Als ich die Augen wieder aufschlug, lag ich auf einer harten Matratze.
Ich setzte mich vorsichtig auf.
Mein Kopf fühlte sich zu groß und zu schwer an, als könnte er jeden Moment von meinem Hals herunterpurzeln.
Als sich meine Augen scharf stellten, erblickte ich Edwin Rogers.
Er war fünf Meter von mir entfernt. Ich fragte mich, wie lange er schon dagestanden und mir beim Schlafen zugesehen hatte.
Ich schwang die Beine über die Bettkante und stand unsicher auf.
Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund.
Während ich zu Edwin taumelte, kam es mir vor, als würde ich mich durch einen dichten Gedankennebel kämpfen.
Nach ein paar Schritten blieb ich stehen und schaute mich um.
Ich befand mich in einem achteckigen, etwa vier Meter breiten Raum. Die Wände waren gute drei Meter hoch und komplett verglast.
Ich sah einen Schreibtisch, ein Bett, eine Toilette und ein Waschbecken.
Hinter einer der Glaswände erblickte ich ein Computerterminal und verschiedene medizinische Ausrüstungsgegenstände.
Ich sah Edwin an. »Was zur Hölle ist das hier?«
Er schwieg.
Ich ging zum Schreibtisch, um den Stuhl zu nehmen und durch die Glaswand zu werfen.
Doch er war am Betonboden festgenietet.
»Das ist Sicherheitsglas«, meldete sich Edwins Stimme aus einem Lautsprecher in der Decke.
Er ging mit einem Tablet in der Hand auf mich zu.
Schließlich standen wir, nur durch das Glas getrennt, einen Meter voneinander entfernt. Er wirkte ernst, und ich sah, dass seine unteren Augenlider angespannt waren, was ich aus irgendeinem Grund als Ausdruck von Furcht identifizierte.
Hatte er etwa vor mir Angst? Und wie hatte mir so eine Winzigkeit bloß auffallen können?
Er trug eine Jeans und eine marineblaue Windjacke mit dem Abzeichen der GPA .
Edwin ging zu einem Schreibtisch auf seiner Seite der Zellenwand und nahm daran Platz. Ihm gegenüber stand auf meiner Seite ein weiterer Schreibtisch, der ebenfalls am Boden festgenietet war.
Er bedeutete mir, mich ebenfalls hinzusetzen.
Ich ließ mich auf den Stuhl sinken und sah ihn an. »Wieso bin ich hier?«
»Zur allgemeinen Sicherheit.«
»Kommen Sie schon. Ich kooperiere mit Ihnen. Sie müssen mich nicht einsperren.«
Edwin schwieg.
»Wo bin ich?«
Er schaltete sein Tablet an.
»Ist das ein Geheimgefängnis der GPA ?«
Keine Antwort.
»Wie lange wollen Sie mich …?«
»Hören Sie, Logan, Sie haben in sehr kurzer Zeit eine Menge genetischer Veränderungen durchgemacht. Das könnte gefährliche Nebenwirkungen nach sich ziehen. Wir werden Ihre Entwicklung überwachen. Wir müssen begreifen, zu was Sie werden.« Er blickte auf das Tablet hinab. »Wissen Sie, was die Unterdrückung des PDE 4B-Gens bewirkt?«
»Sie können mich mal.«
Edwin kräuselte irritiert die Lippen. »Wieso haben Sie uns nicht gesagt, dass Sie …?«
»Weil Sie dann exakt so reagiert hätten, wie Sie es nun auch getan haben. Ich wollte genügend Beweise sammeln, um mich zu verteidigen. Ich wollte herausfinden, ob und – wenn ja – wie sehr ich mich verändert habe.«
»Und wissen Sie es?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Würden Sie es gern erfahren? Ich habe nämlich alle Informationen hier vorliegen.«
»Ja.«
»Dann beantworten Sie meine Frage. Wissen Sie, was die Unterdrückung des PDE 4B-Gens bewirkt?«
Eigentlich hätte ich keine Ahnung haben sollen, doch als ich über seine Frage nachdachte, erinnerte ich mich an einen Artikel über Therapien gegen Geisteskrankheiten, den ich acht Jahre zuvor im Scientific American gelesen hatte. Darin war PDE 4B erwähnt worden. »Die Unterdrückung dieses Gens reduziert Angst und erhöht die Problemlösungskompetenz. Zumindest bei Mäusen.«
»Korrekt. In Ihnen ist dieses Gen unterdrückt worden. Außerdem wurde Ihr gesamtes IGF -System verändert und Ihr GRIN 2B-Gen ist mutiert. Sagt Ihnen das auch etwas?«
Vier Jahre, sechs Monate und elf Tage zuvor (Woher wusste ich das bloß so genau?) hatte ich ein Abstract über das IGF -System gelesen. Es stand mir in allen Details vor Augen. »Hohe Lernleistung und verbessertes Gedächtnis«, sagte ich.
»Das wissen Sie auswendig?«
»Ich erinnere mich daran, etwas darüber gelesen zu haben.«
»FOXP 2?«
Ich schüttelte den Kopf. Von diesem Gen hatte ich noch nie etwas gehört.
»Schnelleres Erlernen von Reiz-Reaktions-Verbindung. Was ist mit NLGN 3?«
»Verbessertes Lernen und räumliches Begreifen«, erwiderte ich.
»GL uK4?«
»Geringeres Risiko für bipolare Störungen und verbesserte kognitive Fähigkeiten.«
Edwin sah zu mir auf. »Kognition, Gedächtnis, Konzentration, Mustererkennung – das alles ist bei Ihnen verbessert worden. Haben Sie in diesen Bereichen irgendwelche positiven Entwicklungen an sich wahrgenommen?«
»Ja.«
»Seit wann?«
»Seit etwas über drei Wochen.«
»Ist Ihnen klar, wie erstaunlich das ist?«
Einen Moment lang brachte ich kein Wort heraus. Ich hatte zwar vermutetet, dass irgendetwas mit mir geschehen war, doch das Ausmaß der Veränderungen raubte mir den Atem.
»Wieso haben Sie Dr. Strand eine zweite Genom-Analyse durchführen lassen?«, fragte Edwin.
Interessant. Sie hatten die Ergebnisse also abgefangen, bevor mein Arzt sie mir erläutern konnte. Offenbar hatten sie mich seit Denver streng überwacht.
»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt«, erwiderte ich. »Ich wollte selbst Beweise sammeln. Außerdem habe ich vermutet, dass mein LRP 5-Gen hochreguliert worden ist und vielleicht sogar verändert.« Eine Hochregulation bedeutet, dass ein Gen hinsichtlich seiner Expression und seines Effekts verstärkt wird. Eine Runterregulation beschreibt das Gegenteil. Wenn man über ein funktionierendes OPN 1MW -Gen verfügt, kann man Farben sehen. Wenn es runterreguliert wird, ist man farbenblind.
Edwin sah auf sein Tablet und scrollte durch die Seiten. »Gesteigerte Knochendichte?«, fragte er schließlich.
Ich nickte.
»Wann haben Sie es zuerst vermutet?«
»Fünf Wochen nach Denver spürte ich tiefsitzende Schmerzen im ganzen Körper.«
»Warum haben Sie uns nichts davon erzählt?«
»Noch einmal: Ich habe nichts vor Ihnen geheim gehalten. Ich war nicht sicher, was passiert. Deswegen habe ich Dr. Strand gebeten …«
»Wir hätten auch eine neue Analyse durchführen können. Sie arbeiten immerhin für die Gene Protection Agency, verdammt noch mal.«
»Bevor ich meinen Arbeitgeber in Panik versetze, wollte ich erst herausfinden, ob es sich um einen merkwürdigen Nebeneffekt des Virus oder um etwas Schlimmeres handelt. Ich wollte mit Informationen und nicht mit bloßen Vermutungen zu Ihnen kommen. Bisher habe ich noch nicht einmal Beth davon erzählt.«
»Ich werde Ihnen jetzt eine Liste der anderen Gene vorlesen, die entweder hoch- oder runterreguliert worden sind. Die meisten sind zu bislang unbekannten Polymorphismen mutiert. In ein paar Fällen wurden kurze neue DNS -Sequenzen eingearbeitet, die vermutlich die jeweiligen Funktionen verbessern sollen.«
»Es gibt noch mehr?«
»Das kann man wohl sagen.«
Ich beugte mich vor.
»SOST .«
»Verringerter Knochenschwund.«
»MSTN .«
»Lange, schlanke Muskeln.«
»SCN 9A, FAAH -OUT und NTRK 1. Kennen Sie welche davon?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Die bewirken größere Schmerztoleranz.« Er sah wieder auf sein Tablet. »HSD 17B13. Geringes Risiko von Lebererkrankungen. CCR 5.«
»HIV -Resistenz?«
»Genau. FUT 2, IL 23R, HBB , PKU , CFTR , HEXA , PCSK 9, GHR , GH , SLC 30A8, IFIH 1=MDA 5, NPC 1 und ANGPTL 3.«
»In der Reihenfolge, in der Sie sie vorgelesen haben, geht es da um … Resistenzen gegen das Norovirus, Morbus Krohn, Colitis ulcerosa, Malaria, Ochratoxin, TB , Herzerkrankungen, Krebs, Diabetes Typ 1 und Typ 2 und Ebola. Und das letzte Gen reguliert, soweit ich weiß, den Fettgehalt des Körpers und verbessert die Herzkranzgefäße.«
»Wow. Okay. Die nächsten vier sind ziemlich schräg. EGLN 1, EPAS 1, MTHFR und EPOR .«
»Über dieses Gensystem habe ich vor ein paar Jahren einen Artikel gelesen. Normalerweise findet man es in Tibetern, richtig?«
»Das stimmt. Es verbessert die Körperfunktionen in extremen Höhen. BHLHE 41=DEC 2, NPSR 1 und ADRB 1.«
»Die sagen mir nichts.«
»Sie senken das Schlafbedürfnis. APOE , APP , NGF , NEU 1, NGFR .«
Diese Gene kannte ich aus einem Artikel, den ich sieben Jahre zuvor während eines Flugs nach Minneapolis im Nature Genetics gelesen hatte. »Die verringern das Risiko, an Alzheimer zu erkranken«, sagte ich.
