Als ich Atem holte , durchzuckte ein quälender Schmerz meine Brust.
Ich hörte mich selbst stöhnen und öffnete die Augen.
Ich lag in einem Krankenhausbett.
Auf einem Tisch neben mir piepte in regelmäßigen Abständen ein Überwachungsmonitor. An meinem dick bandagierten linken Arm war eine Infusionsnadel befestigt, durch die eine Flüssigkeit aus einem durchsichtigen Beutel in meinen Körper rann. Mein anderer Arm und die Beine waren mit Mull verbunden. Noch verstörender war die dunkle Plastiktrennwand, die mich und das Bett komplett umschloss. Dahinter konnte ich nur Umrisse und vage Schemen ausmachen. Die Stimmen, die ich hörte, klangen entfernt und gedämpft.
Ich wusste nicht, ob es an den Schmerzmitteln oder meinen Verletzungen lag, aber es kostete mich große Mühe, mich an meinen letzten wachen Moment zu erinnern.
Ich hatte auf dem schmutzigen Kellerboden des viktorianischen Hauses in Denver gelegen. Es hatte eine Explosion gegeben. Ich hatte aufstehen wollen, war aber von den Schmerzen in meiner Brust wie gelähmt gewesen.
Also war ich in der Dunkelheit liegen geblieben und hatte mich gewundert, wohin mein Team verschwunden war.
Ich hatte mich gefragt, ob ich sterben würde.
Da mein Zeitgefühl getrübt gewesen war, wusste ich nicht, wie viel Zeit vergangen war, als endlich schwere Schritte die Kellertreppe herabdonnerten. Ein Trupp Mediziner in Schutzanzügen hatte mich umstellt. Als sie bemerkt hatten, wie sehr ich litt, hatte einer von ihnen mir gnädigerweise irgendeine wunderschöne Droge verabreicht.
Ich war selig auf einem finsteren Meer davongesegelt.
Bis ich an diesem Ort wieder zu mir gekommen war.
»Hallo, Logan. Wie fühlen Sie sich?«
Die auffällig tiefe Frauenstimme kam aus einem kleinen Lautsprecher auf dem Nachtkästchen.
»Atmen tut weh«, entgegnete ich. »Extrem.«
»Wo würden Sie Ihre Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn verorten?«
»Sieben. Vielleicht acht.«
»Zu Ihrer Rechten befindet sich ein Stab mit einem dunkel roten Knopf am oberen Ende. Wenn Sie ein paarmal darauf drücken, wird Ihnen Morphium injiziert.«
Ich streckte die Hand danach aus, hielt dann aber inne. Ich hatte schon einmal Morphium bekommen. Das war nach einer fehlgeschlagenen Razzia im Inland Empire gewesen, bei der mein erster Partner umgekommen war und ich einen Bauchschuss abbekommen hatte. Ich liebte Morphium. Aber es entspannte mich so sehr, dass ich selbst den einfachsten Gesprächen kaum folgen konnte. Und in diesem Moment benötigte ich ein paar Antworten.
»Wo bin ich?«, fragte ich.
»Im Denver Health Medical Center. Mein Name ist Dr. Singh, ich bin Intensivmedizinerin.«
Ich machte einen weiteren schmerzhaften Atemzug.
»Bin ich auf der Intensivstation?«
»Ja.«
Wow. Angesichts der neuen Viren und der Mutationen bekannter Krankheiten, die ständig den Erdball umkreisten, waren Intensivbetten ein äußerst rares Gut. Entweder hatte die GPA Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mir eins zu besorgen, oder es ging mir richtig schlecht.
»Sterbe ich?«
»Nein, Ihre Vitalwerte sehen mittlerweile wieder gut aus.«
»Wozu die Plastikwand?«
»Wissen Sie noch, was gestern Nacht passiert ist?«
»Ich habe an einer Razzia teilgenommen. Etwas ist explodiert.«
»In dem Keller ist ein kontaminierter Sprengkörper detoniert. Es kann sein, dass Sie etwas abbekommen haben.«
Eine lähmende Angst befiel mich. »Was zum Beispiel?«, fragte ich.
