Seit es mit Margot

Seit es mit Margot einen Menschen gab, mit dem ich mich aussprechen konnte und der mich ermunterte, zu meinen Ansichten zu stehen, hatte ich nicht mehr das Gefühl, Papa unterlegen zu sein. Als ich zu Hause berichtete, dass ich wieder hinaus müsse, behauptete er, dass er seine Kinder über alles liebe, und er wünsche mir viel Glück. Im ersten Moment fehlte mir der Mut, aber ich bereitete mich innerlich darauf vor, ihm zu sagen, dass er nur sich selbst liebe. Leider ergab sich keine Gelegenheit mehr, es anzubringen. / Und wie traurig stimmte mich der Blick auf die alte Nähmaschine, auf der Mama unsere Wäsche genäht hatte. Im Geist sah ich noch ihre Finger dort herumhantieren. Und so, in tiefer Trauer, verließ ich in der Früh die Wohnung, um nach Hainburg zu Kurt Ritler zu fahren. Die Sache mit den Briefen an Nanni ließ mir keine Ruhe.

Es schneite so heftig, dass keine Straßenbahn verkehrte. Ich musste mit dem Gepäck zu Fuß bis nach Schönbrunn, von wo ich mit der Stadtbahn zum Hauptzollamt fuhr. Dort stieg ich um in die Pressburger Bahn. / Bis zum Zentralfriedhof schneite und stöberte es, dann wurde der Schneefall weniger. / In Schwechat leerte sich mein Abteil. Nur rechts in der Ecke beschäftigte sich ein Herr mit Rätselauflösen. Beim Aussteigen in Kroatisch Haslau ließ er das Rätsel zurück, die Auflösung, von unten nach oben gelesen, ergab den Satz: Mit Siegeszuversicht ins neue Jahr.

Weil ich seit Tagen zu wenig geschlafen hatte, waren meine Wahrnehmungen diffus, mein Körper matt, alles heruntergedämmt. Das Gefühl wäre nicht unangenehm gewesen, wenn ich mich ihm hätte überlassen können. Doch daran hinderte mich die Angst vor dem Einschlafen.

Der Zug fuhr durch Carnuntum, und weil ich das Talent besitze, überall durch die Hülle hindurch das Totengerippe zu sehen, nahm ich unter den Äckern die Reste der ehemaligen Großstadt wahr. Und ich weiß nicht, ob es vom Wesentlichen ablenkt oder zum Wesentlichen hinführt: aber seltsam ist es, dass hier, wo sich jetzt Äcker erstrecken, römische Kaiser gelebt haben und dass römische Kaiser hier ausgerufen wurden und dass niemand mehr weiß, ob Carnuntum zwanzig- oder hunderttausend Einwohner hatte, alles ist zugedeckt, nur ein paar Steine liegen herum, und kaum ist es vorstellbar, dass Kaiser Marc Aurel hier an seinen Selbstbeschwichtigungen geschrieben hat inmitten des Irrsinns der von ihm geführten Kriege. / Für den Stein, den man in die Höhe wirft, ist es kein Unglück hinunterzufallen, so wenig es ein Unglück für ihn war, emporgeworfen zu werden. (IX, 17)

In Hainburg setzte ich meine Reise durch die einander Aug in Aug gegenüberstehenden Jahrhunderte fort. Vom Bahnhof nebst der Donau, die wie stillzustehen schien, stieg ich die Blutgasse hinauf zur Stadt und passierte beim Fischertor die in die Stadtmauer eingelassene, an das Gemetzel von 1683 erinnernde Gedenktafel. Fast die gesamte Bevölkerung der Stadt war von den Türken niedergemacht worden. Und das Leben ging weiter. Städte versanken, wurden wieder aufgebaut, Menschen wurden ermordet, einmal hier, einmal dort, einmal auf dieser Seite, dann auf der andern, caramba.

Angeblich hielten die Nibelungen in Hainburg ihre letzte Rast, bevor sie ins Reich des Hunnenkönigs Etzel ritten, um dort durch Verblendung, Hochmut und falschen Stolz allesamt zugrunde zu gehen.

Es fielen vereinzelte Schneeflocken, ich setzte mir meine Mütze auf. Die nicht mehr sehr tief hängenden Wolken schimmerten hell, manchmal etwas Licht in den Ritzen. Ich hörte hinter mir einen LKW schalten und ließ ihn vorbei. Nachher ging ich wieder in der Mitte der Straße.