»CTNNB 1.«
»Keine Ahnung.«
»Strahlungsresistenz. CDKN 2A und TP 53?«
»Verringertes Krebsrisiko.«
»TERT .«
»Hat das nicht etwas mit dem Alterungsprozess zu tun?«
»Ganz richtig. Mutationen im TERT -Gen können die Telomerase verlangsamen oder beenden, was dazu führt, dass die Telomere im Verlauf der Zellteilungen zu kurz werden. Sie wissen sicher …«
»Dass Telomere als Hauptursache für die altersbedingten Zusammenbrüche in unseren Zellen gelten. Ja, das weiß ich.«
»Exakt«, sagte er. »Es handelt sich also um ein weiteres Anti-Aging-Gen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass jemand Sie in einen Übermenschen zu verwandeln versucht. Und auf dieser Liste stehen nur die Allele, über die wir etwas wissen.«
»Gibt es davon abgesehen noch weitere Veränderungen an meinem Genom?«
»Tausende. Wir versuchen so viele wie möglich nachzuvollziehen, aber das ist eine gewaltige Aufgabe, und viele der betroffenen Gen-Systeme kennen wir gar nicht. Daher haben wir keine Ahnung, wie sie miteinander beziehungsweise mit Ihrem Körper interagieren. Es gibt sogar Änderungen in Ihrer Junk-DNS , und die übersteigen unser Wissen bei Weitem.«
Selbst in einer Welt, in der Scythe existierte, waren die Dinge, über die Edwin sprach, unmöglich. Die meisten illegalen Labore, die wir aushoben, schafften es gerade mal, eine Handvoll Gene erfolgreich zu manipulieren. Veränderungen dieser Größenordnung übertrafen alles, wovon ich je gehört hatte. Wir kannten ungefähr fünfundzwanzigtausend Gene, die auf nahezu unendlich viele Weisen interagieren konnten. Darüber hinaus enthält unser Genom noch zahlreiche Kontrollregionen sowie sogenannte Junk-DNS , bei der es sich nicht, wie der Name nahelegt, um Schrott, sondern vielmehr um ein selbstregulierendes Netz aus Systemen handelt, das sich im Verlauf von mehr als drei Milliarden Jahren unter dem Selektionsdruck des Lebens entwickelt hat. All das ergibt ein unfassbar komplexes Gesamtgefüge, bei dem eine einzelne Veränderung zu Dutzenden von unvorhersehbaren Konsequenzen führen konnte. Von Tausenden von Veränderungen ganz zu schweigen.
»Weiß meine Familie, dass ich hier bin?«, fragte ich.
»Sie wissen, dass Sie wegen des Verdachts der Selbst-Editierung festgenommen worden sind.«
»Ich will mit Beth sprechen.«
»Das ist derzeit nicht möglich.«
»Ich habe es nicht selbst getan, Edwin.«
»Wer dann?«
»Ich weiß es nicht. Henrik Soren? Oder wer immer sonst die Falle gestellt hat, in die wir in Denver getappt sind.«
»Unmittelbar nach dem Vorfall waren bei Ihnen keine genetischen Veränderungen zu erkennen. Wir hatten das überprüft.«
»Wenn ich das Know-how und die nötige Ausrüstung hätte, um meine eigene DNS zu verändern, wieso hätte ich dann meinen Arzt eine Analyse in einem streng regulierten Labor durchführen lassen sollen? So ein absurd hohes Risiko ergibt doch nur Sinn, wenn ich es nicht kann. Lassen Sie uns doch bitte bei den Tatsachen bleiben. Wir wissen, dass mich irgendwer mit einem Programm infiziert hat, das meine DNS verändert. Ursprünglich haben wir geglaubt, dass es nicht funktioniert, aber das war ein Fehler. In Wahrheit hat dieses Programm ungefähr einen Monat lang in mir geschlummert.«
»Ist dergleichen überhaupt möglich?«
»Hätten Sie denn irgendetwas von alldem für möglich gehalten? Ist Ihnen klar, wie gut jemand sein muss, um so etwas zu schaffen?«
Edwin schaltete sein Tablet aus. Er wirkte, als wollte er mir noch etwas sagen.
Ich sah ihn abwartend an.
Doch er stand einfach auf und verließ durch eine Tür neben dem Computerterminal den Raum.
Meine Hände zitterten, und mir war eiskalt. Ich wurde in etwas Unbekanntes verwandelt.
Mein Arbeitgeber hatte mich entführt und hielt mich von der Außenwelt abgeschnitten in einem Geheimgefängnis fest. Meiner Familie hatte er wer weiß was erzählt.
Und seit dem Einsatz von Scythe wussten wir, dass selbst die einfachsten genetischen Veränderungen unvorhersehbare Auswirkungen haben konnten. Die Möglichkeit oder besser gesagt Wahrscheinlichkeit von Kollateralschäden an meinem Genom, die zum Guten oder zum Schlechten die ursprünglichen, sorgsam von der Natur entwickelten Funktionen der betroffenen Gene konterkarieren konnten, war enorm.
Wer immer mir das antat, überschrieb den Code der Natur und übernahm die Kontrolle über die Evolution. Das war ein hochriskantes Spiel. In meinem Genom steckten die mehr oder weniger ausgereiften Informationen, wie sich mein Körper selbst regulieren, Krankheiten bekämpfen, mit Giftstoffen und Umweltbedrohungen umgehen und aus dem Stegreif auf unvorhergesehene Probleme reagieren konnte. Und das primäre Ziel all dessen war das Überleben unserer gesamten Spezies.
Die gleichen genetischen Überarbeitungen und Einschübe, die meine Sinne schärften und vielleicht sogar mein Leben verlängerten, konnten im Gegenzug sehr wohl das ganze fragile Gleichgewicht meines Genoms durcheinanderbringen. Und damit mein Leben.
Doch das war noch nicht einmal der erschreckendste Gedanke.
Als Watson, Crick und Franklin in den frühen 1950ern die Doppelhelix-Struktur der DNS entdeckt hatten, änderte sich in der Folge der Blick der Wissenschaftler auf die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten. 1980 stellten Niles Eldredge und Joel Cracraft die These auf, dass sich Tierarten gemäß der phylogenetischen Definition lediglich in zwei Prozent ihrer DNS voneinander unterscheiden müssen, um als unterschiedliche Spezies eingestuft zu werden.
Was, wenn zwei Prozent meines Genoms verändert worden waren? Wäre ich damit eine komplett neue Spezies?
Zwei Stunden später hörte ich, wie der Riegel meiner Zellentür zurückgezogen wurde.
Eine Frau trat ein und richtete einen Taser auf mich. Hinter ihr kam ein Mann herein. Er war unbewaffnet und gut über einen Meter neunzig groß. Ein aus Granit gemeißelter Gigant. Die beiden waren Wachen.
Ich wollte aufstehen, doch der Riese hielt mich davon ab. »Bleiben Sie, wo Sie sind.«
Sie bezogen links und rechts von der Tür Stellung. Einen Moment später trat Edwin ein, gefolgt von einer älteren, freundlich aussehenden Frau, die mich an meine Großmutter väterlicherseits erinnerte.
Ich sah Edwin an. »Wer ist das?«
»Wir wollen Ihnen ein paar Fragen stellen«, entgegnete er.
»Na, dann schießen Sie mal los.«
»Ich will sichergehen, dass Sie die Wahrheit sagen. Das hier ist Hana Jalal.«
Der Riese holte einen zweiten Stuhl herein, stellte ihn neben den Tisch und bedeutete mir, darauf Platz zu nehmen.
Hana setzte sich ebenfalls an den Tisch und stellte ein Tablet so auf, dass seine zahllosen Sensoren auf mein Gesicht gerichtet waren. Ich erkannte das Gerät sofort: Es war einer der modernsten Lügendetektoren.
In früheren, analogen Zeiten hatten Lügendetektorspezialisten Gummischläuche, sogenannte Pneumographen, um die Brust eines Verdächtigen schnüren müssen, um dessen Atembewegungen zu erfassen. Dazu waren Blutdruckmanschetten an den Armen und Galvanometer an den Fingern befestigt worden, metallische Lochscheiben, die die Stromleitfähigkeit der Haut maßen.
Aus meinen eigenen Erfahrungen in einer Ermittlungsbehörde wusste ich, dass ein Lügendetektor nicht wirklich Lügen aufspürte, sondern Schuldgefühle, die die meisten Menschen empfanden, wenn sie logen. Sie würden sich in dramatischen Ausschlägen in den Messungen zeigen, die das auf mich gerichtete Tablet anstellte.
Hana bestand darauf, dass alle anderen den Raum verließen. Anschließend erzählte sie mir ein bisschen über sich selbst und ihre Arbeitsweise. Ich erzählte ihr meinerseits ein wenig über mich, wobei ich ihr garantiert nichts Neues mitteilte.
Sie fragte mich nach meinem Leben und wie ich mich in dieser Glaszelle fühlte.
»Nervös und ängstlich«, sagte ich.
»Das kann ich mir vorstellen.«
Wie alle guten Lügendetektorspezialisten, mit denen ich im Laufe meines Lebens zusammengearbeitet hatte, gab sie mir das Gefühl, auf meiner Seite zu sein. Sie schien an mich zu glauben.
Natürlich erstellte sie bereits ein Profil von mir und machte sich ein vorläufiges Bild von meinen Reaktionen und meiner Art, auf Fragen zu antworten.
»Logan«, sagte sie schließlich. »Wenn es okay für Sie ist, würde ich jetzt gern mit der Untersuchung beginnen.«
»Von mir aus kann’s losgehen.«
»Denken Sie bitte daran, immer nur mit Ja oder Nein zu antworten.«
In dem Glas hinter ihr spiegelte sich das Display des Tablets.
Sie berührte es und startete damit den Test. Dann drehte sie ein Blatt Papier um und nahm einen Stift in die Hand. »Heißen Sie Logan Ramsay?«
»Ja.«
Sie hakte die erste Frage ab. »Leben Sie in Arlington, Virginia?«
»Ja.«
Ein weiterer Haken. »Haben Sie jemals jemanden belogen?«
»Ja.«
»Werden Sie mich während dieses Interviews anlügen?«
»Nein.«
Sie hakte auch diese Fragen ab und betrachtete forschend ihr Tablet. »Haben Sie jemals Ihr eigenes Genom verändert?«
»Nein.«
»Haben Sie seit Ihrer Verwundung in Denver irgendwelche Veränderungen an sich festgestellt?«
»Ja.«
»Haben Sie irgendwem von diesen Veränderungen erzählt?«
»Nein.«
»Haben Sie Ihrer Frau davon erzählt?«
»Nein.«
»Haben Sie Ihrer Tochter davon erzählt?«
»Nein.«
»Hat Ihnen gestern jemand eine Textnachricht geschickt, in der stand: ›Sie wissen, dass Sie sich verändern.‹«
»Ja.«
»Wissen Sie, wer sie Ihnen geschickt hat?«
»Nein.«
»Sind Sie der Sohn von Miriam Ramsay?«
»Ja.«
»Lebt Ihre Mutter noch?«
»Nein.«
»Haben Sie mit ihr zusammengearbeitet?«
Was? »Nein.«
»Hat Miriam Ramsay Ihr Genom verändert?«
»Nein.«
»Wissen Sie, wer Ihr Genom verändert hat?«
»Nein.«
Zum ersten Mal seit Beginn der Befragung sah sie nicht das Blatt oder ihr Tablet, sondern mich an.