»Ein Pathogen oder ein Toxin.«
»Und, ist es so?«
»Das wissen wir noch nicht. Wir führen verschiedene Tests durch. Allem Anschein nach sind Sie aber nicht vergiftet worden. Ihre Organe funktionieren ausnahmslos gut.«
»Was ist mit den anderen, die mich begleitet haben? Meine Partnerin, Nadine. Das SWAT -Team.«
»Sie befinden sich zur Sicherheit auch hier in Quarantäne. Sie waren allerdings nicht im Keller, als das Gerät explodiert ist. Ihre Anzüge wurden nicht beschädigt.«
Ich rutschte unbehaglich auf dem Bett herum.
Die Schmerzen nahmen zu, und der Lockruf des roten Knopfs wurde immer lauter.
»Was für Verletzungen habe ich?«, fragte ich.
»Zwei gebrochene Rippen, drei weitere sind angeknackst. Ihr linker Lungenflügel ist kollabiert, aber das haben wir wieder hinbekommen. Und Ihre Arme und Beine sind mit Schnittwunden von den Eissplittern übersät.«
»War die Explosion so schlimm?«
»Da Sie sich in einem geschlossenen Raum befunden haben, hat der Druckunterschied zwischen Ihren mit Luft gefüllten Organen und der Detonationswelle ein paar Schäden angerichtet. Zum Glück aber keine lebensbedrohlichen. Davon werden Sie sich wieder komplett erholen.«
Mittlerweile lenkten mich die Schmerzen mindestens genauso sehr ab, wie das Morphium es tun würde.
Ich drückte mehrfach den roten Knopf und fühlte mich sofort erleichtert.
Schwerelos und warm.
»Ich sehe, dass Sie die Morphium-Pumpe aktiviert haben. Versuchen Sie, ein wenig zu schlafen, Logan. Ich sehe in ein paar Stunden wieder nach Ihnen.«
Ich wachte erneut auf.
Diesmal fühlte ich mich anders.
Etwas stimmte nicht.
Von meiner Brust gingen noch immer Schmerzwellen aus, doch nun tat mir auch der restliche Körper weh, und mir war unsagbar heiß. Das Laken und die Bettdecke waren voller Schweiß. Er rann mir in die Augen. Außerdem keuchte ich.
Mein Überwachungsmonitor piepte zu schnell.
Jemand stand neben dem Bett und injizierte den Inhalt einer Spritze in meinen Infusionsschlauch.
»Was ist los?«, fragte ich.
Meine Stimme klang schlaftrunken, die Worte waren verwaschen.
Die Ärztin oder Krankenschwester blickte durch das Visier eines Schutzanzugs auf mich herab. Ich versuchte, an ihrem Blick abzulesen, wie ernst die Lage war, doch es gelang mir nicht.
Ihre Stimme drang aus einem Lautsprecher im Visier. Sie klang nach der Ärztin, mit der ich zuvor gesprochen hatte. Ich konnte mich nicht mehr an ihren Namen erinnern.
»Sie haben sehr hohes Fieber, Logan. Wir versuchen, Ihre Temperatur zu senken.«
»Wie hoch?«
»Zu hoch.«
Ich murmelte etwas, das ich nicht einmal selbst verstand.
Die Reißverschlusstür in der Plastiktrennwand wurde geöffnet, und eine weitere Medizinerin im Schutzanzug betrat meine Blase. »Ich habe die Kühlbeutel, Dr. Singh.«
»Danke, Jessica.« Dr. Singh legte die Spritze weg und schlug meine Bettdecke zurück. Meine Verbände und das Krankenhaushemd waren komplett durchgeschwitzt.
Singh hob vorsichtig meinen Kopf vom Kissen, damit Jessica mir eine kalte Kompresse um den Hals wickeln konnte.
Ich versuchte zu fragen, ob ich sterben würde, doch anstelle von Worten brachte ich nur schillernde Farben heraus. Ich sah tatsächlich bunte Feuerwerksexplosionen aus meinem Mund dringen.
Schwitzend und stöhnend durchlitt ich in einer Dauerschleife bizarre und verstörende Fieberträume, wie ich sie noch nie erlebt hatte.
Als ich das nächste Mal erwachte, war mein Fieber abgeklungen.
Meine Brust tat noch immer weh, aber nicht mehr so schlimm wie zuvor.
Ich befand mich allein in meiner Blase. »Hallo, Logan. Wie fühlen Sie sich?«, drang Dr. Singhs Stimme aus dem Lautsprecher.
