank. In unserer Familie ist schon ein entsetzliches Pech. Jetzt hat wieder Käta einen Rückfall, und natürlich muss sie immer weinen, was ja auch nicht von Vorteil sein kann für ihr krankes Herz. Ich frage mich, beziehungsweise ich frage mich überhaupt nicht, ich weiß, es ist nicht in Ordnung, dass manche Menschen gar kein Glück haben und anderen wieder geht alles nach ihren Wünschen.

So einen dichten Nebel hatten wir schon lange nicht mehr. Als ich nach dem Besuch von Nelli für die Hasen Futter machte, zog ich nachher den Nebel hinter mir ins Haus. Auch in der Küche riecht es nach modrigem Laub, und die Bettwäsche ist klamm, so dass mir die ganze Nacht nicht warm wird. / Ich fürchte mich sehr vor dem Winter, um fünf Uhr schon finster, also noch mehr Zeit zum Alleinsein. Ich kanns schon aushalten, wenn ich euch mal alle für drei Tage oder eine Woche los bin, ohne das Gerenne und Herumbrüllen. Und ich behaupte nicht, dass ich immer begeistert bin von dem, was ihr alle mir liefert, darauf kannst du deinen kleinen Arsch verwetten, liebe Margot. Aber dass jetzt gar niemand mehr hier ist, ist nicht recht.

Eben fällt mir ein, dass du noch immer einiges an Kleidung geschickt haben willst, aber die Post wird für dich von der Paketsperre keine Ausnahme machen. Und nein, man weiß eh nicht, ob es ankommt, weil die Flieger alles zusammenschlagen. / Kannst du nicht mal nach Darmstadt kommen und deine Tochter herzeigen? Nach dem, was alles seit dem großen Angriff passiert ist, wäre es schön, für ein paar Tage so eine Krabbe im Haus zu haben.

Papa habe ich von meinen schlechten Beinen nichts geschrieben, er begreift das doch nicht, er schimpft höchstens, ich sei selbst schuld. Leider muss ich jetzt wieder liegen, ich hatte einen Sonntag wie Arsch und Friedrich. Lulu muss mir füttern und melken. Auch Frau Kresser ist besorgt. / Lulu ist mit ihrer Mutter zum Glück wieder gut, ich habe ihr ordentlich ins Gewissen geredet. Schreib in deinen Briefen so, dass ich sie Frau Kresser zu lesen geben kann und dass was drin ist für Lulu, damit sie einsieht, sie hat es nirgends besser als zu Hause. Sie geht noch immer nicht zurück ins Geschäft, haben noch keinen Strom. In Darmstadt ist es für sie jetzt langweilig, kein Kino und nichts seit dem Angriff. Aber das Belida soll bald wieder eröffnen, und sie wartet schon sehr drauf, ist eben gar nichts anderes mehr gewöhnt als nur Trümmer. Es berührt einen ordentlich komisch, wenn man mal woanders hinkommt, wo man keine kaputtenen Häuser sieht. Letzthin war Lulu mit Gertrud in Wolfskehlen, es sei ihr vorgekommen wie Australien.

Nun, liebe Margot, will ich ins Bett. Meistens liegen wir gerade zehn Minuten, und da gibt es Alarm, das machen die ganz geschickt, du kannst dir meinen Zorn vorstellen. Und dann sitzt man im Keller, hätte Zeit genug zum Briefeschreiben, aber die Gedanken haben im Krieg kein gutes Leben und gehen im Kreis. / Vielleicht sind wir morgen nur noch Schutt und Asche und alles Hoffen war umsonst. Vorgestern hat sich ein Soldat, der eingekesselt war und jetzt aus Russland kam, erschossen. Am Bahnhof habe er sich noch gefreut, dass er mal endlich wieder daheim war, er habe gedacht, bombengeschädigt betreffe nur das Haus. Da hat es ihn hart getroffen, als er erfuhr, dass seine Frau und drei Kinder schon bald acht Wochen begraben sind.