»Lügen Sie mich gerade an, Logan?«
»Nein.«
»Kontrollieren Sie gerade Ihre Atmung, Logan?«
»Nein.«
»Kontrollieren Sie Ihren Herzschlag?«
»Nein.«
Hana berührte erneut das Display ihres Tablets. »Wir sind fertig.«
Die Zellentür ging auf.
Edwin wartete ab, während Hana ihre Sachen zusammenpackte. »Ich erwarte Ihren Bericht bis …«
»Sie bekommen ihn im Lauf des heutigen Tages.«
Edwin betrat die Zelle und setzte sich an den Schreibtisch. Ich bemerkte, dass er einen Ohrhörer trug.
»Wieso erkundigen Sie sich nach meiner Mutter?«, fragte ich, sobald die Glastür wieder geschlossen war.
»Weil sie lebt.«
»Was soll der Mist?«
Er nahm sein Handy heraus und legte es auf den Tisch. »Vor einem Jahr ist sie in mein Haus eingebrochen und hat mir dieses Video geschickt, in dem sie mit einem Weinglas in der Hand in meiner Küche steht.«
Ich startete das Video.
Es schien kein Deepfake zu sein.
Miriams Haare waren grau geworden, und sie hatte zahlreiche kosmetische Veränderungen an sich vorgenommen – vermutlich, um Gesichtserkennungs-KI s zu täuschen. Ihr Gesicht war hager und runzliger, als ich es in Erinnerung hatte. Aber sie war eindeutig meine Mutter. Diese dunklen Augen und ihren beängstigend intensiven Blick hätte ich überall erkannt.
Mir wurde schwindelig.
Dann begann sie zu sprechen: »Die GPA und ihre ausländischen Entsprechungen zerstören die Forschung und verhindern jeglichen wissenschaftlichen Fortschritt.« Das war ohne jeden Zweifel ihre Stimme. »Wenn nicht umgehend ein substanzieller Politikwechsel eingeleitet wird, der es unter anderem Universi täten und Privatunternehmen erlaubt, verantwortungsbewusste genetische Forschungsprojekte durchzuführen, werde ich die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen und einen viralen Genantrieb freisetzen.«
Edwin nahm sein Handy wieder an sich. »Wir haben die Fingerabdrücke auf dem Weinglas untersucht und eine Genanalyse des Haares durchgeführt, das sie zurückgelassen hat. Es besteht kein Zweifel.«
Mein Blick verschwamm, meine Hände kribbelten, und ich bekam kaum noch Luft.
»Alles in Ordnung?«, fragte Edwin. »Ich höre gerade, dass sich Ihr Herzschlag enorm beschleunigt hat.«
Ich zitterte vor Zorn.
»Ich verstehe, dass Sie wütend sind.«
»Wieso haben Sie mir nichts davon erzählt?«
»Weil ich nicht wusste, ob Sie mit ihr zusammenarbeiten. Ich hatte keine Ahnung, ob sie mit Ihnen Kontakt aufnehmen würde. Ich habe Ihre Telefone anzapfen und Ihr Haus verwanzen lassen. Sie standen fast zehn Monate lang unter strengster Beobachtung.«
Ich wollte über den Tisch springen und ihm die Hände um den Hals schlingen. Ich war mir sicher, ihn töten zu können, bevor die Wachen in die Zelle stürmten.
»Wie konnten Sie mir das nur vorenthalten?«, schrie ich ihn an.
Die Wachen gingen auf die Zellentür zu, doch Edwin winkte sie weg.
Ich ließ kraftlos den Kopf hängen. Ich hatte um sie getrauert. Ich hatte ihren Tod, so gut es ging, verarbeitet …
»Kurz danach hat sie mir eine verschlüsselte Nachricht mit ihren Forderungen geschickt«, sagte Edwin. »Ich habe darauf reagiert und sie gefragt, welche Spezies sie mit ihrem Genantrieb anvisieren würde.«
»Homo sapiens?«
»Bingo.«
»Was will sie verändern?«
»Sie hat keine Details verraten. Sie sprach bloß von einem signifikanten Upgrade. Sie hat mir außerdem eine Demonstration ihrer Fähigkeiten versprochen.«
Ich bin diese Demonstration, dachte ich.
Allmählich überwand ich den ersten Schock darüber, dass meine Mutter noch lebte, und bekam Angst vor dem, was sie androhte.
Ein Genantrieb ist das mächtigste genetische Werkzeug, das je entwickelt worden ist. Wenn ein Kind gezeugt wird, erhält es normalerweise eine Kopie jedes Gens von beiden Eltern. Welches der beiden Gene sich jeweils durchsetzt, ist weitgehend dem Zufall überlassen. Doch wenn man es schafft, ein Genantrieb-Zielsystem in eines der beiden Elternteile einzupflanzen, kann man die natürlichen Vererbungsgesetze aushebeln. Der Gen-Editierungs-Mechanismus – zum Beispiel CRISPR -Cas9 oder Scythe – wird vom manipulierten Elternteil an die DNS des Kindes weitergegeben, zusammen mit der Anweisung, die Kopie des jeweils anvisierten Gens vom anderen Elternteil zu überschreiben, während der Embryo sich entwickelt. Sagen wir, die Mutter hat braune Augen, der Vater blaue. Mit einem Genantrieb kann man die von der Mutter stammenden für die Augenfarbe verantwortlichen Gene überschreiben und so sicherstellen, dass das Kind blaue Augen haben wird. Der eigentliche Clou dabei ist jedoch, dass das Kind dieses Zielsystem an seine eigenen Kinder weitervererben wird. Alle Kinder aus seiner Linie werden blaue Augen haben.
Ein paar Generationen später hat sich der Genantrieb in der gesamten Population ausgebreitet und das natürliche, unbearbeitete Gen ist ausgestorben. Alle Homo sapiens werden blaue Augen haben.
Mit einem Genantrieb lässt sich viel Gutes bewirken. So hatte vor Ramsays Hunger zum Beispiel einer dafür gesorgt, dass lediglich männliche Malaria-Moskitos zur Welt kamen. Da nur die Weibchen dieser Spezies imstande waren, Menschen mit Malaria zu infizieren, starb die Krankheit zusammen mit den Moskitos rasch aus.
Genantriebe können aber auch sehr schädlich sein, da sie nicht nur die genetische Konstitution einer einzelnen Person, einer Pflanze oder eines Tieres verändern, sondern die Evolution einer ganzen Spezies verändern können.
»Wenn Sie mich überwacht haben«, sagte ich, »dann wissen Sie ja, dass ich keinen Kontakt zu meiner Mutter hatte. Warum bin ich also hier? Ich arbeite nicht mit ihr zusammen. Bis vor fünf Minuten wusste ich noch nicht einmal, dass sie noch lebt. Außerdem analysiert die GPA alle paar Jahre mein Genom. Da können Sie doch nicht wirklich glauben, ich wäre so dumm, es zu verändern.«
»Ehrlich gesagt glaube ich Ihnen, Logan. Aber Sie verändern sich, und wir wissen nicht, wozu Sie sich entwickeln.«
Die erste Nacht in meiner Zelle erinnerte mich an die erste Nacht damals im Gefängnis. Die Zellentüren, die alle auf einmal verriegelt worden waren. Das Geräusch, mit dem die großen Lichter im Gemeinschaftsbereich gelöscht wurden. Die überwältigende Stille und die Dunkelheit um mich herum, als mir klar geworden war, dass diese Wände dreißig Jahre lang mein Zuhause sein würden.
Ich legte mich auf die Matratze und starrte zur Glasdecke der Zelle hinauf.
Meine Mutter lebte.
Mir gingen so viele Gedanken und Fragen durch den Kopf, dass es mir schwerfiel, still zu halten.
Wo war sie gewesen?
Was hatte sie während der vergangenen zwanzig Jahre getan?
Warum hatte sie mich nie kontaktiert?
Hatte sie dieses Upgrade konstruiert, das den ausgefeiltesten Gen-Editierungs-Prozessen um Lichtjahre voraus war?
Und was war, wenn Edwin die Wahrheit sagte? Wie würde ein »signifikantes Upgrade« des menschlichen Genoms aussehen? Meine Mutter war die mit Abstand ambitionierteste Person, die ich je kennengelernt hatte, doch bestimmt war nicht einmal sie so verrückt, der Spezies Homo sapiens ein Upgrade aufzwingen zu wollen. Was sollte es überhaupt beinhalten? Die Dinge, die sie mit mir angestellt hatte?
Doch vor allem fühlte ich mich betrogen und war wütend.
Sie war am Leben gewesen, als ich wegen ihrer Verbrechen vor Gericht gestanden hatte.
Sie war am Leben gewesen, als ich verurteilt worden war.
Am Leben und frei während meiner ersten Nacht in meiner Zelle – und aller darauffolgenden Nächte in Gefangenschaft.
Sie war am Leben gewesen, als ich wieder freigekommen war.
Am Leben an meinem Hochzeitstag.
In der Nacht vor Avas Geburt.
Sie hatte sich nie die Mühe gemacht, Kontakt mit mir aufzunehmen.
Und als ob das nicht alles schon schlimm genug gewesen wäre, hatte sie offenbar auch noch ein weiteres Mal Gott gespielt. Diesmal nicht mit Getreidepflanzen und Heuschrecken, sondern mit mir. Ihrem eigenen Sohn.
Die Lichter waren bereits vor Stunden abgeschaltet worden, und die einzige Beleuchtung stammte von den blinkenden LED s im Terminal hinter mir. Ich wusste, dass irgendwo jemand an einem Monitor saß und jede meiner Bewegungen, jeden Atemzug und jede Träne beobachtete.
Ich musste von diesem Ort entkommen, wusste aber nicht, wie.
Die Deckenbeleuchtung riss mich aus meinen unruhigen Träumen.