»Besser.«
»Sie haben uns Sorgen gemacht. Ihre Temperatur hat zeitweise die 41-Grad-Marke geknackt.«
»Ich hatte nicht die Absicht, irgendwelche Rekorde zu brechen.«
»Derart hohes Fieber sehen wir nicht gern. Bei solchen Tem peraturen kann es zu Organschäden und tödlichen Krampf anfällen kommen.«
»Was hat es ausgelöst?«, fragte ich.
»Das untersuchen wir noch, aber nichts deutet auf eine bakterielle Ursache oder eine Infektion hin. Im Moment gehen wir von einem Virus aus.«
Verdammt. Irgendwelche Spinner, die sich an der GPA rächen wollten, hatten uns eine Falle gestellt. Sie hatten das Ganze sogar auf Video aufgenommen.
Noch schlimmer als die Vorstellung, dass sich ein synthetischer Erreger einen Weg durch meine Organe brannte, war der andere Grund, aus dem man solche Viren konstruierte: Sie waren das perfekte Instrument, um fremde genetische Informationen in einen Körper einzubringen und seine DNS umzuschreiben.
Die Vorstellung, ein DNS -Modifikator wie Scythe könnte meinen Gen-Code revidieren und mich in meinem Wesenskern verändern, erschreckte mich mehr als alles andere.
»Hier ist jemand, der Ihnen Hallo sagen möchte.«
Eine neue Stimme kam aus dem Lautsprecher: »Logan?«
Ich lächelte so breit, dass meine trockenen Mundwinkel aufplatzten. »Beth?«
»Ich bin hier im Nebenraum.«
Es klang, als würde sie weinen.
Mir kamen ebenfalls die Tränen.
»Wann bist du nach Denver gekommen?«, fragte ich.
»Gestern. Als Ava und ich hörten, was passiert ist, sind wir sofort hergefahren.«
»Ava ist auch hier?«
»Hallo, Dad.«
»Oh mein Gott. Hallo, Süße. Wie schön, deine Stimme zu hören.«
»Geht mir genauso.«
»Was haben sie euch erzählt?«, fragte ich.
»Nicht viel. Edwin sagte, ein Labor, in das du eingedrungen bist, sei explodiert. Und die Ärzte haben uns gesagt, dass du dabei mit etwas kontaminiert worden sein könntest und deswegen in Quarantäne bist.«
»Das mit unserem Wochenende tut mir leid. Eigentlich wären wir jetzt alle in Shenandoah.«
»Das holen wir nach, sobald du hier raus bist«, antwortete Ava.
»Du lässt aber nicht die Schule schleifen, oder, Schatz?«
»Nein.«
»Ich will nicht, dass du ins Hintertreffen gerätst. Dass ich fast in die Luft gesprengt worden bin, zählt nicht als Ausrede.«
»Ich finde, dass das eine großartige Ausrede ist. Aber ich habe meinen Laptop mitgenommen und im Wartezimmer gearbeitet.«
»Okay«, sagte Beth. »Sie geben uns gerade zu verstehen, dass du dich ausruhen musst.«
»Werdet ihr in der Nähe bleiben?«
»Wir gehen nirgendwohin.«
In dieser Nacht flammte mein Fieber ein weiteres Mal auf.
Ich versuchte zu schlafen, wurde aber erneut von wilden Träumen heimgesucht. Ich befand mich in meinem Körper und sah zu, wie das Virus in meine Zellen eindrang. Dann wurde ich selbst zum Virus, löste mich und meine genetischen Befehle auf und übernahm meine DNS , um mehr von meiner Sorte herzustellen. Weitere Viruspartikel.
Wieder und wieder und …
Als ich erwachte, war ich völlig verwirrt.
Schwestern in Schutzanzügen wickelten mir Kühlkompressen um den Hals und schütteten Eis auf meine Brust.
Ich stöhnte und murmelte Unsinn.
»Ich bin das Virus«, stammelte ich. »Ich bin das Virus.«
»Sechshundert Milligramm Interferon«, verlangte Dr. Singh.