Bei der Jägerkaserne angekommen, war ich müde, abgespannt und unwirsch. Der Wachposten hörte sich mein Anliegen an, telefonierte und ließ mich nach einiger Zeit wissen, dass der Soldat Kurt Ritler in die Stadt gegangen sei und gleich zurückkommen müsse. Also wartete ich. Und während ich wartete, bereitete ich mich innerlich auf die Begegnung vor. Im weiterhin leicht fallenden Schnee ging ich vor dem depressiven Kasernenbau auf und ab und zertrat mit meinen Stiefeln die Eispfützen, denn das klirrende, knirschende Geräusch des zerspringenden Eises machte das Warten leichter. Ganz links ließ ein hoher, das Areal gegen die Stadt abriegelnder Eisenzaun den Blick frei auf Teile der Wohnbaracken.

Mehrere Soldaten kamen zum Tor der Kaserne. Ich musterte sie alle, denn Kurts Gesicht war mir vertraut von Fotografien, die er seinen Briefen beigelegt hatte. Deshalb erkannte ich ihn, als er kam. Er bewegte sich älter, als ich’s erwartet hatte, schlenderte nicht, kam in normalem Tempo und zielgerichtet daher, die Hände in den zu hoch sitzenden Taschen der Jacke, die zu klein geraten war. Engpässe, wohin man schaute. / Wie auch Nanni schien er ein kleines Kraftpaket zu sein. Aber im Gegensatz zu ihr wirkte er auf den ersten Blick nicht neugierig, sondern verstockt. / Ich fragte ihn, ob er Kurt Ritler sei, was er bejahte. Aufgrund der Fotos hätte ich ihn etwas kleiner erwartet, jetzt hatte ich einen kräftigen Jungen vor mir, recht hübsch. Und er fragte selbstbewusst: »Was gibt’s?« / Ich erklärte ihm, woher ich kam und in welcher Beziehung ich zu den Behörden in Mondsee stand, das Ergebnis war eine eher verworrene Darstellung. Und als ich Kurt die Briefe überreichte, wich er ein wenig zurück, verunsichert und voller Scham, er wurde rot, so peinlich war es ihm, seine Liebesbriefe aus den Händen eines fremden Mannes zu erhalten. Er stopfte die Briefe sofort in die rechte Seitentasche seiner Uniformjacke.

In diesem Moment spürte ich alle Enttäuschungen der vergangenen Tage: das Bilanzziehen bei den Eltern, Wien als untergehende Stadt, das Verschwinden der mir vertrauten Welt, der Krieg, in dem ich mich erschießen lassen sollte für nichts und wieder nichts. Während der Fahrt nach Hainburg hatte ich mir vorgestellt, dass das Zusammentreffen mit Kurt etwas Positives in mein Leben bringen werde. Jetzt standen wir uns befangen gegenüber, und alles war wie mit Steinen beschwert.

Ich log: »Meines Wissens hat die Briefe nur der Postenkommandant gelesen, und der ist tot, man hat ihn vor einer Woche erschossen.« / Das interessierte den Jungen, er schnappte einmal kurz nach Luft, erleichtert, und sein Blick hellte sich auf. / »Im Zuge einer missglückten Festnahme«, sagte ich. / »Was sich dort alles tut …«, murmelte er, und nachdem er den unabgeschlossenen Satz mit einem Kopfschütteln noch weiter geöffnet hatte, dachten wir vermutlich beide an Nanni. Er vielleicht an das Eingehaktgehen auf der Mariahilferstraße, ich an die Heftigkeit, mit der sie am Ufer des Mondsees den Brief ihrer Mutter zerknüllt hatte.