Ich hob die Arme, um meine Augen zu bedecken, und fragte mich, wie lange ich geschlafen hatte.
Eine Stunde? Vielleicht zwei? Und dennoch fühlte ich mich dank der Hochregulation meines Gennetzwerks aus BHLHE 41=DEC 2, NPSR 1 und ADRB 1 überraschend erfrischt und wach.
Ich setzte mich auf und sah auf der anderen Seite der Glaswand den Mann stehen, den ich sieben Jahre zuvor in einer verschneiten Nacht in den Bighorn Mountains in Wyoming verhaftet hatte.
»Hallo, Logan«, erklang seine Stimme aus dem Lautsprecher in der Zellendecke.
»Dr. Romero.«
»Sie erinnern sich an mich?«, fragte er überrascht.
»Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an Sie denke.«
»Geht mir genauso«, erwiderte er traurig. Einen Sekundenbruchteil lang straffte sich seine Unterlippe und zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine vertikale Falte. Er war noch immer wütend auf mich und das zweifellos aus gutem Grund.
Es war bereits das dritte Mal, dass ich die Gefühlslage eines Menschen an winzigen Veränderungen seines Gesichtsausdrucks ablas. War das ein weiterer Bestandteil meines Upgrades?
Ich stand auf und streckte mich.
»Wann sind Sie aus dem Gefängnis freigekommen?«
»Vor vier Jahren. Können Sie bitte rüberkommen?«
Ich sah, dass er in der Nähe zweier mit Metall eingefasster Öffnungen im Glas wartete. In einer stand ein Essenstablett. Die andere war kreisrund und etwas größer als eine geballte Faust.
Ich ging zu ihm.
»Strecken Sie Ihren Arm durch die kleinere Öffnung.«
Er hielt eine Spritze mit Injektionsnadel in der Hand.
»Warum?«
»Ich muss Ihnen etwas Blut abnehmen. Von jetzt an werden wir wöchentlich Ihr Genom analysieren.«
Ich rührte mich nicht.
»Keine Sorge. Ich will Ihnen nicht wehtun.«
Ich betrachtete ihn durch die Scheibe und fragte mich, wie die GPA jemand mit Anthony Romeros Verstand dazu hatte überreden können, in einem ihrer Geheimgefängnisse zu arbeiten.
»Ich werde mir von Ihnen keine Nadel in den Arm stechen lassen«, sagte ich.
Er seufzte tief, legte die Spritze auf den Rollwagen neben ihm und nahm ein Tablet in die Hand. Ich konnte das Display nicht erkennen und sah nur, wie seine Finger darüberstrichen.
Über mir erklang ein Geräusch. Ich sah zum Ventilator in der Glaswand hinauf. Die Zelle begann zu vibrieren, als der Motor, der den Ventilator antrieb, lauter wurde.
Als Erstes spürte ich Enge in meiner Brust.
Obwohl ich immer schneller atmete, hatte ich das Gefühl, die Luft anzuhalten.
Der Motor hinter dem Ventilator verstummte, und ich konnte nur noch mein eigenes Keuchen hören.
Ich sank auf die Knie.
Vor meinen Augen explodierten helle Lichtpunkte.
Ich fiel hin.
Meine Arme und Beine kribbelten, da sie nicht mit ausreichend sauerstoffhaltigem Blut versorgt wurden, doch das war nichts im Vergleich zum brennenden Gefühl in meiner Lunge und den hämmernden Kopfschmerzen.
Jeder Augenblick war eine Qual.
Am Rand meines Sichtfelds wurde es dunkel.
Es verengte sich immer mehr.
Und dann registrierte mein sterbendes Gehirn ein Geräusch. Im ersten Moment hielt ich es für eine akustische Halluzination, doch es wurde immer lauter und deutlicher.
Der Motor hinter dem Ventilator setzte sich wieder in Bewegung.
Ich schlug die Augen auf.
Die Dunkelheit zog sich zurück, und die Umgebung wurde wieder klarer.
Ich schnappte erneut nach Luft, doch nun füllten meine Atemzüge die äußersten Winkel meiner Lungenflügel – ein unbeschreiblich befriedigendes Gefühl.
Ich setzte mich auf.
Dr. Romero legte das Tablet weg und nahm abermals die Spritze in die Hand.
»Es bereitet mir keine Freude, Ihnen wehzutun«, sagte er. »Aber ich muss erforschen, was Sie sind. Ich hoffe, Ihnen ist klar – muss klar sein –, dass Sie die Zusammenarbeit nicht verweigern können. Jetzt schieben Sie bitte den Arm durch das Loch.«
Ich gehorchte.
Während er mir Blut abnahm, sah ich ihn an. »Ich will mit meiner Familie sprechen.«
»Ich bin nur hier, um Ihre Entwicklung zu überwachen. Mit allen anderen Fragen müssen Sie sich …«
»An wen soll ich mich denn wenden? Ich befinde mich in einer Glaszelle. Gegen meinen Willen. Können Sie sich einen Moment lang wie ein menschliches Wesen …?«
»Nein, das kann ich nicht. Ich war einmal ein Mensch. Und Sie waren ein Teil der Maschinerie, die mich meiner Menschlichkeit beraubt hat.«
»Das tut mir leid. Ehrlich. Ich habe nur meinen Job gemacht. Ich hatte …«
»Keine andere Wahl? Ich auch nicht.«
»Fühlen Sie sich wach?«, fragte Dr. Romero.
»Ja.«
»Möchten Sie noch einen Kaffee? Ich kann einen bringen lassen.«
»Nein, danke.«
»Haben Sie Hunger?«
»Nein.«
Ich saß am Schreibtisch in meiner Zelle und sah Dr. Romero an, der am Tisch auf der anderen Seite der Glaswand Platz genommen hatte. Als ich ihn verhaftet hatte, war er ein Mann in seinen besten Jahren gewesen. Es überraschte mich nicht, dass die Zeit nicht spurlos an ihm vorübergegangen war. Die Haut unter seinen Augen war dunkel und geschwollen, und seine Nasenflügel waren von einem Netz aus geplatzten Äderchen durchzogen, die darauf hindeuteten, dass er seinen Frust mit zu viel Alkohol betäubte. Und das Licht in seinen Augen, das in alten Videoaufnahmen von seinen Vorlesungen so hell geflackert hatte, war beinahe vollständig erloschen. Er sah aus wie ein Mann, der sich in einer ausweglosen Lage befand und vor meinen Augen geistig verhungerte. Trotz allem empfand ich Mitleid mit ihm – ein weiteres Opfer der Katastrophe, die meine Mutter verursacht hatte.
Neben ihm stand ein offener Laptop, auf meinem Tisch lagen ein Notizblock und mehrere Stifte.
Wir begannen mit meinen sprachlichen Fähigkeiten. Analogien. Buchstaben, die zu Wörtern sortiert werden mussten. Rätsel. Nichts davon bereitete mir Probleme.
Schließlich drehte Romero den Laptop um, damit ich die letzte Frage lesen konnte:
Welchem der folgenden Begriffe ähnelt das Wort Mytazismus am meisten?
Es war die erste echte Herausforderung.
Ich spürte, wie meine Neuronen feuerten und mein Gedächtnis zu arbeiten begann.
Dieses Wort hatte ich in meinem ganzen Leben nur ein einziges Mal gesehen.
Zwölf Jahre zuvor hatte Beth mir zu Weihnachten einen Abreißkalender mit dreihundertfünfundsechzig seltenen und obskuren Wörtern geschenkt.
Am 12. November hatte der Eintrag »Mytazismus« gelautet.
Ich sah den kleinen quadratischen Kalender, der anderthalb Monate vor dem Jahresende bereits beträchtlich zusammengeschrumpft war, deutlich vor mir. Ein Magnet hielt ihn am Kühlschrank im ersten Haus, das Beth und ich zusammen in Bethesda gekauft hatten.
Es war noch früh am Morgen, als ich das Kalenderblatt des 11. November abriss und mein Blick auf den nächsten Eintrag fiel.
12. November
MYTAZISMUS
Exzessiver oder falscher Gebrauch des Phonems »m«
»B. Fehlgebrauch«, sagte ich.
Dr. Romero machte eine Notiz. »Für diese Frage haben Sie 2,3 Sekunden länger gebraucht als für die vorherigen.«
»Ich hatte dieses Wort zuvor erst einmal gesehen.«
»Wann? In welchem Kontext?«
Ich sagte es ihm.
Er nickte. »Bislang haben Sie noch keine einzige Frage mit ›Ich weiß es nicht‹ beantwortet. Können Sie mir erklären, wie Sie auf Ihre Antworten kommen?«
»Das ist ganz einfach. Entweder ich kenne sie oder eben nicht. Und bis jetzt haben Sie mir noch kein Wort gezeigt, das ich nicht kenne.«
»Dann haben Sie also kein einziges Mal raten müssen.«
»Nein.«
»Würden Sie sagen, dass Sie ein perfektes Gedächtnis haben?«
Ich dachte darüber nach. »Ich weiß nicht, ob es perfekt ist, aber sicher sehr gut.«
»Besser als vor Denver.«
»Auf jeden Fall. Und es wird von Tag zu Tag besser.«
»Wissen Sie noch, was Sie heute vor einem Jahr getan haben?«
»Ja.«
»Wie detailliert erinnern Sie sich?«
»Als ob ich eine Kamera hinter den Augen gehabt hätte, die alles, was ich gesehen und erlebt habe, aufgezeichnet hat.«
»Wissen Sie noch, was Sie gedacht haben?«
Genau ein Jahr zuvor war ich mit Nadine in Kansas City gewesen. Wir sollten dort das Haus eines Mannes durchsuchen, der im Verdacht stand, Gen-Editierungs-Kits zum gezielten Muskelaufbau zu verkaufen. Zu seinen Kunden zählten vor allem Gewichtheber und professionelle Athleten.
Ich stellte fest, dass ich mich zu jedem beliebigen Augenblick in diesen Tag »einblenden« konnte. Ich sah, wie ich im Hotel aufwachte, mein Handy vom Nachttisch nahm und eine Textnachricht von Beth darauf sah:
Guten Morgen, mein Schatz, wie hast du geschlafen?
Ich aß Burnt Ends in Arthur Bryants Barbecue-Restaurant. Ich nahm alle Gerüche und Geräusche wahr, bis hin zu der Unterhaltung am Nachbartisch. Die Frau erzählte gerade …
»Ja«, sagte ich nun zu Romero. »Ich kann mich sogar an bestimmte Gedankengänge erinnern.«
Als Nächstes testete er meine mathematischen Fähigkeiten, womit ich noch weniger Probleme hatte als mit den Sprachfragen.
