Als es dunkel wurde , erreichten wir St. Louis. Wir stellten das Auto an einer Ladestation ab und suchten zwischen den geschlossenen Geschäften nach einem offenen Restaurant.
Das letzte Überbleibsel des Gateway Arch – eine wacklig wirkende, vierundzwanzig Meter hohe, mit rostfreiem Stahl ummantelte Nadel – gleißte in der untergehenden Sonne. Dieses berühmte Wahrzeichen war sieben Jahre zuvor von einem Sturm zerstört und anschließend nicht wiederaufgebaut worden. Der Gouverneur hatte das Geld lieber in Essensmarken und die Unterstützung anderer verwüsteter Stadtviertel investiert.
Seit meinem Upgrade war es eine aufwühlende Erfahrung, die Welt zu sehen. So musste es sich anfühlen, wenn man zum ersten Mal Farben wahrnahm.
Alles wirkte deutlicher, heller und kontrastreicher.
Am meisten faszinierten mich die Menschen.
Ich sah einen Straßenmusiker, der Saxofon spielte, und konnte nicht anders, als jedes Detail an ihm zu analysieren: die Sonnenflecken auf seinem Gesicht, seine Atemfrequenz, was er anhatte, den zerschlissenen umgedrehten Hut für die Almosen und die Schrapnellwunden an seinem Hals. Er belastete vor allem sein linkes Bein, was auf eine alte Verletzung im anderen hindeutete. Ich konnte förmlich die Granate sehen, die rechts von ihm explodiert war. Zuletzt bemerkte ich die Tätowierung, die teilweise unter seinem linken Hemdsärmel hervorlugte. Der Anker aus dem Emblem des Marine Corps. Und auf einmal sah ich die Vita dieses Mannes vor mir: Er war bei einem Gefecht in der Ukraine verwundet worden und in die Heimat zurückgekehrt, wo ihn eine unfähige Veteranenverwaltung, eine dürftige Rente, eine beschissene Gesundheitsversorgung und …
Eine Frau ging an uns vorbei. Sie trug ein körperbetontes Kleid, hochhackige Schuhe und eine Sonnenbrille. Ihr Herz raste, und ihre angespannten Wangen waren gerötet – ein Palimpsest weggewischter Tränen. Neunzehn Sekunden zuvor hatte ich sie aus einer Bar im nächsten Straßenblock herauskommen sehen, wo gerade irgendeine Beziehung zwischen ihr und einem anderen Menschen geendet hatte.
Ich kämpfte darum, von all den Reizen nicht überwältigt zu werden. Nicht nur die Menschen, auch die ständig wechselnden Eindrücke des städtischen Lebens – Boote, Drohnen, der Fußgängerverkehr, der Flugverkehr, der Straßenverkehr – erregten meine Neugier. Ich erkannte Muster in ihnen, die ich nie zuvor wahrgenommen hatte.
Natürlich war das ein Problem meines sensorischen Gatings.
Da ich der permanenten Reizüberflutung nicht entkommen konnte, musste ich lernen, alles gleichzeitig zu verarbeiten und dabei nicht das Atmen zu vergessen.
Ich fühlte mich unendlich neugierig.
Das einzige offene Lokal war eine Pizzeria mit Holzofen. Von ihr aus konnte man den Mississippi und die sieben Brücken sehen, die den Fluss in der Nähe der Innenstadt überspannten.
Wir stopften das Essen in uns hinein und machten uns wieder auf den Weg.
Ich war mit Fahren dran.
Wir nahmen die I-44 durch Missouri.
Ich war froh über die Dunkelheit, in der mich weniger Sinneseindrücke von der Straße ablenkten.
Kara schlief nach einer Stunde ein, und von da an gab es nur noch mich, meine Gedanken und den Asphalt, der unter den Scheinwerfern des nahezu lautlosen Autos hindurchglitt.
Ich dachte an meine Mutter.
Nach dem Fehlschlag in China waren wir nach Amerika heimgekehrt. In meiner Ignoranz war mir nicht klar gewesen, wie sehr wir es verbockt hatten. Nur, dass unser Experiment mit den Heuschrecken schiefgegangen war.