Ich sagte, dass ich Nanni in Schwarzindien mehrfach begegnet sei und dass sie mich beeindruckt habe. / Kurts Gesicht war jetzt wieder wie eingefroren, ich hatte das Gefühl, nicht zu ihm vorzudringen. / »Was Nanni zugestoßen ist, tut mir sehr leid«, sagte ich: »Sie war ein sympathisches Mädchen. Sie hat mir einmal geholfen, als ich einen nervösen Anfall hatte.« Ich senkte den Kopf und starrte den zertretenen Schnee zu meinen Füßen an. Dann, nach einer kurzen Pause: »Du hast sie besser gekannt, aber ich glaube, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht aufzuhalten.« / Er schaute mich nicht an, nagte an seinen Lippen, ich sah den Himmel hinter seinem Kopf, aus dem Schneeflocken fielen. Weiter unten in der Stadt ragten aus der knochenbleichen Szenerie die qualmenden Schornsteine einer Fabrik hervor. / Ich sagte: »Eine meiner drei Schwestern ist gestorben, als ich ungefähr in deinem Alter war. Ich stellte mir dann immer vor, sie ist auf Wanderschaft, grad im Winter.« / Kurt schaute weiter in die Landschaft hinaus, sein rechter Daumen war in die offene Tasche eingehakt, in der die Briefe steckten, seine Beklommenheit war deutlich spürbar und wurde durch meine Beklommenheit noch verstärkt. / Dann sagte er, weg von mir: »Ich stelle mir vor, dass Nanni schläft.« / Wir schwiegen. Kurts Atem war in der winterlichen Luft sichtbar. Und endlich hob er den Kopf und schien mich wahrzunehmen und mit mir zu reden. / »Nanni hat immer viel geschlafen«, sagte er: »Wenn wir zum Schwimmen gegangen sind, haben wir uns noch fünf Minuten gegenseitig angeschaut, dann ist sie eingeschlafen. Und wenn ich sie wecken wollte, musste ich mehrmals ihren Namen rufen, sie hat so tief und fest schlafen können.« Er schloss kurz die Augen. »Einmal habe ich ganz laut Nanni! gesagt, und da hat sie die Augen aufgemacht und mich angeschaut, und ich habe sie gefragt: Bist du jetzt ein wenig eingeschlafen? Und sie hat erstaunt gesagt: Nein, ich habe ganz bestimmt nicht geschlafen. Und dann hat sie überrascht den Kopf geschüttelt.« / Er war jetzt gelöster als am Anfang, und ich meinte, ein verstecktes Lächeln in seinem Gesicht zu sehen, gleichzeitig lief ihm eine Träne die Wange hinunter, er wischte sie mit dem Handrücken weg. / »Das kommt von der Kälte«, sagte er. »Vom Schnee.« Er schüttelte den Kopf, als verblüffe es ihn selbst. Und dann gab er sich wieder ein gleichgültiges Aussehen. Und wir schwiegen beide, mir war, als würden wir beide darauf warten, dass der andere etwas sagte, ich spürte, dass die Begegnung an ihr Ende kam.

»Wie geht’s weiter mit dir?«, fragte ich. / »Wir werden übermorgen abgestellt. Wohin wir kommen, wissen wir nicht, es wird wohl nach vorne gehen.« / Er schien der Abstellung mit Gleichgültigkeit entgegenzublicken, aber vermutlich war es nur gespielter Mut. Ich selber war sehr betroffen, und ich glaube, meine Stimme hörte sich zittrig an, als ich sagte: »Das einzige, was für dich zählen kann, ist, dass du überlebst.« / Er horchte meinen Worten hinterher und sagte, sein Vater habe ihm empfohlen, die Zivilkleider immer bei sich zu tragen und die Uniform notfalls wegzuwerfen. Aber so etwas mache er nicht. Er lasse niemanden mehr im Stich. / Er wirkte jetzt wieder, wie ganz zu Beginn, verstockt, aber man sah auch das Unbeschützte dahinter. / »Dass der Krieg verlorengeht, liegt förmlich in der Luft«, sagte ich. / Er zuckte die Achseln: »Unter einem fremden Regime will ich ohnehin nicht leben.« Und er zuckte nochmals die Achseln, und sein Blick besagte dasselbe.

Ohne ein weiteres Gespräch verabschiedeten wir uns. Kurt ging über die verschneite Straße hinüber zum großen Tor, unsicheren Schritts, durch ein verworrenes Leben. Der Packen Briefe beulte die Seitentasche seiner Jacke. Und dann setzte er mit einer geschickten Flanke über den Schranken beim Wachhaus.

Ich war niedergeschlagen und wollte so rasch wie möglich zurück nach Mondsee. Bei der Haltestelle Ungartor, die näher war als der Bahnhof, wurde mir von einem Bediensteten gesagt, dass aufgrund einer Beschädigung des Gleises im Bereich der Wiener Stadtgrenze der Zugverkehr für mindestens zwei Stunden stehe. Also verließ ich Hainburg zu Fuß. Ich wollte der in mir aufsteigenden Bitterkeit durch einen Spaziergang Herr werden. Vom Kirchturm schlug es Mittag. Ich wandte mich nach Osten und folgte der Straße neben den Gleisen Richtung Wolfsthal, der nächsten Station.