»In einem Ozean gibt es einen Schwarm Quallen«, sagte Dr. Romero. »Jeden Tag verdoppelt sich seine Größe. Nach neunzig Tagen bedeckt er den gesamten Ozean. Wie lange dauert es, bis er den halben Ozean bedeckt?«
»Sie verschwenden nur meine und Ihre Zeit«, sagte ich.
»Bitte beantworten Sie die Frage. Wir müssen uns bis zu den schwierigen Fragen steigern.«
»Neunundachtzig Tage.«
Wir befassten uns mit meiner räumlichen Vorstellungskraft, meinen visuell-perzeptiven und klassifikatorischen Fähigkeiten, meinem logischen Denkvermögen und schließlich meiner Fähigkeit, Muster zu erkennen.
»Logan, was ist in der folgenden Sequenz die nächste Zahl: 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34?«
Ich dachte über die Reihe auf dem Bildschirm nach. »Fünfundfünfzig.«
»Wie sind Sie darauf gekommen?«
»Das ist die Fibonacci-Folge. Jede Zahl ist die Summe der beiden vorhergehenden.«
»Woher kennen Sie diese Folge?«
»Ich habe sie im zweiten College-Jahr gelernt.«
»Hätten Sie sich vor dem Vorfall in Denver daran erinnert?«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Würden Sie sagen, dass Sie mittlerweile auf alles zugreifen können, dass Sie je gelesen oder gelernt haben?«
Hm. Ich dachte über seine Frage nach. »Ich weiß nicht, ob ich mich an alles erinnern kann, aber an die meisten Dinge.«
»Haben Sie an der Highschool oder im College eine Fremdsprache erlernt?«
»Französisch.«
»Wie gut konnten Sie sich vor Denver in dieser Sprache verständigen?«
»Ich hatte fast alles vergessen.«
Während der nächsten zehn Minuten testete Romero meine Französischkenntnisse. Dabei fand ich heraus, dass ich die Sprache flüssig sprechen und lesen konnte.
»Ich weiß wieder alles, was ich im College gelernt habe«, sagte ich. »Wahrscheinlich sogar mehr als damals.«
Dr. Romero zeigte mir immer schwerer zu durchschauende Zahlenreihen.
Nach einer Stunde hielt er mir eine vor die Nase, die ich nicht knacken konnte.
»Glückwunsch«, sagte ich. »Die ist mir tatsächlich zu hoch.«
Dr. Romero schloss seinen Laptop.
»Dann habe ich also nicht bestanden?«, fragte ich.
»Nein, der Test ist bereits seit fünfundvierzig Minuten vorbei. Sie haben die volle Punktzahl erreicht. Ich wollte nur sehen, wie weit Sie darüber hinaus kommen. Und bevor Sie fragen: Ich habe keine Ahnung, wie hoch Ihr IQ ist. Ich weiß nur, dass er über zweihundert liegt. Das ist das Höchste, was man mit diesem Test erfassen kann.«
»Sagen Sie das noch einmal.« Ich hatte ihn natürlich gehört, konnte es aber nicht glauben.
Er beugte sich zur Glasscheibe vor. »Ihr IQ liegt bei mindestens zweihundert. Mehr gibt dieser Test nicht her. Und Ihr Gedächtnis scheint außergewöhnlich gut zu funktionieren.«
Er stand auf und ging.
Ich rührte mich nicht vom Fleck.
Mit vierzehn hatte ich mich vor dem Übertritt in die Highschool einem IQ -Test unterzogen. Meine Mutter hatte gesagt, er sei nur ein Mittel, um zu verstehen, wie ich lernte.
Ich erreichte einen Wert von 118, was überdurchschnittlich war. Damit gehörte ich zu den intelligentesten vierzehn Prozent der Weltbevölkerung.
Obwohl meine Mutter es gut verbarg, musste sie sehr enttäuscht gewesen sein.
Wenn die Gerüchte stimmten, hatte sie selbst einen IQ von 180.
In der Highschool erhielt ich nur Bestnoten.
Anschließend ging ich nach Berkeley, aufs College meiner Wahl.
Ich war diszipliniert. Ich bemühte mich.
Und dann belegte ich einen Kurs in organischer Chemie. Ich fiel nicht durch, aber der Unterrichtsstoff flog mir auch nicht gerade zu. Viele Studenten scheiterten an der Prüfung, einige wenige bestanden sie jedoch mit Bravour. Und so ehrgeizig, wie ich darauf gelernt hatte, hätte ich eigentlich zu den Besten gehören müssen. Doch mein B- war hart erkämpft gewesen.
Nach meinem Bachelor-Examen in Biochemie und Genetik fragte ich meine Mutter, ob ich den Sommer bei ihr in Shenzhen verbringen und in ihrem Labor arbeiten dürfte. Sie erlaubte es mir.
Und da war ich nun: Mr. 118, umringt von lauter Genies, die die Welt zu retten versuchten. Je mehr Zeit ich mit ihnen verbrachte und nur einen Bruchteil ihrer Forschungen verstand, desto weniger konnte ich leugnen, was ich insgeheim bereits mein ganzes Leben gewusst hatte:
Ich würde meiner Mutter niemals geistig ebenbürtig sein.
Natürlich wusste sie selbst bereits seit meiner Kindheit, dass ich ihr nicht das Wasser reichen konnte. Ich hatte stets in ihre Fußstapfen zu treten versucht. Doch in diesem Sommer in Shenzhen rannte ich gegen eine Wand. Sie bestand aus dem DNS -Code, mit dem ich geboren worden war.
Es ist eine ausgesprochen grausame Erfahrung, wenn man sich von ganzem Herzen etwas wünscht, das man niemals verwirklichen kann.
Niemand bringt einem bei, wie man mit einem geplatzten Lebenstraum fertigwird.
Doch nun war alles anders. Mein Verstand entwickelte sich glänzend.
Drei Nächte später hatte ich Träume, die so wild waren, als hätte Salvador Dalí sie sich auf Pilzen einfallen lassen.
Ekstase.
Euphorie.
Schrecken.
Angst.
Freude.
Und neue Gefühle, die ich noch nie empfunden hatte, eine Mischung aus Vorfreude auf die Zukunft und Trauer um die Vergangenheit.
Ich träumte davon, wer ich früher gewesen war.
Und von der Person oder dem Ding, zu dem ich möglicherweise werden würde.
Ohne viel zu üben, bekam ich mühelos einen Handstand hin, sogar einen einhändigen.
Bereits beim ersten Versuch gelang mir ein perfekter Rückwärtssalto vom Bett.
Ich absolvierte mitten in meiner Zelle einhundert Liegestütze und geriet erst bei den letzten zehn ins Schwitzen. Danach ging ich zu einhändigen Liegestützen über, für die ich bis dato nicht kräftig genug gewesen war.
Ich übte, aus der Hocke auf den Schreibtisch zu springen.
Ich hoffte, dass sie zusahen und mein neu entdecktes sportliches Können ihr Interesse weckte.
Die Zelle selbst war komplett vandalensicher. Ich hatte jeden Quadratzentimeter untersucht und wusste, dass ich selbst mit den stärksten Muskeln der Welt weder das Sicherheitsglas durchstoßen noch die mit Bolzen befestigten Möbel vom Betonboden reißen konnte.
Bislang untersuchten sie nur meine geistige Entwicklung, und dazu mussten sie mich nicht aus der Zelle holen. Doch die Liste, die Edwin mir an meinem ersten Tag an diesem Ort vorgelesen hatte, deutete darüber hinaus auch auf eine ganze Reihe physischer Veränderungen hin, die sie nicht durch die Glaswand messen konnten.
Um die zu untersuchen, mussten sie mich rauslassen, und sobald sie das taten, würde ich meine Chance ergreifen.
Ich wusste, dass meine Knochendichte und Nachtsicht verbessert worden waren.
Allem Anschein nach war auch meine Schmerztoleranz gestiegen.
Wie viel Druck konnten meine Knochen seit dem Upgrade meines LRP 5-Gennetzwerks aushalten?
Wie stark war ich geworden?
Hatten sich meine Reflexe verbessert?
Wie schnell konnte ich rennen? Wie weit und wie hoch springen?
Auf all diese Fragen wollte ich Antworten haben, und die GPA vermutlich auch.
Ich trainierte jeden Tag in der Zelle und lockte sie mit meiner zunehmenden Stärke und Koordination, doch bislang hatte niemand auch nur angedeutet, dass sie daran interessiert sein könnten, meine körperlichen Fähigkeiten zu untersuchen. Ich selbst konnte dieses Thema nicht ansprechen. Zumindest nicht direkt.
Dr. Romero versuchte weiterhin, meine kognitiven Entwicklungen zu erfassen, doch um sich Fragen auszudenken, die mich herausforderten, brauchte man einen mindestens so scharfen Verstand wie meinen.
Vermutlich würden sie mich erst aus der Zelle lassen, wenn es schien, als hätte meine Intelligenz ein Plateau erreicht. Also beschloss ich, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich mich weiterhin verbesserte. Je schneller sie sich an meine Geisteskraft gewöhnten, desto früher würden sie sich Tests einfallen lassen, mit denen sie meine Physis in einem größeren Raum untersuchen konnten. Eine winzige Agency wie die GPA konnte mich nicht endlos lange festhalten, ohne dass sich ihre größeren und durchsetzungskräftigeren Partnerinstitutionen für mich zu interessieren begannen. Vermutlich hing ihnen bereits das Verteidigungsministerium im Nacken. Wie lange würde es wohl noch dauern, bis es mich übernahm?
Als ich während eines Tests so tat, als käme ich nicht gleich auf die Antwort, nahm ich zum ersten Mal bewusst wahr, wie geschärft meine Sinne mittlerweile waren.
Ich registrierte das Wusch , mit dem die Luft durch den Ventilator über mir geblasen wurde.
Meinen eigenen Herzschlag.
Wie sich infolge von mikroskopisch kleinen Luftdruckveränderungen die Härchen auf meinen Armen bewegten.
Sämtliche Oberflächen in meiner Zelle – Glas, Stoff, Stahl, Porzellan – und auch alle Strukturen auf der anderen Seite der Trennscheibe.
Es war eine beinahe überwältigende Erfahrung und erzeugte außerdem die höchst eigenartige Illusion einer langsamer verstreichenden Zeit.