Miriam hatte natürlich genau gewusst, was geschehen würde.
Sie zog wieder in unser Ulmenholzhaus in Berkeley ein, was ich seltsam und unsagbar traurig fand. Seit Dad und Max tot waren und Kara als Soldatin im Ausland diente, erinnerte mich die Stille in unserem alten Heim nur daran, was wir alles verloren hatten.
Es war ein Mahnmal für den tiefen Fall der Familie Ramsay.
Meine perfekte Erinnerung daran schmerzte mich.
Ich wäre nicht gekommen, wenn Mom mich nicht dazu aufgefordert hätte.
Sie kocht uns etwas zum Abendessen, und wir sitzen zunächst in einer Art tragischem Schweigen am alten Esstisch.
Wir sprechen nicht über Shenzhen oder darüber, was unsere Heuschrecken in den Reisfeldern anrichten.
Mutter neigt nicht zu Nostalgie, doch heute Abend macht sie eine Ausnahme.
Sie fragt mich nach meinen schönsten Erinnerungen an meine Kindheit in diesem Haus.
Sie erzählt mir sogar ein paar von ihren.
Und dann sagt sie etwas zu mir, das ich trotz meines beschränkten Verstandes niemals vergessen werde: »Das Leben entwickelt sich niemals so, wie du es willst oder erwartest. Und selbst wenn du genau das bekommst, was du dir wünscht, ist es selten das, was du wirklich gewollt hast. Wenn du also einen Funken Glück und Frieden findest, mein Sohn, dann sei dankbar und lebe dein Leben. Bemühe dich nicht um mehr. Denn den meisten Menschen ist nicht einmal solch ein Funke vergönnt.«
»Ist es das, was du getan hast?«, frage ich. »Hast du dich um mehr bemüht?«
Sie starrt mich über den Tisch hinweg an.
Später sitzt sie am Stutzflügel und spielt mein Lieblingsstück – »Träumerei« aus Schumanns Kinderszenen. Sie ist betrunken, das Klavier ein wenig verstimmt, und hin und wieder trifft sie die Tasten nicht richtig.
Ich denke an andere, bessere Zeiten, als sie ohne den geringsten Fehler für unsere ganze Familie gespielt hat – an Weihnachten, Silvester oder irgendwelchen ganz normalen Abenden, an denen wir alle zusammen und selig gewesen waren. Wie hätten wir auch ahnen sollen, dass es nicht immer so bleiben würde.
Mom bietet mir an, mein altes Bett zu beziehen, aber ich behaupte, ich müsste ins Studentenwohnheim zurückkehren und auf eine Abschlussprüfung lernen.
Sie bringt mich zur Tür und umarmt mich zum Abschied.
Ihr Griff ist fest, als würde sie sich an etwas klammern, das ihr unweigerlich entgleitet.
»Alles wird gut«, sagt sie. In diesem Moment erscheint mir der Satz nicht weiter wichtig. Ich glaube, dass sie zu viel getrunken hat und sentimental ist.
Als ich zum Auto gehe, höre ich hinter mir die Haustür ins Schloss fallen.
Ich rieche den Geruch von Minze, Kiefer und Honig, den der große Eukalyptus im Garten verströmt – ein Duft, der unauflöslich mit meiner Kindheit und dem verbunden ist, was mich in meinem Innersten ausmacht.
In diesem Moment ist es mir nicht klar, da man es fast nie merkt, wenn man etwas zum letzten Mal erlebt, aber ich werde meine Mutter niemals wiedersehen.
Drei Tage später wird sie ihren Wagen vom Highway 1 steuern und dreihundert Meter tief in den Pazifik stürzen.
Die aufgehende Sonne beleuchtete das Grasland von Nordtexas.
Es war der Weihnachtsmorgen.
Ich fuhr noch immer und war wegen der Mutationen in meinen Genen BHLHE 41=DEC 2, NPSR 1 und ADRB 1 kein bisschen müde.
Ich stellte mir Beth und Ava vor, und es war, als sähe ich sie leibhaftig vor mir.