Flüchtlinge zogen ihr Hab und Gut auf Leiterwagen durch die Straßen. Verbeultes Kochgeschirr baumelte an Schnüren, die an den Holmen der Wagen festgebunden waren. Beim Ungartor staute es sich, den Gäulen dampfte schneeweiß der Atem aus den Mäulern, ein Gaul nagte am Straßenrand an einer Zaunlatte. / In Frankreich und als der Dreck im Osten losgegangen war, hatte es noch Verkehrsregelungsbataillone gegeben. Jetzt kam mir das vor wie ein Traum. Und wäre hier doch einer von einem Verkehrsregelungsbataillon gestanden, wäre ich nicht weniger überrascht gewesen, als hätte der Dichter Dante mir persönlich den Weg in die Unterwelt gewiesen.

Eine Weile folgte ich einer geraden Straße, die über flaches, weites Feld ging, zwischen von Eis überkrusteten Äckern. Der Wind war schneidend. Manchmal spuckte das Grau ein Bauernhaus aus oder eine Krähe, die mir im stiebenden, fliegenden Schnee nahe kam. Und weil mir diese Wanderung eine vorübergehende Befreiung von der Anspannung der letzten Tage verschaffte, durchquerte ich Wolfsthal und ging am Ortsende durch einen dunklen Wald. Wo die Straße wieder aus dem Wald trat, stieß ich auf eine Baustelle, dort errichtete ein Dutzend verdreckter Männer ein Fallhindernis, mit dem durch Losschlagen der Stützen die Straße nach Pressburg versperrt werden konnte. Ich ging etwas zur Seite, von wo aus ich den besseren Blick hatte. Zu einem alten Mann vom Volkssturm in halbwegs feldtauglicher Alltagskleidung und mit der vorgeschriebenen schwarz-roten Binde am Arm sagte ich: »Kann mir jemand verraten, wer sich das ausgedacht hat? Das ist doch total hirnrissig!« / Während ich das sagte, flogen zwei Messerschmitt 109 über den Abschnitt, und der Mann, den ich angesprochen hatte, rief: »Ich kann Sie nicht verstehen!«

Ich wanderte weiter, und die Landschaft öffnete sich wieder, alles öffnete sich. Ich ging zwischen Feldern, stolperte über Äcker, ich wollte nach Berg, aber der Weg war länger, als ich gedacht hatte, so war es in letzter Zeit immer. In der eisigen Stille des Winters, die manchmal gestört wurde von Axt- oder Hammerschlägen, sah ich weitere Bauarbeiten für die Schutzstellung, weitere sichtbare Symptome des Irrsinns. Für jeden, der in Russland gekämpft hatte, musste klar sein, dass eine solche Verteidigungsstellung eine in der Vorwärtsbewegung befindliche Armee, die den Dnjepr und die Karpaten überwunden hatte, nicht länger als ein paar Minuten aufhalten konnte. Aber hier hackten und schaufelten Tausende, monoton, im Regen, im Schnee, die Gräben liefen mit Wasser voll und stürzten ein, und die Tausenden schaufelten weiter, bis sie umfielen. Diese Pissgruben waren Teil der moralischen Konkursmasse. Und wenn der Wind einen weiteren feingesponnenen Vorhang aus Schnee heranwarf, war es mir, als müsse das ganze Wahngebilde sich im nächsten Moment auflösen.