Ich blickte zu ihrem Visier hoch. »Ich kann es in meinen Zellen fühlen.« Dr. Singh ignorierte mich und sah eine der Schwestern an. »Mehr Eis. Schnell.«
In meinem Plastikkönigreich begann es zu regnen. Doch so ein Unwetter hatte ich noch nie erlebt.
Die einzelnen Regentropfen waren Leuchtbuchstaben.
A
G A
C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
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T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G A
T C G
T C
Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin: die vier chemischen Basen, aus denen die Desoxyribonukleinsäure besteht.
DNS .
Die Luft war mit Nukleinbasen gefüllt.
Sie wurden zur Seite geweht.
Bildeten Wirbel.
Rannen an den Plastiktrennwänden herab.
Endlose, mysteriöse Permutationen der Blaupause, auf denen jedes irdische Leben basierte.
Ich spürte, wie die Buchstaben auf mein Gesicht prasselten.
Ich atmete sie ein.
Einen Strom aus Bio-Code, der sich ständig veränderte und mutierte.
Mein Kopf brannte.
Ach, könnte ich den Code doch nur entschlüsseln, dachte ich. Dann würde ich vielleicht verstehen, was das Virus mit mir anstellte.
Als ich das nächste Mal zu mir kam, saß jemand in einem Schutzanzug neben mir. Meine Rippen fühlten sich besser an und das Fieber war abgeflaut, aber ich war schrecklich müde.
Die Person im Schutzanzug wandte sich mir zu.
Ich blickte in das Gesicht meines Chefs – Edwin Rogers, der Leiter der Gene Protection Agency. Ich war froh, ihn zu sehen. Ich hatte mich gleich nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis bei der GPA beworben und nicht geglaubt, dass sie mich ernst nehmen würden. Doch Edwin Rogers hatte persönlich das Vorstellungsgespräch mit mir geführt und mich trotz meiner zahlreichen Verurteilungen und meiner fehlenden Erfahrung im Polizeidienst vom Fleck weg engagiert. Allein deswegen konnte er sich meiner ewigen Loyalität gewiss sein.
»Na, sieh mal an, wer da aus seiner Ohnmacht erwacht«, sagte Edwin.
»Hallo«, erwiderte ich matt. »Wo ist Nadine?«
»Sie ist noch immer in Quarantäne, hat aber keinerlei Symptome und wird voraussichtlich in ein oder zwei Tagen entlassen werden. Sie waren der Einzige, den es erwischt hat.«
»Und wissen wir schon, was ›es‹ gewesen sein könnte?«
Edwin räusperte sich. »Ihnen ist sicher bereits bewusst, dass Sie in eine Falle getappt sind. Wir halten Henrik Soren nach wie vor fest und werden ihn wegen versuchten Mordes anklagen.«
»Was sagt er zu der ganzen Sache?«, fragte ich.
»Er tut, als wüsste er von nichts, und schwört, er habe lediglich am Donnerstagvormittag an der Haustür einem Mann eine Lieferung übergeben.«
»Hat er einen Namen genannt?«
»Er hat uns nur eine grobe Beschreibung und einen Darknet-Link gegeben, der …«
»… nirgendwohin führt«, sagte ich und versuchte, trotz meiner kaum zu ertragenden Rippenschmerzen, mich aufzusetzen. Edwin schob mir die Kissen in den Rücken. »Haben Sie sich den Keller angeschaut?«
»Ja. Wir haben die Rückstände von zwei Eisbomben gefunden. Das war der mit Abstand merkwürdigste Sprengsatz, den ich je zu Gesicht bekommen habe.«
»Bestanden die Kugeln aus H2 O oder …?«
»Aus zu unglaublich hartem Eis gepresstem H2 O. Die Explosion hat sie in Schrapnells verwandelt. Sie haben Ihren Anzug durchdrungen. Und Sie.«
»Konnten Sie etwas von dem Schmelzwasser oder Eisfragmente bergen?«
»Ja. Und wir sind gerade mit der Sequenzierung einer Probe fertig geworden. Diese Kugeln enthielten ein tiefgefrorenes Virus.«
Plötzlich war ich hellwach.