Papa macht sich auch ganz kaputt mit seinen vielen Gedanken, ich sage ihm, das soll er nicht, er braucht seine Nerven noch, wenn er wieder zu Hause ist. Ich sage ihm auch, er ist doch nicht der Einzige, andere müssen auch fern sein von Frau und Haus, es ist für jeden schwer. Aber für ihn scheinbar ganz besonders. / Mir fehlt Papa auch, tagsüber bin ich mit Arbeit und Gängen überlastet, und das ganze Häusliche habe ich schon satt. Bettine, wenn sie am Wochenende hier ist, hat mit sich und ihren Freundinnen zu tun, und ich gönne es ihr, ich kenne den raschen Betrieb in Berlin, der macht einem die Nerven kaputt.

Da die Paketsperre aufgehoben ist, liebe Margot, habe ich heute für dich ein Paket mit Wäsche aufgegeben als Expressgut, du wirst es am Bahnhof Mondsee abholen müssen. / Schick mir die Bogen und die Schnüre zurück, es gibt hier gar nichts. / Nachthemden habe ich dir keine geschickt, du hast doch nur lauter ohne Ärmel, und jetzt kommt der Winter, und meine, die mit Ärmel sind, brauche ich selbst. Schicke dir statt dessen paar warme Fausthandschuhe.

Liebe Margot, es ist doch eine ganz andere Sache, wenn man seine eigenen Leute um sich hat als wie Fremde. Frau Bader hat seit Samstag eine Wohnung im Kaiserschlag, sie kommt nur noch zum Schlafen, da sie noch keine Betten haben. Heute haben sie Matratzen geholt, hoffentlich bekommen sie auch bald das andere. / Ich schlafe in Bettines Bett. Mein Bett steht auf dem Platz, wo die Couch stand, und die Couch steht unter der Uhr, da schläft Frau Bader, ich bin froh, wenn sie hier ist. Jetzt fängt auch bei mir die Budenangst an, und es wirbelt in meinem Kopf. Wenn’s besonders schlimm ist, bitte ich Lulu, dass sie bei mir übernachtet.

Lulu ist zurück in der Hügelstraße, dort gefällt es ihr hundertmal besser als in Bessungen, obwohl sie in der Hügelstraße keine Toilette haben. Die Mädchen gehen nach oben und setzen sich in ihren früheren Arbeitsräumen auf einen Topf. Das ist natürlich Anlass zu witzigen Bemerkungen von Seiten der Herren. Die Mädchen gehen nie allein, immer muss jemand mit, der achtgibt, dass niemand kommt. In einigen Tagen fangen sie den Jahresabschluss an. Lulu stöhnt schon, weil es nach dem Angriff ein großes Gewurschtel geben wird und sie bestimmt manchen Sonntag wird arbeiten müssen.

Leider ist Käta gestorben, eines natürlichen Todes, also Rarität. Habe den Weg nach Arheiligen unternommen und mich verabschiedet, fand sie im Keller auf einer Bahre mit einem Tuch bedeckt, sie war richtig verändert, sehr fahl, kaum zu erkennen. Ich strich ihr mit der Hand übers Gesicht als letzten Gruß und ging. Ich konnte gar nicht weinen. Nun ist es vorüber. Die alte Wahrsagerin, die ihr einst prophezeit hatte, sie werde 89 Jahre alt, hat auch nicht recht behalten. / Onkel Gerhard traf ich nicht an, war im Lazarett in Dieburg.