Was sie wohl ohne mich machten? Als sich das morgendliche Sonnenlicht in meinen Tränen brach, nahm ich das Gefühl, das mich aufwühlte, und steckte es in den geistigen Käfig, dessen Wände von Tag zu Tag undurchlässiger wurden.
Ich tat es nicht gern.
Aber es fiel mir immer leichter. Noch war es ein bewusster und in gewisser Weise mühevoller Akt, doch ich konnte mir vorstellen, dass ich meine Gefühle schon bald automatisch kontrollieren und unterdrücken würde.
Wir hielten in Amarillo, um die Akkus aufzuladen, und frühstückten in einem Diner am Straßenrand, ehe wir weiter durch die sonnenbeschienene Prärie fuhren.
In New Mexico wurde die Landschaft trocken.
Innerhalb einer Stunde sah ich vier Raketen vom Raumhafen südwestlich von Truth or Consequences aufsteigen – Milliardäre, die den Weihnachtsmorgen in einer niedrigen Erdumlaufbahn verbringen wollten.
Mittags fuhren wir in die Hochwüste hinauf, in der Santa Fe liegt. Die City Different, wie man sie auch nannte, war die zweitälteste Stadt Amerikas. Ihre erdfarbenen Gebäude hoben sich kaum von den braunen Hügeln der Umgebung ab.
Wir fuhren ins Zentrum und nahmen uns eine Suite in einem riesigen Lehmziegelhotel namens La Fonda. Die Deckenbalken in der Lobby waren mit Lichterketten umwickelt. In einer Ecke stand ein sechs Meter hoher Weihnachtsbaum, und überall tummelten sich Familien in fürchterlichen Pullovern.
Ich schlief bis zum Nachmittag und erwachte mit großem Appetit.
Als es Abend wurde, machten wir uns auf die Suche nach etwas Essbarem.
Es war schön, durch die verwinkelten, aus der Zeit gefallenen Straßen zu laufen. In dieser Touristenstadt konnte man Amerika noch so erleben, wie es vor dem großen Niedergang gewesen war. Es war ein Ort, an dem sich die Zukunft nach wie vor verheißungsvoll anfühlte.
Hinter den Scheiben der Lehmhäuser leuchteten geschmückte Bäume. In der kalten Luft hing der Duft von Holzrauch, der aus den Kaminen stieg. Die Berge östlich der Stadt erstrahlten im Licht des Wüstenmondes. Ich bekam Heimweh, und einen Moment lang ließ ich mich bewusst davon überwältigen.
Wir aßen in einem Tapas-Lokal am Hauptplatz. Es warb mit Gerichten aus nicht synthetischen Proteinen und war extrem teuer.
»So hast du dir das diesjährige Weihnachten nicht vorgestellt, oder?«, fragte Kara.
Ich schüttelte den Kopf und trank einen Schluck von dem exzellenten Ribera del Duero. Inzwischen fand man kaum noch spanische Weine, da sich die Hauptanbaugebiete weiter in den Norden verlagert hatten. Viele weltbekannte Weingüter hatten den Betrieb einstellen müssen.
Es war eine atemberaubende Erfahrung, nach dem Upgrade einen Weltklassewein zu kosten. Ich hatte immer geglaubt, über einen anständigen Geschmackssinn zu verfügen, doch nun nahm ich eine wahre Fülle an Aromen und Gerüchen wahr und merkte, dass ich sie gleichzeitig sowohl einzeln als auch in ihrer Komposition genießen konnte – Erde und Sonnenschein und staubige schwarze Früchte und Rosenblätter und das himmlische Zusammenspiel von Eiche und Zeit.
»Was hättest du normalerweise heute Abend getan?«, fragte ich.
Kara nahm ein mit Serrano-Schinken belegtes Tomatenbrot. »Das hinge vom Wetter ab. Hätte es geschneit, wäre ich zu Hause geblieben, hätte meinen berühmten Glühwein zubereitet und Bad Santa angeschaut. Wären die Straßen frei gewesen, hätte ich mich in die Stadt aufgemacht und im El Moro mit allen anderen, die Weihnachten allein verbringen, ein paar gekippt.« Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Nein, das stimmt nicht. Das alles hätte ich vor dem Upgrade getan. Jetzt würde ich daheimbleiben, lesen und nachdenken.«
»Ist dein Gedächtnis nahezu perfekt geworden?«, fragte ich.