»Ziemlich genial gemacht«, fuhr er fort. »Die Splitter sind durch oberflächliche Schnitte in Ihren Körper eingedrungen und geschmolzen, ohne bleibende Schäden zu verursachen.«
»Oh Gott.«
Er legte mir eine behandschuhte Hand auf die Schulter. »Bevor Sie ausflippen: Es ist kein Virus aus der Filoviridae-Familie. Um Ebola oder Marburg handelt es sich auch nicht. Genauso wenig um die Pocken. Vieles weist darauf hin, dass es aus der Orthomyxoviridae-Familie stammt.«
»Grippe?«
»Ja.«
»Wurde es künstlich erzeugt?«
»Davon gehen wir aus.«
Und dann stellte ich die Frage, vor deren Antwort ich mich am meisten fürchtete: »Enthielt es einen Scythe-Code?«
Er nickte.
Verdammt. Ich war nicht nur mit einem Virus unbekannter Herkunft, sondern auch noch mit einer Ladung des mächtigsten genverändernden Systems aller Zeiten infiziert worden. Höchstwahrscheinlich war es nicht dazu gedacht, mich krank zu machen, sondern sollte die Zellen meines Körpers befallen und Teile meiner DNS umschreiben.
»Wissen Sie, auf welche Gene es abzielt?«
»Noch nicht, aber wir analysieren eine Probe Ihrer weißen Blutkörperchen.«
Ich versuchte, mich zu beruhigen, schaffte es aber nicht. Das waren die schlimmstmöglichen Neuigkeiten.
Edwin langte durch den Rausfallschutz meines Bettes und klopfte mir auf die Schulter. »Ich wollte es Ihnen persönlich mitteilen. Wir werden denjenigen finden, der dafür verantwortlich ist, und ihm die Hölle heißmachen. Sie müssen sich jetzt nur darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden.«
»Ich werde es versuchen, Sir.«
Er wollte mich trösten, doch den Schuldigen zu fassen würde nicht helfen, wenn sich diese Genveränderungen als tödlich erwiesen. Ein Scythe-System konnte alle möglichen Verwüstungen in meinem Genom anrichten.
Würde man den genetischen Code einer Person in ein Buch schreiben, wäre dieses Werk zwanzig Stockwerke hoch und würde drei Milliarden Permutationen der Buchstaben A, C, G und T enthalten – die für die vier Nukleinbasen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin standen. Die spezifische Anordnung dieser vier Basen erzeugt den Code für sämtliche biologische Lebensformen auf dem Planeten. Dieser Code heißt Genotyp. Seine jeweilige körperliche Ausprägung (zum Beispiel die Augenfarbe) bezeichnet man als Phänotyp. Wir wissen noch immer nicht viel darüber, welcher Genotyp welchen Phänotyp hervorbringt.
Edwin erhob sich von seinem Stuhl, öffnete die Reißverschlusstür und trat hinaus.
Während ich zusah, wie er mich wieder in meinem Universum aus Plastik einschloss, fühlte ich mich vollkommen allein.
Es erinnerte mich an meine Zeit im Gefängnis.
Die anderen kamen und gingen, wie es ihnen beliebte, doch ich blieb in meiner Zelle eingeschlossen.
Zusammen mit meinem mutierenden Genom.
Sie behandelten mich mit Interferon Gamma und mehreren neuen virenhemmenden Medikamenten.
In der folgenden Nacht bekam ich noch einmal hohes Fieber. Danach besserte sich mein Zustand rasch. Ich war wieder voller Energie, mein Appetit kehrte zurück, und ich konnte bis zum Morgen durchschlafen.
Nach drei Tagen wurden mir die Verbände abgenommen. Die Schnittwunden waren verkrustet.
Die Rippen taten mir noch immer weh, aber ich wollte unbedingt aus dem Bett aufstehen und auf dem Korridor der Intensivstation auf und ab gehen.
Ich sehnte mich nach einer echten Toilette anstelle der demütigenden Bettpfanne.
Doch sie ließen mich nicht aus meiner Blase.
Da sie so gut wie nichts über den veränderten Grippevirenstamm wussten, mit dem ich infiziert war, wollte Dr. Singh kein Risiko eingehen. Ich zeigte zwar keine Symptome, schied das Virus aber noch immer aus und war somit potenziell ansteckend.
Also verbrachte ich die Tage damit, Filme auf meinem Tablet zu streamen und – wenn es meine Konzentration erlaubte – etwas zu lesen. Meist grübelte ich jedoch fieberhaft darüber nach, was Scythe gerade in mir anrichten mochte.