Papa ist zur Zeit als Schlosser in der Werkstatt beschäftigt. Kein Material und Werkzeug und dennoch arbeiten. Er schreibt sehr weinerlich, ich glaube, dass die paar Monate schon genügt haben, um aus deinem Vater einen anderen Menschen zu machen. Er scheint schon in manchem anderer Meinung zu sein als früher. Ich habe viel gelitten unter seinen manchmal überspannten Ansichten, aber ich glaube, dass er die Welt jetzt mit anderen Augen ansieht. Vielleicht merkt er endlich, wie schön es ist, ein gemütliches Heim zu haben, wo man sich nach getaner Arbeit mal eine Stunde ausruhen darf. / Es ist vielleicht unser Glück, dass er nochmals eingezogen wurde.

Und dass von euch allen Klärchen am schlimmsten dran ist, das weißt du ja, sie hat überhaupt nichts mehr außer ihren Schihosen und einer Jacke. Und du weißt, dass ihre Mutter tot ist und sie selbst schwere Verbrennungen an den Händen hat. Frau Emmerich ist auch umgekommen, wer hätte damals, als ihr im selben Büro saßt, an sowas gedacht. / Angeblich, wenn Kläres Hände geheilt sind, fährt sie zu ihrer Cousine in den Westerwald.

Es werden jetzt die Trauerfeiern nachgeholt, ich war heute morgen in der Martinsgemeinde zur Gedächtnisfeier für Tante Emma und Onkel Georg. Herr Pfarrer Widmann sprach sehr ergreifend, es gab viele Tränen. Der Pfarrer sprach zwischendurch auch streng und sagte, dass manch einer Gefahr laufe, nach diesem kurzen Erdenrausch einer grausamen Ernüchterung gegenüberzutreten.

Dann habe ich gestern polizeilich zugeschickt bekommen, dass Tante Helen und Helga am 11. September für Großdeutschland gefallen sind, Laufnummern 4261 und 4262. / Heute wurde auch Tante Liesel benachrichtigt, dass in der durch Onkel Ernsts Auftrag von Gefangenen abgetragenen Torhalle paar Haufen Knochen von zwei Leichen gefunden wurden. Es sind nur noch zwei Menschen vermisst, es ist aber trotzdem schlecht festzustellen, ob die Knochen tatsächlich von Tante Helen und Helga sind, wir müssen es annehmen. / Gestern war ich auf dem Friedhof, habe ein Bukett hingelegt, sie sollen Nr. 2294 und 2295 liegen. Es ist halt sehr, sehr traurig, und Onkel Ernst schreibt herzzerreißend. Er fragt, ob noch jemand Fotos hat, von der Taufe, oder Fotos, auf denen Helen drauf ist, die Blume von Darmstadt-Mitte. Ich weiß noch, wie sie gestrahlt hat, als sie vor dem Pfarrer stand. Die Fotografen hätten jetzt viel zu tun mit dem Herstellen von Kopien, haben aber kein Material.

Es ist alles sehr, sehr traurig. Werde jetzt für das Begräbnis von Käta beisteuern müssen, nachdem ihr Mann, der Schuft, alles mit der Begründung auf die Verwandtschaft abwälzt, er habe kein Geld und sei außerdem seit einem Jahr von ihr geschieden.

Und noch eine Neuigkeit, ich glaube, dass dein Peterle demnächst Mutter wird. Hoffentlich legt sie ihre Jungen nicht in mein Bett, denn da geht sie gern rein. / Und der Fritz von Kressers wird bald einen Kopf kürzer gemacht, denn er geht auf alle los und will auch Herrn Kresser nicht in den Zwinger lassen, er spielt sich auf wie alle Mannsbilder, immer mit der eigenen Wichtigkeit beschäftigt, was bestimmt nicht weit von der Wahrheit ist. Wenn ich ihn nur von weitem sehe, habe ich Angst, er will mir an die Beine.

Am Wochenende war Bettine hier und hat sich mal ordentlich ausgeschlafen und ihre Freundinnen getroffen. Ich glaube ihr schon, dass es kein leichter Dienst ist auf der Berliner Straßenbahn, jetzt im kalten Winter. Es müsste doch irgendwie zu machen sein, dass man sie nach Darmstadt frei gibt, so langsam fahren auch hier wieder die Straßenbahnen. Eberstadt bis Arheilgen fährt schon, und auch Griesheim. Ich meine, es sind doch dringende Gründe, dass ich allein mit meinen kranken Beinen bin.

