Wir warteten auf das Milchauto

Wir warteten auf das Milchauto, es war sehr kalt geworden, anziehen musste man sich wie ein Nordpolfahrer. Margot schlotterte in der schon recht abgeschabten blauen Steppjacke. Lilo schlief in ihrem Arm. Margot legte den anderen Arm um meinen Hals, sie schaute mich an, sie war herzlich, ein wunderbarer, warmer Mensch. Ich bedankte mich für jede gemeinsame Minute. Und sie richtete mir den Kragen. Nie bin ich mehr am Leben gehangen als in diesem Moment.

Das Milchauto kam, und nach einem heftigen Kuss und einigen beschwörenden »Viel Glück!« und »Bis bald!« stieg ich ein, um meine vor einem Jahr unterbrochene Kriegsfahrt fortzusetzen. / Margot grüßte mit zwei Fingern, die sie von der Stirn wegführte. Ich stellte meinen Rucksack neben mich auf die breite Sitzbank – sowohl der Rucksack, als auch die Sitzbank hatten Brandlöcher, der Rucksack vom Krieg, die Sitzbank von Zigaretten. An solchen Kleinigkeiten erkennt man das Leben. / Margot und ich winkten einander, solange die kleinste Möglichkeit bestand, der andere könnte es vielleicht noch sehen.

Das Milchauto fuhr durch Schwarzindien. Auch im ehemaligen Lager wohnten jetzt Flüchtlinge, Hinausgeworfene, Verratene, Verbrecher, die sich verdrückt hatten, Geschundene, arme Teufel. / Bei einem Haus in St. Lorenz hatte jemand vergessen, vorschriftsmäßig zu verdunkeln, ein Fenster im Erdgeschoss war hell erleuchtet, und ich sah das Gesicht eines Kindes hinter der Scheibe. Einen Moment lang war es mir, als könne ich hineingehen und dort wohnen bis zum Ende des Krieges in der Gewissheit, nicht gefunden zu werden. Ich dachte mit Schaudern an diese einfache Möglichkeit, dann war das Milchauto am Haus vorbei, und ich fuhr weiter in Richtung Front, obwohl mir der Krieg zuwider war und obwohl ich wusste, dass ich einer unrechten Sache dienen würde. / Zum Fahrer des Milchautos, der mich nach meinem Bestimmungsort fragte, sagte ich: »Nach vorne, Insterburg.« / »Also Ostpreußen, wo die Hölle offen ist.« / »Ja, seltsam, man nimmt geduldig an einem Ereignis teil, das einen töten will, so ein Krieg ist etwas vom Erstaunlichsten auf der Welt.«

Bis zur Front waren es vier Tage Zugfahrt, vielleicht mehr, Zeit zum Schreiben, immerhin, Zeit genug, um etwas abzuschließen.

Der Milchfahrer und ich redeten jetzt wieder Belanglosigkeiten, über das Wetter und wie die Bäume zornig ihre Arme schüttelten und den Schnee herunterwarfen, wenn wir vorbeisausten. Auf den Dächern der Bauernhäuser blieb der Schnee liegen, weil fast kein Vieh mehr in den Ställen war, der Fahrer machte mich darauf aufmerksam. Er sagte, er sei froh, dass er im Moment nicht so schwere Kannen zu stemmen habe, ihn zwicke das Kreuz. / Die Drachenwand zeichnete sich deutlich ab, ein über die klirrenden Wälder gereckter Schädel, der mit leeren Augen auf die Landschaft herabstierte. Es dämmerte, und über das dünne Eis des an seinen Rändern zugefrorenen Sees schienen die ersten Lichter zu huschen. Wenn es so kalt blieb, würde der See auch in diesem Winter zufrieren, zum dritten Mal in wenigen Jahren, teilhabend an einer kalten Epoche. / Die Straße nach St. Gilgen lag vor uns, kein Mond, aber der Himmel hellte sich auf. Bei der Fahrt durch Plomberg schaute ich ein letztes Mal hinauf zur Drachenwand, wo die Leiche von Nanni Schaller monatelang auf geduldigem Stein gelegen war. Die Sonne würde in wenigen Minuten aufgehen, die Schulter der Drachenwand schien rötlich angehaucht. Und ich grüßte Nanni mit einer unauffälligen Fingerbewegung und wünschte ihr alles Gute für ihre Zeit bei den Geistern. / Dann verschwand die Wand aus meinem Blick, und ich schloss die Augen im Wissen, dass wie vom Krieg auch von Mondsee etwas in mir bleiben wird, etwas, mit dem ich nicht fertig werde.