Je näher ich der Ortschaft Berg kam, desto deutlicher nahm ich die aufgerissene, aufgewühlte Erde wahr, desto mehr Höcker aus Beton und Stacheldrahthindernisse tauchten auf. Aus einiger Entfernung sah ich, wie ein Zwangsarbeiter am Rand eines in Bau befindlichen Panzergrabens von einem Wachmann mit dem Stock geschlagen wurde. Der Zwangsarbeiter fiel zu Boden und war für mich nicht mehr zu sehen, aber ich sah den Wachmann und den immer wieder in die Höhe gehenden und dann niedersausenden Stock. Kein Laut drang herüber, kein Schreien und kein Stöhnen, über allem lastete eine vereiste, merkwürdige Stille, es war ein kalter, trüber Tag, in dem alles verschwamm. / Und der Arm mit dem Stock ging auf und ab wie von einer Schnur gezogen. Wer hielt diese Schnur? Ich? Mag sein. / Irgendwann richtete sich der Wachmann auf und reckte das Kreuz, als habe er eine Heldentat vollbracht, eine Zeitlang blieb er mit durchgestrecktem Kreuz auf dem Erdwall stehen, dann hob er das Kinn mit einer seltsam stoßenden Bewegung, wandte sich ab und ging davon. Zwei andere Zwangsarbeiter näherten sich und fassten den Mann, der geschlagen worden war, unter den Achseln, aber der Geschlagene ließ sich trotz mehrmaligen Bemühens nicht wieder auf die Beine stellen. Also legten die beiden ihn wieder hin und entfernten sich ebenfalls. / Ich beobachtete die Szenerie in tatenlosem Entsetzen, stand da und schaute zu, ging dann näher heran, es gab keinerlei Sperren. Und je näher ich der Baustelle kam, desto tiefer wurde der Boden, und jetzt verstand ich, warum die Zwangsarbeiter gingen wie Besoffene, auch ich blieb mit den Stiefeln beinahe im Dreck stecken.

Mir am nächsten arbeitete ein Mann in abgerissener Kleidung, ein namenloser Sterblicher, kotverschmiert, die Hose sah aus, als würde sie von alleine stehen, wenn der Mann sie auszöge. Der Grund, warum mein Blick an ihm hängenblieb, war ein buntes Halstuch, orange und hellblau mit ein wenig Grün, leuchtende Farben in all dem schmutzigen Grau. Als der Mann meinen Blick bemerkte, schaute er einige Sekunden zurück mit bohrenden Augen und voller Vorwurf, dabei hielt er den Kopf trotzig hoch, als sei ihm der von dem Halstuch umschlungene Nacken erstarrt. / Ein Pfiff durchdrang die Luft, und der Mann setzte seine Arbeit fort, schaufelte die schwere, kalte Erde zur Seite, die vom Grund des von mir nicht einsehbaren Grabens heraufgeworfen wurde. Ich bekam nochmals einen kurzen Seitenblick, mit verstecktem Hass. Dann drehte sich auch einer der Wachmänner zu mir her und bedeutete mir wortlos, mich zu entfernen. Das tat ich, als wolle ich keinesfalls stören, ging weg in einer kurzen inneren Totenstille, das schneidende Geräusch der Schaufeln und das dumpfe Schlagen der Hacken hinter mir umso deutlicher.

Und vor mir war niemand, nichts, nur die weiterhin heruntertaumelnden Schneeflocken, und der Boden bewegte sich unter mir, und ich wusste, dass ich tatsächlich und unwiderruflich in diesem Krieg bleiben würde, egal, wann der Krieg zu Ende ging und was aus mir noch wurde, ich würde für immer in diesem Krieg bleiben als Teil von ihm. Es war schwer, es sich einzugestehen.

Ja, schade, dass das, was hinter mir liegt, nicht geändert werden kann. Was ich in den vergangenen sechs Jahren begriffen habe, ist, dass die Weisheit hinter mir her geht und selten voraus. Am Abend kommt sie und sitzt mit am Tisch als unnützer Esser.

Während des Vormarsches in der Ukraine war mir nicht entgangen, dass im rückwärtigen Heeresgebiet Erschießungen stattfanden. Aber ich war so sehr mit meinem eigenen Los beschäftigt gewesen, dass ich mir gedacht hatte: Was gehen mich die Juden an? / Einmal besuchte mich Fritz Zimmermann, er erzählte mir manches Detail, wie es zuging in Wjasma Schitomir Winniza, dabei saßen wir in meinem LKW, und draußen rauschte ein furchtbarer Sommerregen hernieder, das gab den Berichten von Fritz Zimmermann etwas Unwirkliches. / Heute kann ich den Sommerregen und die Erzählungen trennen, sie gehören nicht zusammen.

Der Vorgesetzte von Fritz Zimmermann erschoss an Ort und Stelle einen jüdischen Friseur, nachdem dieser ihn beim Rasieren geschnitten hatte.