Bettine war gerade sechs Stunden fort, da kam Papa. Schade, dass sie einander nicht gesehen haben. Papa hat im Haus noch ein wenig nach ihr geschnuppert.

Er hat viel Arbeit, hat das Stück, wo die Gurken waren, frei gemacht, alles auf einen großen Haufen gefahren und gleich mit Korn für Grünfutter für das Frühjahr angesät. Im Garten hat er gegraben und gesät, alles, was er nur konnte. Selbst seine Eltern hat er nicht besucht, er sagt, alles verlottert, wenn er nicht daheim ist. Ich habe ihm viel geholfen, und wir haben uns entsprechend gegenseitig beschimpft, weil dieses wilde Arbeiten für keinen von uns gerade gesund ist, bei mir wegen der Beine, bei Papa wegen seines Rückens. / Aber am Montag war es herrlich, wir gingen am Abend ein Bier trinken und spielten Karten und vermissten nur euch Kinder. / Hoffentlich dürfen wir uns bald alle für immer wiedersehen. Vielleicht wärst auch du gerne wieder daheim.

Papa sagte beim Mittagessen, wenn wir den Krieg verlieren, ob ich wisse, was das bedeute. Interessehalber sagte ich nein, doch er gab mir keine Auskunft. / Ich sagte: »Wir werden auch die Zukunft noch durchbringen.« / Eine ganze Weile stierte Papa mit gerunzelter Stirn und zuckender Schläfenader in seinen Teller. Dann zeigte er mir seine Verärgerung, indem er das Essen hinunterhastete, die Nachspeise unter den Arm nahm und, ohne ein Wort gesprochen zu haben, bei der Tür hinausschoss. / Als ich heute Papa sagte, dass Rudi gefallen ist, war seine einzige Antwort: »Und unsere zwanzig Mark sind dahin.« Das wird er dir nicht geschrieben haben. / Glaube mir, es gab mir einen Stich, dass einer für einen Menschen wie Rudi nicht mehr Herz hat, das sind so die Gewohnheiten im Krieg. Aber alles Gerede ist zwecklos, es geht irgendwie weiter.

Nun ist dein Mädchen also bald ein Jahr alt, und ich habe es nicht mehr gesehen, seit es drei Wochen alt war. Das Jahr ging schnell um, es brachte viel Schlechtes, hoffentlich bringt das nächste nur Gutes. / Danke für das Foto. Was aus dem Wurm geworden ist! Hand- und Fußzeichnungen habe ich bekommen, ich werde für Weihnachten passende Fäustlinge und Strümpfe stricken, ich habe bereits den alten Badeanzug von Bettine aufgetrennt. / Es war nicht sehr klug von eurem Nachbar, seinen Schwager zu beleidigen, er hätte besser getan, ihm aus dem Weg zu gehen. / Hast du jetzt deine Kleider bekommen und das Geld?

Vorhin ging ich hinaus um Wasser für die Ziegen, der Wind blähte die Pelerine dick auf, der kalte Regen peitschte ins Gesicht, und plötzlich hätte ich jauchzen mögen. Halte mich bitte nicht für verrückt, liebe Margot, immer wenn die Elemente toben, werde ich so froh, so voll überschäumender Lebenskraft. Bis die Kanne vollgelaufen war, stand ich neben dem Brunnen und sah den jagenden Wolken nach. Nie fort müssen von Darmstadt, die Stadt wieder aufbauen, euch Kinder wieder im Haus, paar Enkel spielen im Garten. / Wir leben hier einfach weiter, stehen auf und gehen schlafen, sitzen im Keller, füttern die Hasen und stehen im Geschäft an, um zu erfahren, dass nichts mehr da ist. Und am nächsten Tag wieder von vorn, es tut nicht weh, jedenfalls weniger, als man denken würde. Und zwischendurch in all dem Schutt und Elend gibt es Lichtblicke.