Der neurologische Prozess, der es uns Menschen ermöglicht, dass wir uns inmitten eines schier endlosen Mahlstroms aus Stimuli konzentrieren können, wird sensorisches Gating genannt. Dieser Prozess filtert im Gehirn aus allen Umweltreizen kontinuierlich sämtliche unwichtigen oder redundanten Informationen heraus. Geschähe das nicht, würden diese Informationen permanent unsere höheren kortikalen Zentren überladen.
Veränderten sich meine sensorischen Verarbeitungsprozesse?
Stellen Sie sich vor, Sie spazieren über den Times Square in New York und nehmen alle Umweltreize gleichzeitig und gleich stark wahr. Die winzige abgeplatzte Stelle im Gehsteig drängt sich mit der gleichen Wucht in Ihr Bewusstsein wie das Erscheinungsbild und die Gesprächsfetzen der entgegenkommenden Passanten oder die von Urin, Autoabgasen und verschiedenen Imbisswagen ausgehenden Gerüche. Sie hören, sehen, riechen und fühlen alles, was diese betriebsame Großstadt ausmacht.
Ein gestörtes sensorisches Gating ist eines der Hauptmerkmale für Schizophrenie und trägt dazu bei, dass Menschen wahnsinnig werden. Eine Existenz ohne diese Filterfunktion wäre die reine Qual.
Vielleicht war mein sensorisches Gating runterreguliert worden. Ich würde meinen Verstand umprogrammieren müssen, um eine Reizüberflutung zu verhindern, und mich darauf trainieren müssen, mehr Input aufzunehmen, ohne dabei die Konzentration zu verlieren. Ich hielt es durchaus für möglich, dass ich so etwas tun konnte. Immerhin berechnete ich, während ich mir all diese Gedanken machte, gerade gleichzeitig die Wurzel von Pi.
Vielleicht erklärte diese Modifikation, weshalb ich mittlerweile in allem um mich herum Muster erkannte.
Zum Beispiel ging Dr. Romero vor Beginn unserer Sitzungen immer erst zum Terminal und loggte sich ein. Wenn ich die winzigen Muskelbewegungen in seinen Unterarmen und Händen sah und die Tastenanschläge hörte – fünf mit der linken Hand (der kleine Finger ganz sanft [q, a, oder z], der Ringfinger etwas fester [w, s oder x, vielleicht auch 1]), sechs mit der rechten (kräftige Anschläge mit dem Zeige- und dem Mittelfinger [u, j oder n; dann i, k, 8 oder 9]) –, war es, als sähe ich seinen Benutzernamen und das Passwort in Großbuchstaben auf die Glaswand geschrieben.
Am meisten half mir diese Modifikation dabei, seine Körpersprache zu deuten.
Wenn er nahe genug herangekommen war, achtete ich darauf, wie schnell sein Herz schlug und wie sehr sich seine Pupillen erweiterten.
Was ihn schneller atmen ließ.
Was ihn entspannte.
Und ich erkannte, dass ich mit den kleinsten Gesten seine autonomen Körperfunktionen beeinflussen konnte.
Während ich diese Dinge bei Romero und meinen anderen Aufsehern beobachtete, erforschte ich sie gleichzeitig auch bei mir selbst.
Irgendwann würde ich vielleicht so gut verstehen, wie äußere Reize meine Vitalwerte veränderten, dass ich sie kontrollieren konnte.
Im Schlaf hörte ich, wie sich Edwin meinem Käfig näherte. Ich setzte mich auf, rieb mir die Augen und sah ihn mit der aufgeschlagenen Washington Post in den Händen auf der anderen Seite der Glaswand sitzen.
Ich stieg aus dem Bett, ging zum Waschbecken und spritzte mir Wasser ins Gesicht.
»Was gibt’s Neues in der Welt?«, fragte ich, während ich mir die Zähne putzte.
»Einen Satellitenkrieg. China wirft uns vor, wir hätten eine Geheimmission ins All geschickt, um einen ihrer Militärsatelliten zu hacken.«
Ich setzte mich an den Schreibtisch und sah Edwin durch das Glas an. »Klingt durchaus glaubhaft.«
Edwin faltete umständlich die Zeitung zusammen – der Anblick war kaum auszuhalten – und sah mich an. Er war hier, um mir ein paar neue Fragen über meine Mutter zu stellen.
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nicht weiß …«
»Ich glaube Ihnen, dass Sie keine Ahnung haben, wo sie ist. Sie können uns auf andere Weise helfen.«
»Das werde ich aber nicht tun.«
Edwin nickte. »Wie Sie meinen. Aber vergessen Sie nicht: Sie sind hier drin, und die Menschen, die Sie lieben, sind draußen bei uns.«
Er machte eine Pause und ließ die unverhohlene Drohung auf mich wirken. Vor einem Monat hätte sie vielleicht noch bei mir funktioniert, doch mittlerweile war ich imstande, Edwin zu durchschauen. Ich hatte nahezu perfekte Erinnerungen an jeden Kontakt mit ihm, und ich wusste, dass er meiner Familie nichts antun würde. Wenn ich etwas für ihn erledigen sollte, gab es Dinge, die er mir im Gegenzug dafür anbieten konnte. Am dringendsten wollte ich mit Beth und Ava kommunizieren.
»Sie stellen das falsch an«, sagte ich.
»Wovon sprechen Sie?«
»Sie sollten das Zuckerbrot verwenden, nicht die Peitsche.«
»Unterhielt sie ein Geheimlabor?«, fragte er.
»Was springt für mich dabei heraus?«
Edwin blickte zum Ventilator in der Zellendecke hinauf. Dann sah er wieder mich an. Er rümpfte die Nase und hob für einen Sekundenbruchteil die Oberlippe.
Ein Mikroausdruck des Ekels.
»Sie denken darüber nach, die Luft aus der Zelle zu saugen«, sagte ich. »Romero konnte das tun, weil er mich zu Recht für den Verlust seines Einkommens und seiner Lebensaufgabe verantwortlich macht. Sie dagegen sind nicht wütend auf mich. Die Vorstellung, Informationen aus mir herauszufoltern, bereitet Ihnen körperliches Unbehagen.« Er seufzte genervt. »Und jetzt überlegen Sie, einen Ihrer Helfer die Drecksarbeit erledigen zu lassen, aber Sie sind nicht sicher, ob das reichen wird, um Ihre Schuldgefühle …«
»Hören Sie schon auf damit. Mein Gott. Sie sind wirklich nicht mehr der Logan, den ich kannte.«
Ich hatte ihn aufgewühlt. Gut. Nun würde ich ihm einen Knochen hinwerfen.
»Ich weiß nichts von einem Geheimlabor meiner Mutter.«
Ein Ausdruck von Erleichterung glitt über sein Gesicht.
»Aber um dieses Upgrade zu konstruieren, hätte sie natürlich eins gebraucht.«
»Und nicht irgendeine Klitsche …«, sagte Edwin.
»Nein«, erwiderte ich. »Ein hochwertiges molekularbiologisches Labor mit Biosicherheitsstufe vier für Zellkulturen und Tierversuche. Außerdem hätte sie Lieferanten für exotische biologische Substanzen benötigt. Und sie hätte es nicht allein geschafft.«
»Wie viele …?«
»Mindestens zwei, wahrscheinlich eher fünf Leute.«
»Haben Sie irgendeine Idee …«
Es war zum Auswachsen: Ich wusste immer schon lange im Voraus, welche Frage er stellen würde. Was für eine Zeitverschwendung.
»… wer diese Leute sein könnten?«
»Als Team müssten sie Biochemie, Molekularbiologie, Genetik und Bioinformatik abdecken. Jeder Einzelne müsste zu den Besten seines jeweiligen Forschungszweigs gehören. Außerdem ginge das Ganze wahrscheinlich nicht ohne einen Quanten-Annealing- oder Exascale-Rechner.«
Ich sprach zu schnell. Eine Durchschnittsperson äußerte zwischen hundert und hundertdreißig Wörter pro Minute. Bei mir waren es fast hundertachtzig. Wann hatte ich bloß damit angefangen? Ich musste das Tempo drosseln, wenn ich nicht die Aufmerksamkeit auf meinen noch immer rasch wachsenden Verstand lenken wollte. Damit würde ich sie nur noch nervöser machen, und je mehr sie sich vor mir fürchteten, desto unwahrscheinlicher war es, dass sie mich aus der Zelle lassen und draußen weiter untersuchen würden.
»Dann bräuchte sie also einen Computerfachmann.«
Hatte ich das nicht gerade gesagt? »Ja, und zwar einen richtig guten. Einen, der komplizierte Programme schreiben und eine selbstlernende KI in Gang bringen kann.«
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wer diese Leute sein könnten?«, wiederholte er die Frage, die er 12,5 Sekunden zuvor schon einmal gestellt hatte.
Die Formulierung war zwar etwas missverständlich, aber ich ging davon aus, dass er Namen hören wollte.
»Ihre Kollegen aus Shenzhen sind entweder tot oder im Gefängnis. Ich weiß nicht, wen sie nach ihrem fingierten Tod kennengelernt oder angeheuert haben könnte.«
»Gab es im Umfeld Ihrer Mutter noch irgendwelche anderen potenziell geeigneten Leute, an die sie sich gewandt haben könnte?«
»Ich weiß nicht, was ihre Freunde und Kollegen nach der Hungersnot über sie gedacht haben. Ich nehme an, die meisten hätten sie abblitzen lassen oder angezeigt. Aber da kommt mir gerade eine Idee …«
»Was für eine?«
»Ich könnte sie für Sie finden.«
Er beugte sich interessiert vor. »Sie meinen … wenn wir Sie rauslassen?«
Nun würde ich herausfinden, was für Edwin wichtiger war – mich zu untersuchen oder Miriam zu finden. Aber es war natürlich auch möglich, dass nicht er darüber entschied, was aus mir wurde.
»Tracken Sie mich«, sagte ich. »Heften Sie sich an meine Fersen, wenn Sie wollen, aber ich bin der Einzige, der das für Sie erledigen kann.«
Er dachte nach. »Darauf kann ich mich nicht einlassen«, sagte er schließlich.
»Aber Sie erwarten, dass ich hier in meiner Glaszelle bleibe und Ihnen helfe, oder wie? Und gleichzeitig lassen Sie die einzige Person frei, die wirklich etwas wissen könnte.«
»Was Soren anbelangt, war ich nicht ganz ehrlich zu Ihnen«, sagte Edwin.
»Lassen Sie mich raten: Er ist nie offiziell in unser System eingebucht worden. Sie haben sich von einem DISA -Richter die Erlaubnis geben lassen, ihn neunzig Tage lang festzuhalten.«
Edwin schwieg und versuchte vergeblich, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren.