»Ja.«
»Meins auch.«
»Das macht mir das Leben schwer«, sagte sie. »Ich bin nach Montana gezogen, um zu vergessen, wer ich bin. Woher ich stamme.« Kara sah mich über den Tisch hinweg an. Im Kerzenlicht wirkte ihr vernarbtes Gesicht beinahe grotesk. »Es gibt Dinge, die ich am liebsten für immer aus dem Gedächtnis streichen würde. Du machst auch eine schwere Zeit durch, stimmt’s?«
Ich wusste, was sie meinte. »Du sprichst von Gefühlen?«
Sie nickte. »Dagegen kannst du etwas tun.«
»Ich weiß. Das habe ich schon.«
»Dadurch wird alles einfacher.«
»Genau deswegen macht es mir Angst.«
»Weshalb?«
Ich sah zum Nachbartisch hinüber, wo ein Paar unseren Wortwechsel verfolgte. Vermutlich interessierten sich die beiden gar nicht dafür, was wir sagten, sondern wie wir sprachen, erstaunt über die Geschwindigkeit, in der wir uns unterhielten.
»Wir sollten uns beim Reden ein bisschen einbremsen«, sagte ich leise.
»Du hast recht.«
Ich sah sie an. »Ich fürchte, irgendwann nicht mehr tief empfinden zu können.«
»Und was ist so toll an tiefen Empfindungen?«, fragte sie. »Findest du nicht, dass sie den Verstand durcheinanderbringen?«
»Bis zu einem gewissen Grad schon. Aber ohne sie gäbe es kein Mitgefühl. Wir können alles rationalisieren. Vielleicht hilft uns die Empfindungsfähigkeit, es damit nicht zu übertreiben.«
»Das könnte sein. Vielleicht hast du aber einfach nur Angst, über die Menschen, die du liebst, hinauszuwachsen.«
Der nächste Gang wurde serviert.
Es kostete mich meine ganze Willenskraft, die sieben weitschweifenden Unterhaltungen in Hörweite und die unzähligen Gerüche auszublenden, die von den anderen Menschen, von den Tischen und aus der Küche zu uns herüberwehten.
»Wäre es dir lieber, du hättest dieses Upgrade nicht erhalten?«, fragte Kara.
»Das ist eine schwierige Frage. Ich bin endlich so klug, wie ich immer sein wollte.«
Sie nippte an ihrem Wein. »Es muss schwer gewesen sein.«
»Was?«
»Dich in Moms Kreisen zu bewegen und zu wissen, dass du es nicht verdienst.«
»Dir war klar, dass ich so gefühlt habe?«
»Natürlich. Mom ist die intelligenteste Person ihrer Generation. Ich war immer davon überzeugt, dass dein Versuch, in ihre Fußstapfen zu treten, zum Scheitern verurteilt war.«
»Meine Therapeuten haben mir gesagt, ich hätte es wegen Max getan. Wenn man seinen Zwilling verliert …«
»Verliert man eine Hälfte seiner Identität. Deine Verbindung zu Mom sollte diese Lücke in dir füllen.«
»Als ich gestern Nacht fuhr, habe ich an ihn gedacht. An Dinge, die ich lange vergessen hatte. Jetzt ist alles so klar. Und es tut weh.«
Kara lächelte. »Das muss es nicht.«
Wir gingen unter einem dunkelblauen Sternenhimmel zum Hotel zurück.
Mitten auf dem Platz sang ein Chor. Die Sänger hielten flackernde Kerzen, ihre Stimmen klangen verfroren.
Ich dachte an die Geschichte, auf der dieses Fest basierte. Eine mehr als zweitausend Jahre alte Erzählung über das Kind eines übernatürlichen Wesens, das geschickt worden war, um die Welt zu retten.