Die Krankenhausleitung hatte sich geweigert, meine Frau und meine Tochter mit Schutzanzügen zu mir zu lassen, nach einer Woche im Bett bestand ich jedoch darauf, sie sehen zu dürfen.
Meine vierzehn Jahre alte Tochter durchquerte in kompletter Schutzkleidung, in der sie fast zu verschwinden schien, die Plastiktrennwand. Sie trug einen Stoffbeutel über der Schulter.
Ich lachte, als ich sie sah – zum ersten Mal, seit ich fünf Tage zuvor in der Intensivstation erwacht war. Wegen meiner gebrochenen Rippen verwandelte sich meine Freude jedoch sofort in Schmerz.
»Hallo, Dad«, drang Avas Stimme aus dem Anzuglautsprecher. Sie beugte sich über das Bett und umarmte mich ungeschickt. Ich presste das Gesicht an ihr Visier. Trotz der Latexhandschuhe und des Tyvek-Anzugs brachte mich die Berührung eines Menschen, den ich liebte und der mich liebte, zum Weinen.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Dad?«
»Es geht mir gut.« Ich wischte mir über die Augen.
Sie zog einen Stuhl heran und holte ein Schachbrett aus dem Stoffbeutel.
»Willst du eine Partie spielen?«
»Unbedingt! Ich habe es satt, immer nur Displays anzustarren.«
Ich setzte mich stöhnend auf und versuchte, die Kissen in meinem Rücken zurechtzurücken. Ava klappte derweil das Schachbrett auf, legte es auf das Bett und stellte die Figuren auf.
Es rührte mich, dass Ava in den Anzug gestiegen war, um Zeit mit mir in meiner Isolation zu verbringen. Für Neulinge konnten sich die Schutzanzüge klaustrophobisch anfühlen. Sie waren heiß und sperrig, und sobald man die Haube aufsetzte, juckte es einen unweigerlich im Gesicht. Das weitaus Schlimmste war aber natürlich die Angst vor einem Leck in der Versiegelung.
Sie streckte mir beide Fäuste hin, und ich tippte auf die rechte. Als sie die Finger öffnete, kam ein weißer Bauer zum Vorschein.
Ich würde den ersten Zug machen.
Ava war fünf gewesen, als ich ihr das Schachspielen beibrachte. Sie hatte von Anfang an gemocht, wie sich die Figuren auf dem Brett bewegten, und schnell begriffen, dass man eine Strategie brauchte, um zu gewinnen.
Seither versuchten wir, jeden Tag eine Partie zu spielen. Am liebsten auf dem schmiedeeisernen Gartentisch und bei schlechtem Wetter vor dem Kaminfeuer.
Mit zehn war sie eine hervorragende Spielerin gewesen.
Mit zwölf mir ebenbürtig.
Mit dreizehn hatte sie mich mit ihrem großen Repertoire an Eröffnungszügen und ihrem starken Endspiel bereits überflügelt. Mittlerweile konnte ich sie nur noch schlagen, wenn ich mir keinen einzigen Fehler erlaubte und Ava mindestens einmal die Konzentration verlor. Doch beides zusammen kam selten vor.
Manchmal fragte ich mich, ob sie die Intelligenz meiner Mutter geerbt hatte.
Ich machte meinen Eröffnungszug.
»Ähem, Dad«, sagte sie, während sie im Gegenzug ihren Damenspringer auf f6 schob. »Nur zur Erinnerung: Wir stehen bei fünfhunderteinundsechzig.«
Ich verdrehte die Augen.
Sie grinste mich durch ihr Visier an.
Damit wollte sie mich daran erinnern, wie viele Tage es her war, seit ich sie zum letzten Mal schachmatt gesetzt hatte.
Während der nächsten Woche spielten wir jeden Tag.
Sie gewann jedes Mal deutlich.
Beth schlüpfte ebenfalls in den Anzug und setzte sich zu mir. Ohne die Ablenkungen unseres Alltags in Virginia sprachen wir so viel miteinander wie schon seit Jahren nicht mehr.
Eines Nachmittags blickte sie durch ihre Sichtscheibe auf mich herab und nahm meine Hand in ihre, wobei eine Latexschicht unsere Haut voneinander trennte.