»Wo ist er?«, fragte ich. »In einem Ihrer anderen Geheimgefängnisse? Oder in diesem hier?«
»Hier ist er nicht.«
»Sie verhören ihn«, sagte ich.
Edwin nickte.
»Ist es ein verschärftes Verhör?«
Er nickte erneut.
»Ein virtuelles Verhör?«
Er gab mir keine Antwort, aber ich las sie ihm vom Gesicht ab.
Ich hatte bereits gehört, dass ausländische Bioterroristen in Extremfällen virtuell verhört wurden, doch es enttäuschte mich zutiefst, dieses Gerücht von einem Mann bestätigt zu bekommen, den ich bislang respektiert hatte. Sie verhörten Soren mit modernsten Gerätschaften in einer virtuellen Welt. Vermutlich hatten sie sich in seine Amygdala und die präfrontalen beziehungsweise limbischen Gehirnregionen gehackt, um seinem Verstand alle möglichen freudvollen und schmerzhaften Erfahrungen vorzugaukeln. Die virtuelle Folter war zehn Jahre zuvor von den Vereinten Nationen verboten worden. Da sich Verstöße nur schwer nachweisen ließen, war es jedoch so gut wie unmöglich, dieses Verbot durchzusetzen.
»Es hat wohl keinen Sinn, Sie daran zu erinnern, dass er ein amerikanischer Staatsbürger ist«, sagte ich. »Ach, Moment, das bin ich ja auch. Dass er ein menschliches Wesen ist, interessiert Sie ganz sicher nicht. Und, was haben Sie bislang aus ihm herausbekommen?«
»Nichts. Anscheinend hat er wirklich keine Ahnung.« Edwin stand auf und nahm seine Zeitung.
»Ich hätte Ihre Fragen nicht beantworten müssen, Edwin«, sagte ich.
»Ich weiß.«
»Ich möchte, dass meine Familie erfährt, dass es mir gut geht. Ich will mit ihnen sprechen und ihre Gesichter sehen.«
Die Art, wie er mich ansah – mit geschürzten Lippen und erhobenen Augenbrauen –, zeugte von verdrängter Trauer. Ich sah, dass seine Halsschlagader mit hundertneunundzwanzig Schlägen pro Minute pulsierte. Schneller als zuvor. Ich hatte keine Ahnung, wieso ich es so genau wusste. Ich hatte die Schläge nicht bewusst gezählt. Ich wusste es einfach, da ich alles detailliert wahrnahm.
Edwin war traurig und nervös. Ich hatte ihn ertappt. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass er mich an meinem ersten Tag an diesem Ort angelogen hatte. Er hatte meiner Familie nicht erzählt, dass ich wegen des Verdachts auf Selbst-Editierung verhaftet worden war.
Vor meinem geistigen Auge lief ein hochaufgelöster Film meiner eigenen Beerdigung ab. Ich sah den verschlossenen Sarg. Beth und Ava, die weinten. Edwin, der ihnen versicherte, was für ein Held ich doch gewesen sei. Die Stille, die in unserem Haus einsetzte, als die Trauergäste gegangen waren und die echte Trauer begann.
»Sie haben ihnen erzählt, ich wäre bei einer Razzia ums Leben gekommen, nicht wahr?«
»Es tut mir leid«, sagte er nur und ging davon.
Ich zog mich aus und trat in die Dusche. Die Kabine war winzig und hatte Glaswände. Ich wusste, dass irgendwo jemand saß und jede meiner Bewegungen im Auge behielt.
Ich vermied es, an Beth und Ava zu denken. Die Vorstellung, wie sie um mich trauerten, hätte mir das Herz gebrochen.
Und so dachte ich, während das heiße Wasser auf mich einprasselte, an Mom. Wo sie in diesem Moment wohl war? Ich fragte mich, was sie noch plante. Hatte sie sich ebenfalls mit dem Upgrade infiziert?
Plötzlich erinnerte ich mich an ein Gespräch, das in China stattgefunden hatte, bevor alles schiefgegangen war.
Wenn Miriam hin und wieder Dampf ablassen und ihre Doktoranden aus dem Labor hatte herausholen wollen, waren wir in eine belgische Bierkneipe namens Der stolpernde Mönch im Nanshan-Distrikt gegangen.
Vor Denver und dem Upgrade meines Episodengedächtnisses hätte ich mich niemals so kristallklar an diesen Moment erinnert: Eines Abends geriet unsere Gruppe nach reichlich Alkoholgenuss in eine hitzige Debatte. Ihr Ausgangspunkt war eine hypothetische Frage meiner Mutter gewesen: Was ist die größte Bedrohung für unsere Spezies?
Alle waren betrunken. Fröhlich und laut riefen sie ihre Vorschläge:
»Die steigenden Meeresspiegel.«
»Wüstenbildung.«
»Kippende Ökosysteme.«
»Die gefährlich hohe CO 2 -Konzentration in der Atmosphäre.«
»Alle für uns existenziellen Bedrohungen hängen mit dem Klimawandel zusammen«, sagte Basri, der Postdoc, der nach meiner Mutter die Nummer zwei bei diesem Projekt war.
Meine Mutter saß währenddessen mit einem Glas Westvleteren 12 in der Hand am Ende des Tischs und beobachtete uns. Ihren großen, undurchdringlichen Augen entging nichts. »Ihr habt alle unrecht«, sagte sie schließlich.
Die anderen verstummten und drehten sich zu ihr um. Miriam hatte kaum die Stimme gehoben. Eigentlich hätten wir sie in dem Lärm, der in der Bar herrschte, gar nicht hören dürfen, doch wenn meine Mutter von ihren Jüngern umgeben war, hatte sie eine fast magische Präsenz.
»Findest du nicht, dass der Klimawandel die größte Bedrohung unserer Zeit ist?«, fragte Basri.
Miriam sah ihn fest an. »Die größte Bedrohung für unsere Spezies sind wir selbst.«
Wir übrigen am Tisch sahen uns unsicher an. Keiner wusste, was sie damit meinte.
Während ich nun, zwanzig Jahre später, in der Mikrodusche meiner Zelle stand, fiel mir wieder ganz genau ein, dass ich nicht den blassesten Schimmer gehabt hatte, worüber sie sprach. Wie dumm ich doch gewesen war.
»Hunger, Seuchen, Kriege, die Erderwärmung – all diese Bedrohungen hängen wie Gewitterwolken über unseren Köpfen«, hatte meine Mutter gesagt. »Doch neunundneunzig Prozent der Menschheit liest beim Aufwachen die neuesten Nachrichten über unsere kollabierende Welt und macht den Rest des Tages weiter, als wäre nichts geschehen.« Sie sah sich am Tisch um. »Ihr alle versucht, mit mir hier in Shenzhen eine Missernte abzuwenden. Vielleicht können wir mit dem, was wir tun, auch zukünftige Hungersnöte verhindern. Wir bemühen uns, die Probleme zu lösen.« Sie beugte sich vor und wirkte plötzlich wie elektrisiert. »Stellt euch nur vor, was wir schaffen könnten, wenn mehr Menschen wie wir wären. Es gäbe viele neue Pflanzen, um die Millionen von Hungernden zu ernähren. Wir könnten dafür sorgen, dass sich keine Pandemien mehr ausbreiten. Wir könnten die meisten Krankheiten heilen. Kriege verhindern und die Armut beseitigen. Es gäbe kein massenhaftes Artensterben mehr. Wir hätten saubere, erneuerbare und unbeschränkte Energie. Wir würden uns im Sonnensystem ausbreiten.«
Während ich unter der Dusche an ihre Worte dachte, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.
»Du willst damit sagen, dass die Menschen zu dumm sind, oder?«, hatte Basri gesagt.
»Nicht nur das«, erwiderte Miriam. »Sie sind auch ganz groß darin, alles zu verdrängen. Sie sind selbstsüchtig und hoffen auf Wunder. Wir Menschen sind keine rationalen Wesen. Wir machen es uns lieber bequem, als einen ungeschönten Blick auf die Realität zu werfen. Wir konsumieren stolz immer weiter und reden uns ein, dass die Monster schon verschwinden werden, wenn wir den Kopf nur tief genug in den Sand stecken. Mit anderen Worten: Unsere Spezies denkt gar nicht daran, sich selbst zu helfen. Wir weigern uns zu tun, was getan werden muss. Jede Bedrohung, mit der wir uns konfrontiert sehen, basiert letzten Endes auf diesem typisch menschlichen Versagen.«
Ich stellte die Dusche ab und zog mich an. Währenddessen brachte mir einer meiner Aufseher – Wie sonst sollte ich sie nennen? – das Frühstück.
Ich setzte mich an den Schreibtisch und atmete den angenehm würzigen Kaffeeduft ein.
Meine Gedanken rasten noch immer.
Nach der Bierkneipe hatte ich mit meiner Mutter ein Taxi zu dem Haus genommen, das sie im Bao’an-Distrikt an der Qianhai-Bucht gemietet hatte.
Ich hatte zu viel getrunken und sah die vorbeiziehenden Lichter von Shenzhen ziemlich verschwommen.
Ich wandte mich zu meiner Mutter um, die aus dem Fenster blickte und zweifellos über die Arbeit des nächsten Tages nachgrübelte. Sie arbeitete ohne Pause.
Und da ich nicht ganz bei mir war, stellte ich ihr eine Frage, die mir im nüchternen Zustand niemals über die Lippen gekommen wäre: »Würdest du es tun, wenn du es könntest? Ich meine, die Menschen mehr wie uns machen?« Ich bemerkte meinen Fehler und korrigierte mich rasch: »Mehr wie dich?«
»Ja«, erwiderte sie. »Das würde ich.«
»Aber es ist doch bloß ein Traum, richtig? Nur eine Idee?«
Sie zuckte die Achseln. »Wer die Dienste von The Story of You in Anspruch nehmen will, muss zuerst einen aus dreihundertfünfzig Fragen bestehenden Persönlichkeitstest durchlaufen und mit unserer App einen kompletten Body-Scan von sich erstellen. Dabei gewinnen wir Unmengen von Daten. Ich habe den Genom-Code von neunundsiebzig Millionen unterschiedlichen Personen aus aller Welt, zu denen jeweils dreiundzwanzigtausend Phänotyp-Daten gehören. Wer weiß, was ich mit einer ausreichend leistungsstarken KI und den richtigen Fragen alles mit diesen Informationen anfangen könnte.« Sie sah mich mit ihrem typischen, beunruhigend eindringlichen Blick an. »Eine neue Lebensform zu erschaffen, Krankheiten zu heilen und das, was wir mit den Heuschrecken erreichen wollen, ist eine Sache. Aber die Denkweise einer empfindungsfähigen Spezies zu verändern … das wäre der ultimative Beweis für die Macht des Gen-Editierens.«
In Anbetracht der Veränderungen, die ich in den letzten Wochen durchgemacht hatte, bekam dieses Gespräch eine ganz neue Bedeutung. Da meine Mutter mit ein paar editierten Reisfeldern bereits zweihundert Millionen Menschen getötet hatte, fragte ich mich, welche Verwüstungen sie – absichtlich oder ungewollt – erst anrichten würde, wenn sie so etwas Fundamentales wie die Denkprozesse des Homo sapiens zu verändern versuchte.