Mittlerweile durchschaute ich das Ganze. Homo sapiens war vor allen Dingen eine Spezies von Erzählern, Geschöpfen, die alles mit Geschichten überlagerten – insbesondere ihr eigenes Leben –, um eine kalte, zufällige, manchmal brutale Existenz mit künstlicher Bedeutung aufzuladen.
Im Morgengrauen weckten mich die Glocken der Kathedralbasilika des heiligen Franz von Assisi, einer großen Steinkirche gegenüber dem Hotel.
Ich machte mir einen Kaffee, schob die Balkontür auf und trat in die Kälte hinaus.
Während ich den Blick über die noch leere Plaza schweifen ließ, merkte ich, wie angespannt ich war.
Der Tag fühlte sich bedeutungsvoll an.
Wir fuhren vor acht los und gelangten auf der US 84 in eine der verblüffendsten Gegenden, die ich je gesehen hatte. Meine geschärften Sinne verstärkten diesen Eindruck noch.
Die Landschaft wirkte lichtdurchflutet und üppig, die Farben extrem gesättigt.
Hinter den Außenbezirken von Santa Fe breitete sich die Wüste aus.
Das Gefühl der Weite war atemberaubend.
Im Wechselspiel aus Licht und Schatten stachen mir ständig neue Farbtöne ins Auge.
Arroyos.
Hochaufragende Mesas.
Epische Monumente.
Während wir die Übergangszone zwischen der Colorado-Hochebene und dem Rio-Grand-Graben durchquerten, kam es mir vor, als würde ich einen Blick durch die Zeit werfen.
Ich sah die Welt, wie ich sie nie zuvor wahrgenommen hatte. Die flachen mesozoischen Formationen am Fuße der Berge, die jüngeren känozoischen Sedimente unter den Gipfeln.
Eine Zeit lang sahen wir in der Ferne die weiße Hyperloop-Röhre, die sich durch die Wüste zog – die Verbindung zwischen Denver und Albuquerque.
Wir überquerten Flüsse, die ich aus den Western kannte, die ich mir zusammen mit meinem Vater angesehen hatte.
Im Osten gingen mit Salbei und Wacholder bewachsene Hügel in Nadelgebirgswälder über. Oberhalb der Baumgrenze erstrahlten hohe schneebedeckte Gipfel.
Der Himmel, der weit wie ein Ozean war, blickte auf eine Wüste herab, die vor vierhundertfünfzig Millionen Jahren, während der späten Kreidezeit, tatsächlich noch ein flaches Meer gewesen war.
Wir legten einen kurzen Zwischenstopp in Ojo Caliente ein – der ersten Ladestation seit Santa Fe.
Ich hatte in unsere Navigations-App Vallecitos eingegeben, die Siedlung im Carson National Forest, die sich am dichtesten an unserem GPS -Zielsymbol befand.
Als wir um 9:30 Uhr dort eintrafen, stellte sich heraus, dass es keine Stadt, sondern ein altes Dorf war. In Vallecitos lebten ein paar Hundert Menschen. Viele Gebäude waren verfallen.
Wir fuhren an einer alten eingestürzten Kirche vorbei, dann an einer Ruine, die einmal eine Bar gewesen war. Kaputte Neon-Bier-Schilder hingen in scheibenlosen Fenstern. Über der Eingangstür, die nirgendwohin führte, schwang ein altes, von der Sonne gebleichtes Holzschild: MIS AMIGOS .
Kara saß am Steuer.
Ich betrachtete ihr Handy. »Hier gibt es kein Netz mehr«, sagte ich. »Aber das Navi des Autos funktioniert noch. Mal sehen, wo es uns hinführt.«
Ich wandelte unsere Koordinaten in die üblichen Grade, Minuten und Sekunden um und tippte 36°33'45"N, 106°13'04"W in das Navi.
Auf dem großzügig dimensionierten Kartendisplay erschien eine Markierung. Sie war vierzehn Kilometer entfernt.
Achtung, meldete sich die automatische Ansage. Die befahrbare Route endet achthundert Meter vom Ziel entfernt.