Immer wieder hatte ich von Erschießungsaktionen gehört. Die Familie des Bäckers, bei dem wir während einiger Ruhetage Brot gekauft hatten, sei vor die Stadt geführt, insgesamt vier Personen, und mit Genickschuss getötet worden. Alle paar Wochen hörte ich von solchen Dingen, und wenn ich damit beschäftigt war, meinen LKW zu reparieren, gingen mir Gedanken durch den Kopf, ich stellte mir vor, was wäre, wenn ich zu einer Erschießungsaktion eingeteilt würde. Was ich tun würde? Und wie das sein würde? Und obwohl diese Gedankenspiele nie sehr konkret wurden, machte ich mich mit der Situation vertraut. / Nie hätte ich gedacht, dass ich je über solche Dinge nachdenken müsste. Denn über so etwas nachdenken heißt, sich damit vertraut machen, das heißt, den Begriff von Normalität verändern, langsam in eine andere Normalität hinüberwechseln.

Das dachte ich, während die Donau floss und die Wolken zogen und die Menschen starben und während der Zug aus Engerau heranpfiff.

Bei meiner Rückkehr nach Wien, war es schon dunkel, und ich sah in Simmering große Brände. Die Anlagen von Simmering-Graz-Pauker waren getroffen worden und der fabrikeigene Kohlelagerplatz auf der Simmeringer Hauptstraße brannte. In Simmering viele Tote. Bei zusteigenden Fahrgästen erkundigte ich mich, ein Schwall rußiger Luft schlug in den Waggon herein, Asche und Staub lagen schwer auf der Lunge. Es hieß, auch das Gräberfeld auf dem Zentralfriedhof sei durch ein Flächenbombardement umgeackert worden, jetzt werde alles bombardiert, niemand sei mehr sicher, auch nicht die Toten.

Am Bahnhof Hauptzollamt gab ich meinen Rucksack ab. Vor dem Bahnhof stand eine Frau im Alter meiner Mutter und fragte, ob ich ein Zimmer suche. Ich sagte ja. Sie meinte, ich könne zu ihr kommen. Auf meine Frage, was es koste und wie weit es sei, antwortete sie, eineinhalb Reichsmark, ganz in der Nähe. Also ging ich mit der Frau, unter dem verkohlten Himmel. Während wir in die Marxergasse einbogen, sagte ich, dass ich um halb sechs aufstehen müsse. Sie versprach, sie werde mich wecken.

Ich ging dann essen und schaute mich ein wenig in diesem Teil der Stadt um. In einem Wirtshaus aß ich ein Pferdegulasch, wenig Einlage, eher sauer als scharf, ich vermutete, dass das Gulasch nicht mit Paprika gefärbt war, sondern mit dem Ziegelstaub vom letzten Angriff. / Dann ging ich durch die ärmlichen und schäbigen Straßen und begegnete all diesen ärmlichen und schäbigen Dingen, und ich fühlte mich bedroht vom Steinfall der instabilen Mauern, und mein einziger Wunsch war es, so rasch wie möglich nach Mondsee zurückzukehren, zu Margot.

Kurz nach zehn rollte ich mich in dem mir zur Verfügung gestellten Zimmer in die Decke ein. Es war das Zimmer des Sohnes der Frau. Im kleinen Bücherregal lag ein lederner Fußball, dem die Luft ausgegangen war. Über dem Bett hing neben der Reichskriegsflagge ein Wimpel des Simmeringer AC. / Ich hatte eine ziemlich unruhige Nacht, wachte einige Male von Träumen und anderen Störungen auf, die Tür klackte im Wind.

In der Früh weckte mich die Frau nicht, obwohl sie es versprochen hatte. Aber ich wurde von allein wach und zog mich an. Als ich fertig war, stellte ich fest, dass die Wohnungstür abgesperrt war. Also klopfte ich an die Schlafzimmertür der Frau und fragte, ob ich hinaus dürfe. / Da sagte die Frau: »Es ist höchste Zeit für Sie, aufzustehen!« / Ich musste schmunzeln, denn das war angenehm weit weg vom Krieg. / Ich erklärte der Frau, dass ich ja schon aufgestanden und auch schon angezogen sei, und ob sie mich bitte aus der Wohnung lasse. / Da kam sie heraus in einem bodenlangen, roten Morgenmantel und sperrte mir die Tür auf.

Auf dem Weg zum Bahnhof war alles dunkel und leer in den zertrümmerten Straßen. Nur eine Frau mit Krankenschwesternhaube, die gelbe Armbinde mit dem Stern am Arm, lief weinend an mir vorbei, verängstigt und verzweifelt, ihre Mantelschöße flatterten hilflos, wie ein angeschossener Vogel.