Ich träumte von Beth und Ava.
Wir standen auf einer flachen, konturlosen Ebene.
Der Himmel war genauso grau wie das Land, und es hätte keinerlei räumliche Dimensionen gegeben – keinen Horizont, keine Tiefenwahrnehmung –, wenn der Boden nicht minimal dunkler gewesen wäre.
Plötzlich ging zwischen uns ein Riss durch die Erde.
Ein schwarzer Abgrund, der immer breiter klaffte.
Ich wollte zu ihnen hinüberspringen, doch die Entfernung war bereits zu groß.
Und so standen wir nur da und sahen zu, wie wir immer weiter auseinanderdrifteten.
Ich stieg aus den Tiefen meines Unterbewusstseins auf und hörte, noch bevor ich ganz wach war, ein Geräusch.
Ein leises Bumm, Bumm, Bumm.
Waren das Schüsse?
Ich setzte mich auf und öffnete die Augen. Trotz der Dunkelheit konnte ich gut sehen.
Ich befand mich allein in der Zelle.
Ein Schrei erklang – gedämpft durch die Außenwände des Raums und die Sicherheitsglasscheiben der Zelle.
Ein Mann stürmte keuchend durch die Tür neben dem Terminal.
Ich erkannte ihn sofort. Es war der untersetzte Kerl, der im dritten Stock des Constitution Center aufgetaucht war, um mich zu verhaften. In einer Hand hielt er eine Pistole, die andere drückte er sich auf die Seite. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, und auch seine Fußabdrücke waren blutig.
»Was ist los?«, fragte ich.
Als er sich zu mir umdrehte, flog erneut die Tür auf, und sein Kopf explodierte, begleitet von einem ohrenbetäubenden Knall, zu rotem Sprühnebel.
Jemand trat durch die Tür. Die Person trug einen schwarzen Mantel, eine taktische Schrotflinte und eine Fechtmaske. Das Erste, was mir an ihr auffiel, waren ihre Bewegungen. Sie wirkten einfach richtig , mühelos und effizient. In letzter Zeit war mir bewusst geworden, wie tapsig und ungenau Romero, Edwin und meine anderen Aufseher sich bewegten. Wie riesige Babys, denen man sofort jede Absicht ansah.
Die Gestalt deutete auf mein Bett.
Ich wusste genau, was sie wollte.
Ich schleifte die Matratze zur anderen Seite der Zelle und kauerte mich dahinter, als wäre sie ein Schild.
Die Schüsse waren infernalisch laut. Glassplitter bohrten sich in die Matratze und regneten auf mich herab.
Als es still wurde, warf ich die Matratze zur Seite und stand auf.
Die Sicherheitsglaswände waren der Schrotmunition nicht gewachsen gewesen.
Zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Tagen verließ ich meine Zelle.
Meine Ohren dröhnten.
Die Gestalt mit der Fechtmaske wandte sich mir zu.
»Wer sind Sie?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. Nicht hier.
»Sie werden Verstärkung schicken«, sagte ich. »Mehr Leute, als Sie …«
Eine verzerrte Stimme schnitt mir das Wort ab: »Du hast keine Ahnung, mit wem und was ich fertigwerde.«
Ich bückte mich, hob die Pistole auf, die der Mann gleichzeitig mit seinem Kopf verloren hatte, und sah nach, wie viele Kugeln in der Trommel waren.
»Bleib in meiner Nähe«, sagte die Gestalt.
Ich folgte ihr aus dem Raum und durch einen schwach beleuchteten Korridor, an dessen Wände Kabel geklebt waren. Die Pistole, die ich hielt, war eine Smith & Wesson, Kaliber .45. Der Griff war blutverschmiert.
Ein Stück weiter flackerte eine Neonröhre an der Decke und tauchte den Korridor immer wieder in Dunkelheit.
Wir gingen an zwei Männern vorbei, die in großen Blutlachen lagen. Es hatte sie erwischt, als sie aus einem Raum voller Monitore gekommen waren, die das Innere meiner Zelle aus den verschiedensten Perspektiven zeigten.
»Du hast aber nicht Edwin Rogers oder einen pummeligen Mann getötet, der wie ein Wissenschaftler aussieht, oder?«, fragte ich.
»Nein, nur bewaffnete Wachen.«
Als wir uns der nächsten Kreuzung näherten, hörte ich Stimmen.
Sie hob einen Arm.
Ich blieb stehen.
Sie schlang sich das Schrotgewehr über die Schulter und ging mit schnellen Schritten auf die Kreuzung zu, wo gerade drei Männer um die Ecke bogen.
Schwerbewaffnete Sicherheitskräfte.
Dem ersten Mann schlitzte sie mit einem Nahkampfmesser die Kehle auf. Der zweite hob, ohne zu zögern, seine riesige Pistole.
Ich rechnete fest damit, gleich eine Patrone die Fechtmaske durchschlagen zu sehen. Als der Mann den Abzug betätigte, wich sie jedoch mit einem perfekt getimten Ausfallschritt zur Seite und das Geschoss zerfetzte das Gesicht des dritten Sicherheitsmanns.
Als der Mann erneut seine Waffe auf sie zu richten versuchte, machte sie einen weiteren Schritt zur Seite, packte seinen Arm und brach ihn an drei verschiedenen Stellen.
Es sah aus, als nähme sie eine Schusswaffe auseinander – nur dass es sich um eine Extremität aus Fleisch und Knochen handelte.
Als der Mann aufheulte, schlitzte sie ihm mit zwei schnellen Bewegungen den Bauch auf.
Der Mann sank auf die Knie und versuchte mit seinem intakten Arm, alles wieder in sich hineinzustopfen, was aus ihm herausfiel.
Das ganze Zwischenspiel hatte 2,5 Sekunden gedauert. Die Person, die mich aus meiner Zelle gerettet hatte, war nicht sonderlich schnell, aber sehr elegant vorgegangen – wie bei einem tödlichen Ballett.
»Los«, rief sie mir zu.
Wir nahmen einen anderen Korridor, der an einer Wendeltreppe endete.
Ich folgte ihr hinauf, unsere Schritte klapperten auf dem Metall.
Oben angekommen, versuchte sie, eine Luke zu öffnen, doch die gab nicht nach.
»Jemand hat sie zugesperrt. Es gibt noch einen anderen Ausgang, aber wir müssen an weiteren Wachen vorbei, um dorthin zu gelangen.«
Ich hatte eine Idee. »Warte hier.«
Ich rannte durch die Korridore in den Raum zurück, in dem sich meine Zelle befunden hatte. Dort setzte ich mich an das Terminal, aktivierte den Monitor und gab Romeros Benutzernamen ein. Sein genaues Passwort kannte ich nicht, wusste aber, dass es eine von siebzehn Varianten sein musste.
Mein sechster Versuch war von Erfolg gekrönt. Ich durchwühlte die Dateien im Rechner, bis ich auf ein Sicherheitsprotokoll stieß, mit dem sich mehrere Zugänge öffnen ließen – unter anderem zu meiner Zelle, einer Waffenkammer und einem Überwachungsraum – sowie etwas, das Fluchtluke hieß.
Ich entriegelte diese Luke und rannte ein weiteres Mal durch die Korridore.
Als ich das obere Ende der Leiter erreicht hatte, bückte sich die Gestalt mit der Fechtmaske zu mir herab und zog mich in die Dunkelheit hinauf.
Es war eiskalt.
Als sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah ich Wände, an denen Werkzeuge hingen, und dicke Balken über mir. Eine Leiter führte zu einem Heuboden hinauf. Darunter stand ein alter Traktor.
Der Zellenkomplex war unter einer alten Scheune errichtet worden.
Wir rannten zu einer offenen Tür.
Sie blieb auf der Schwelle stehen und spähte hinaus.
Der grelle Mond tauchte die Weide vor uns in leuchtend blaues Licht.
Ein Stück entfernt stand ein Farmhaus. Die Fenster waren beleuchtet.
Mein Atem bildete Wölkchen.
Die Gestalt wandte sich zu mir um. »Kannst du rennen?«
Ich nickte.
Wir hasteten über das gefrorene Gras. Ich war zum ersten Mal mit meinem veränderten Körper im Freien und konnte so schnell rennen wie noch nie. Ich fühlte mich wieder jung und voll unerschöpflicher Energie. Wir rannten sechshundert Meter bis zum Weidezaun, sprangen hinüber auf eine Kiesstraße und entfernten uns weiter vom Farmhaus und der Scheune.
Gebirgsausläufer umgaben die Landschaft wie gefrorene schwarze Wellen.
Im Mondlicht glitzerten Hochweiden.
Ich blickte immer wieder über die Schulter zum beleuchteten Farmhaus zurück.
Nach vierhundert Metern erreichten wir ein Tor, das mit einem Rinderschutzgitter gesichert war.
Wir stiegen darüber.
Das Mondlicht fiel auf den verwitterten Asphaltbelag einer Landstraße.
Das einzige Geräusch stammte vom eisigen Wind, der durch die letzten Blätter in den skelettartigen Ästen über uns fuhr. Trotzdem drohten die vielen Eindrücke meine neuen, geschärften Sinne zu überwältigen.
Wir sprinteten am Straßenrand entlang. Nach ungefähr dreihundert Metern wurde die Gestalt vor mir langsamer und deutete auf etwas, das so gut versteckt war, dass ich einen Moment brauchte, bis ich im dunklen Unterholz einen Blick auf den Google Roadster erhaschte.
Wir stiegen ein.
Als die Türen sich schlossen, zog die Gestalt auf dem Fahrersitz die Maske ab und warf sie zusammen mit dem Stimmverzerrer auf den Rücksitz.
Ich starrte über die Mittelkonsole hinweg meine Schwester an.