Drei Kilometer hinter dem Dorf ging die Asphaltstraße in einen Kiesweg über.
Wir fuhren ins Vorgebirge hinauf.
Am Straßenrand drängten sich Nadelbäume, und nirgends waren Gebäude zu sehen.
Wir waren allein mit unserem Auto und der Staubwolke, die wir hinter uns aufwirbelten.
Nach neuneinhalb Kilometern bogen wir auf einen schmaleren Weg ab. Um uns herum wurde es felsiger, und in den Schatten lag Schnee.
Kara musste deutlich vom Gas gehen. Die Federung des Google war eindeutig nicht auf alte Forststraßen ausgelegt.
Nach 13,2 Kilometern endete der Weg.
Sie haben das Ende der Ausbaustrecke erreicht, erklärte die Navi-Stimme. Ihr Ziel befindet sich ungefähr achthundert Meter nord-nordwestlich von Ihrer derzeitigen Position.
Kara stellte den Antrieb ab.
Ich stieg aus.
Der Knall, mit dem sich meine Tür schloss, hallte von den Nadelbäumen wider.
Kara stieg ebenfalls aus, ging um den Kofferraum herum und machte ihn auf.
Ich ging zu ihr und sah, dass sie ihre Reisetasche geöffnet hatte. Sie holte einen Garmin-Minisatelliten-Kommunikator für netzunabhängige GPS -Ortung heraus und reichte ihn mir. »Kannst du ihn programmieren?«
Während ich 36°33'45"N, 106°13'04"W in das Gerät eingab, schob Kara ein Magazin in eine Glock. Anschließend steckte sie die Waffe in ein Hüftholster und sicherte sie mit einem Magnetverschluss. Dann lud sie Schrotmunition in die Flinte, mit der sie mich aus der Zelle befreit hatte.
Wir verließen die Straße zu Fuß und gingen in den Wald. Der Garmin führte uns nach Norden.
Es war kalt, und wir hatten klare Sicht.
Säulenartige Sonnenstrahlen fielen durch die Baumwipfel.
Es roch intensiv nach Kiefern und Fichten.
Wir erklommen einen sanften Hang.
Obwohl wir uns in einer Höhe von annähernd dreitausend Metern befanden, fiel uns der Marsch nicht schwer. Dank der Modifikation unserer Gene EGLN 1, EPAS 1, MTHFR und EPOR zog das Hämoglobin in unserem Blut genügend Sauerstoff aus der dünnen Luft.
Die Bäume standen weit auseinander, und es gab nur wenig Unterholz. Mit einem Auto mit größerer Bodenfreiheit hätten wir auf diesen Berg auch hinauffahren können.
Ich sah den Garmin an.
Wir waren vierhundert Meter vom Ziel entfernt.
»Da vorne ist etwas«, sagte Kara.
Ich konnte nichts erkennen.
»Wo?«
»Fünfzig Meter vor uns habe ich etwas zwischen den Bäumen schimmern sehen.«
Wir gingen weiter, und dann sah auch ich es. Es war ein alter Pick-up-Truck.
Die vordere Hälfte wurde von der Sonne beschienen. Kara hatte den Seitenspiegel aus Chrom gesehen.
Wir näherten uns dem Fahrzeug.
Die Kiefernnadeln auf dem Waldboden dämpften unsere Schritte.
Nach sieben Metern hielten wir wieder an.
Es war ein alter, gelb-weißer Chevy – einer der ersten komplett elektrischen Pick-ups. Die Windschutzscheibe war beinahe vollständig von Kiefernnadeln bedeckt und der linke Hinterreifen platt.
Wir gingen vorsichtig auf das Fahrzeug zu. Kara nahm mit einer fließenden Bewegung ihre Schrotflinte von der Schulter und zielte auf die Fahrertür. Das Seitenfenster war von innen vereist.
Sie blieb ein paar Meter davon entfernt stehen.
Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen. Liefen wir gerade ein weiteres Mal in eine Falle?
Kara sah zu mir zurück und deutete auf die Tür. »Zieh sie auf«, flüsterte sie.