»Wann wird es reichen?«, fragte sie.
Sie meinte meinen Job. Darüber stritten wir oft.
»Ich weiß es nicht.«
»Du bist schon mal angeschossen worden. Und jetzt kannst du dich auch noch damit brüsten, dass du fast in die Luft gesprengt wurdest.«
»Darauf bilde ich mir nichts ein.«
»Natürlich tust du das«, erwiderte sie. »Sieh mich bitte an. Wenn ich das Gefühl hätte, dass du diesen Job magst, würde ich trotz der schrecklichen Gefahren, in die du dich ständig begibst, nichts sagen. Aber ich weiß, dass du ihn hasst. Er entspricht dir nicht. Du machst ihn nur aus Pflichtbewusstsein und Schuldgefühlen, und anfangs hat das vielleicht auch einen gewissen Sinn ergeben, aber inzwischen ist deine Begnadigung fünfzehn Jahre her. Vielleicht ist es an der Zeit, dass du dir selbst vergibst und dir eine Beschäftigung suchst, die dir tatsächlich liegt.«
Was mir wirklich lag, was ich schon immer gewollt hatte, war, als Genetiker zu arbeiten. Den Quellcode des Lebens zu verstehen und zu meistern, um die Welt zu verbessern. Diesen übertriebenen Ehrgeiz hatte ich vermutlich von meiner Mutter geerbt, die eine wahre Naturgewalt gewesen war.
Doch in der Welt, in der wir inzwischen lebten, würde ich diesen Traum niemals verwirklichen können.
Und selbst wenn es erlaubt gewesen wäre, hätte ich es niemals geschafft. Denn ich besaß, auch wenn ich es mir nur äußerst ungern eingestand, nicht einmal einen Bruchteil der überragenden Intelligenz eines Anthony Romero oder einer Miriam Ramsay.
Ich war zwar überdurchschnittlich ambitioniert, aber nur mittelmäßig begabt.
Exakt zwei Wochen nach meiner Einlieferung auf die Intensivstation des Denver Health ging die Reißverschlusstür zu meiner Blase auf, und Dr. Singh trat breit lächelnd ein. Eine Kaskade aus langen dunklen Locken fiel ihr über die Schultern.
»Sie haben ja Haare«, sagte ich.
»Das stimmt. Eine ganze Menge.«
»Wo ist Ihr Anzug?«
»Den brauche ich nicht mehr.«
Sie kam zu mir und setzte sich auf den Stuhl neben meinem Bett. Sie war ein wenig jünger, als ich angesichts ihrer rauchigen Stimme angenommen hatte.
»Wir sind sicher, dass das Virus – worum auch immer es sich dabei gehandelt hat – nicht mehr aktiv ist. Sie werden noch ungefähr einen Monat lang nicht ganz auf der Höhe sein, aber wir werfen Sie jetzt raus. Ach ja, ich habe jemanden am Telefon, der Ihnen etwas mitteilen möchte.« Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und aktivierte den Lautsprecher. »Direktor Rogers? Sie sind jetzt mit Logan verbunden.«
»Können Sie mich hören, Logan?«
»Ja, Sir.«
»Ihre Ärztin hat mich bereits über die guten Neuigkeiten informiert, und ich habe auch welche für Sie. Die Ergebnisse Ihrer DNS -Analyse sind da. Sie sind sauber.«
»Gibt es keine Veränderungen an meinem Genom?«, fragte ich.
»Wir konnten keine finden.«
Ich kämpfte mit den Tränen.
»Danke, Sir. Vielen, vielen Dank.«
»Wir sehen uns in Washington.«
Als Dr. Singh das Telefonat beendete, drängten sich Beth und Ava durch die Öffnung in der Plastiktrennwand und eilten an mein Bett. Sie kletterten auf die schmale Matratze und schmiegten sich von beiden Seiten an mich.
Ich stöhnte. »Passt auf meine Rippen auf.«
Wir alle lachten und weinten, und ich merkte, wie sehr ich diese alltäglichen Sinneseindrücke vermisst hatte. Ihren Geruch. Den ungedämpften Klang ihrer Stimmen. Das Gefühl von Haut auf Haut.
Nach der vierzehntägigen Quarantäne war das alles wie eine Einladung, wieder ins Leben zurückzukehren.
Nach Hause.