Ich bin froh, dass wir wieder halbwegs normalen Briefverkehr haben und ich Antwort von dir bekomme. Die Geschichte von dem Mädchen, das an Ostern allein den Berg bestiegen hat, ist auch sehr traurig. Und dass schon die Knochen herumlagen, ich muss mich schütteln, so eine Gänsehaut kriege ich, wenn ich dran denke.

Du schreibst, dass du deinen Mann nicht liebst. Aber geheiratet hast du ihn. Und was nun? – Wenn du es selbst nicht weißt, ich weiß es auch nicht. Wo ist er denn, der Ganove? Ist er mit der Evakuierung, von der im Radio berichtet wurde, aus Memel herausgekommen? Ich kann dir jedenfalls nur meinen guten Rat geben, den du, wie ich dich kenne, nicht befolgen wirst: Lass dich mit niemandem ein. Mich befällt so eine Trostlosigkeit, wenn Ehen enden wie Straßen, die nicht fertig gebaut wurden.

Aber die Meinung, dass du jemanden brauchst, der dir sagt, was du tun sollst, war bei dir ja nie stark ausgeprägt. Schon bei der Hochzeit hast du auf meinen Rat verzichtet, sonst hätte ich dir gesagt, dass Ehen jämmerliche Glückssachen sind und dass man das Glück nicht extra herausfordern soll. / Papa und ich sind seit vierundzwanzig Jahren verheiratet, was unter diesem Gesichtspunkt ordentlich lange ist. Und ich weiß, dass du dir an uns kein Vorbild nimmst, aber es hat sich nie als notwendig erwiesen, dass wir uns trennen. Und natürlich bin auch ich nicht so dumm, mir einzubilden, dass Papa ohne Makel ist. Aber ich bin halt überhaupt kein egoistischer Mensch, das ist mein größter Fehler. Ich habe genügend draufgezahlt im Laufe der Jahre und nichts daraus gelernt. Du bist vielleicht glücklicher dran, du kannst dich besser lösen, Margot. Ich kann nie wirklich mit jemandem fertig werden. Wenn ich einmal einen Menschen akzeptiert habe, dann nehme ich ihn, auch wenn er mich enttäuscht. / Also, mach, wie du willst. So zu tun, wie du tust, verlangt auch Charakter. Da du die Gärtnerei endgültig los bist an die Flüchtlinge und der Winter kommt, hast du Zeit genug zum Nachdenken.

Von Bettine kommt immer Post, und sie verlangt das eine Mal ein Kleid und das andere Mal den Sonntagsmantel, und jetzt soll ich ihr einen Schlafanzug machen. Wo soll ich denn den Stoff hernehmen? Beim nächsten Mal, wenn sie hier ist, soll sie ihre alte Trainingshose mitnehmen und drin schlafen, oder sie soll Papas alten Schlafanzug nehmen, der wird hoffentlich gut genug sein für jemanden, der in einer Gemeinschaftsbaracke wohnt. Sie glaubt wohl, weil die Adresse Rubensstraße ist, dass eine Trainingshose nicht genügt.

Hol der Teufel den ganzen Schwindel, ich hab jetzt bald genug von immer nur Ärger und Verdruss mit den Blödheiten von euch allen! Es vergällt einem das ganze Leben! Schaff mal wieder mein Enkelkind heran, damit ich eine Freude habe. Nachdem ich annehme, dass es schon die ersten Wörter redet, soll es auch Oma sagen.

In unserem Haus wird sonst nichts von Weihnachten zu sehen sein, mein Gang an den Feiertagen wird auf den finsteren Friedhof führen. Überall brennen nur Notlichter statt Weihnachten.