»Bist du sicher?«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Ja. Wir gehen und kommen mit Schutzanzügen wieder.«
Sie verdrehte die Augen, ging zum Truck und riss die Fahrertür auf.
Auf der Sitzbank lag jemand.
»Oh Gott«, sagte Kara, als ihr der Verwesungsgestank entgegenschlug. Sie trat ein paar Schritte zurück.
Während meiner Zeit als GPA -Agent hatte ich eine Vielzahl von Leichen gesehen, von denen sich einige in noch schlimmerem Zustand befunden hatten als diese. Aber auch mir wurde unwohl.
Kara lehnte ihre Flinte an einen Baum und zog den Parka über die Nase. Ich ging näher ran und warf einen Blick auf die Ladefläche des Trucks. Alter, schmutziger Schnee bedeckte eine Ladung Feuerholz.
Ich ging um den Wagen herum zur Seitentür und zog sie quietschend auf.
Mittlerweile atmete ich nur noch durch den Mund. Die Verwesungsgase, die sich in der Fahrerkabine angesammelt hatten, trieben mir die Tränen in die Augen.
Kara stellte sich hinter mich.
Der Leichnam trug eine blaue Vliesjacke, eine schwarze Jeans und Wanderstiefel.
Ein Schopf silbergrauer Haare ergoss sich über die Sitzbank. Der Kopf lag in der rechten Armbeuge. Von der Haut war nur eine Hand sichtbar. Sie war dunkel, weil sich Blut und verflüssigtes Innengewebe in ihr abgelagert hatten.
Das Gesicht war unter den Haaren verborgen.
Im Bodenraum auf der Beifahrerseite sah ich eine Spritze und ein Glasfläschchen liegen. Beide waren leer. Ich drehte das Fläschchen mit dem Garmin herum, bis ich das Etikett entziffern konnte. »Morphium«, las ich vor.
Ich sah den Leichnam noch einmal an. Seinem Anblick haftete etwas Friedliches und zugleich Verzweifeltes an. Einen Moment lang vergaß ich völlig, weswegen wir gekommen waren. Ich fragte mich, in was für einer Gemütsverfassung sich jemand befinden musste, um an solch einen gottverlassenen Ort zu fahren und sich eine tödliche Dosis Morphium zu injizieren.
Ich berührte die Haare und strich sie vorsichtig aus dem Gesicht.
Die Haut war getrocknet, dunkelviolett und an mehreren Stellen aufgeplatzt, als wäre sie seit dem Todeszeitpunkt ein paarmal gefroren und wieder aufgetaut. Die Augen waren geschlossen, die blauen Lippen geöffnet.
Um den Hals hing eine Kette.
Ich beugte mich weiter in das Auto und betrachtete den Anhänger, der auf der weißen Vinylsitzbank lag.
Es war eine DNS -Doppelhelix aus Platin.
Ich sehe Geschenkpapier um den Baum liegen. Ich öffne gerade meinen Lego-Karton. Max liegt auf der Couch. Er ist erschöpft von den ersten Anzeichen seiner Krankheit, die ihn im Jahr darauf das Leben kosten wird. Kara probiert ihr neues Tablet aus. Ich rieche den warmen süßen Duft der Scones, die Mom an jedem Weihnachtsmorgen im Ofen backt. »Oh, Haz, das ist wunderschön«, höre ich Mom sagen und sehe zu, wie sie eine Halskette mit einem Doppelhelix-Anhänger aus einer kleinen burgunderroten Schachtel holt.
»Ich habe sie extra von einem Juwelier in Philadelphia anfertigen lassen«, sagt mein Vater. »Komm, ich helfe ich dir.« Er stellt sich hinter Mom. Nachdem sie sich die Haare aus dem Nacken gestrichen hat, legt er ihr vorsichtig die Kette um den Hals und verschließt sie.
Ich taumelte rückwärts von dem Pick-up weg.
Mein Mund fühlte sich trocken an.
»Ich glaube, das ist Mom«, krächzte ich und deutete in die Fahrerkabine.