Margot, ich bin sehr müde, ich lege mich jetzt eine Stunde nieder. Du fehlst mir.

Soeben schrieb Papa, er kommt nach Greudenz oder Graudenz, ich kann es nicht entziffern, ist in Pommern. Er hat großen Hunger, seit seinem Urlaub im November hat er noch keine Wäsche gewechselt, nasse zerrissene Strümpfe. Er ist noch immer sehr weinerlich und glaubt, ich nehme ihn nicht zurück, wenn er nach dem Krieg wiederkommt. Aber da kennt er mich schlecht, ich habe ihm geschrieben, wenn er nicht flucht, kann er jederzeit kommen und dableiben.

Er musste seine Stiefel abgeben und hat Schnürschuhe bekommen, zum Anfang des Winters. Seine guten Stiefel. Hätte er das früher gewusst, hätte er sich nicht so große Mühe gemacht bei der Pflege. Er kocht vor Wut und sagt, in den Kasernen und bei der SA laufen sie mit den besten Stiefeln herum. Ihn wundert auch, dass die Russenweiber, die bei ihnen arbeiten, die Stiefel behalten durften, denen könnte man sie grad so gut abnehmen, sagt er. Und in Berlin in jedem Ministerium gebe es Stiefel für eine ganze Division, ganz vorne könne ein gutes Paar Stiefel den Unterschied machen, du weißt ja, wie Papa ist, wenn er sich aufregt.

Von Bettine höre ich, dass sie schon wieder mit festen Füßen im Hochbetrieb steht und viel Dienst haben wird an den Feiertagen. Sie sollte immer dran denken, dass sich Tante Resel auf der verfluchten Straßenbahn als Schaffnerin ihr Leiden holte, weil sie trotz Fieber an den Weihnachtstagen in den Dienst ist. / Auch Onkel Flor sagt, Bettine solle keinesfalls am Abend allein ausgehen und auch sacht sich mit niemandem einlassen. Er hat gehört, dass in Wien vier Mädchen von der Straßenbahn umgebracht worden sind. Hast du in deinem Mondsee etwas davon gehört? Wenn nein, behalte es für dich und mache dort kein Aufsehen damit.

Gestern haben wir unsere fünfzig Gramm Zuteilung Bohnenkaffee bekommen, es ist für den großen Angriff vom 11. September. Fünfzig Gramm Bohnenkaffee, damit alle, die noch leben, in ihrem Eifer nicht erlahmen. Ich hätte lieber das Glockenspiel zurück und Helen und Helga und Tante Emma und Onkel Georg.

Ich glaube dir, dass dich manchmal die Sehnsucht nach zu Hause packt, man lernt eben erst das liebe Elternhaus in der Ferne schätzen. Hoffentlich klappt es, dass du uns bald besuchen kommst, ich schlage beide Daumen ein. Aber erwarte dir keine schöne Bahnfahrt, es sollte mich nicht wundern, wenn es jetzt auf der Bahn alles andere als angenehm ist. Vielleicht, wenn du kommst, kannst du für immer bleiben, ich würde es mir wünschen, aber du weißt, ich sehe auch deine Grenzen. Solltest du nicht oder verspätet eintreffen, ich gehe am Beschertag um vier Uhr zur Kirche, das heißt, Gemeindehaus Liebfrauenstraße, anschließend zu Tante Liesel. Ich kehre erst am zweiten Feiertag gegen Abend nach Hause zurück, ich möchte nicht diese stillen Nächte allein sein. Den Hasen, den ich schlachten wollte, lasse ich, bis du kommst, damit du dich mal satt essen kannst.

Am Mittwoch war ich beim Thier und ließ mir von Liselotte Schaffnit Wasserwellen machen. Viereinhalb Stunden saß ich, jedes Mal, wenn wir gerade angefangen hatten, gab es Alarm, sowas ist manches Mal ein richtiges Verhängnis. Lieselotte sagte, dass sie in Griesheim einen Buben haben.