Kara beugte sich ebenfalls hinein und musterte das Gesicht der Leiche. »Woher willst du das wissen?«
»Die Halskette.«
Ich sah, wie Kara den Anhänger ebenfalls erkannte und sich vergeblich gegen die Flut aus Emotionen zu wappnen versuchte, die über sie hereinbrach: Verwirrung, Entsetzen, Wut, Trauer, Schock.
Ich ging ein kleines Stück weiter in den Wald hinein.
Der Wind kühlte die Tränen auf meinem Gesicht.
Ich setzte mich auf ein von der Sonne beschienenes Fleckchen Waldboden.
»Fick dich!«, schrie Kara hinter mir den Leichnam an.
Ich brach zusammen.
Meine Mutter war tot.
Zum zweiten Mal.
Als ich mich schließlich wieder aufrappelte, stand die Sonne ein Stück höher am Himmel. Kara saß noch immer mit dem Rücken an den Vorderreifen gelehnt und starrte in die Ferne. Ich ging hinüber und ließ mich neben ihr nieder.
Ihr Gesicht war tränennass.
Sie war wütend.
Ich sagte nichts.
Schließlich sah sie mich mit bebendem Kinn an. »Wer tut seinen Kindern so etwas an?«
»Was sollen wir mit ihr anstellen?«, fragte ich. »Jemanden verständigen? Sie begraben?«
»Wen, glaubst du, kümmert es, dass Miriam Ramsay noch einmal gestorben ist? Und glaub ja nicht, dass ich den ganzen Tag damit verbringen werde, sie im Boden zu verscharren … Ich bin dafür, wir vergessen das Ganze, fahren nach Santa Fe in unser Hotelzimmer zurück und besaufen uns. Scheiß auf diesen Tag. Er ist von vorne bis hinten für den Arsch.«
»Ich bin dabei«, sagte ich. »Aber vorher müssen wir noch etwas erledigen.« Kara sah mich an. Ich hielt ihr den Garmin hin. »Laut dem hier sind wir noch immer dreihunderteinundachtzig Meter von unserem Ziel entfernt.«
Kara nahm den Garmin und betrachtete ihn. »Aber es ist doch offensichtlich, dass wir das hier finden sollten. Meinst du nicht?«
»Vielleicht. Aber da wir schon so weit gegangen sind, spielen ein paar Meter mehr oder weniger doch auch keine Rolle, oder?«
Ich reichte ihr die Hand und zog sie hoch. Dann gingen wir weiter den Hang hinauf.
Ich fühlte mich schwach.
Jeder Schritt fiel mir schwer.
Nach dem Adrenalinschub und dem anschließenden emotionalen Zusammenbruch war ich völlig erschöpft.
Wir kamen auf eine kleine Lichtung.
Auf der anderen Seite wuchsen die Bäume dichter.
Ein dunklerer, kühler Fichtenwald.
Wir stapften durch Schnee.
Der Garmin vibrierte in meiner Hand. Ich sah auf das Display. Sie haben Ihr Ziel erreicht.
»Laut dem Gerät sind wir da«, sagte ich.
Ich hob den Kopf und sah mich um. Wir befanden uns in einem normalen Waldabschnitt: Engelmann-Fichten, ein paar Felsbrocken und über allem eine alte Schneeschicht. Die Bäume standen so dicht zusammen, dass kein Sonnenlicht durch die Wipfel drang.
Es ließ sich nicht feststellen, wo genau wir uns innerhalb der eingegebenen Koordinaten befanden.
Ich legte den Garmin auf den Boden und begann die Grenzen des Areals zu markieren.
Kara sah mich an.
»Da das GPS nur bis auf fünf Meter genau ist, sollten wir unser Suchgebiet zu einem Rechteck von achtundzwanzig mal sechsunddreißig Metern erweitern.«
»Ich fange da drüben an«, antwortete Kara und ging durch die Bäume.
Ich setzte mich ebenfalls in Bewegung und stapfte mit langsamen, methodischen Schritte durch den Schnee.
Dabei beäugte ich den Boden, jeden Baum und alle Felsbrocken, an denen ich vorbeikam.
Nach einer Weile kam mir der Verdacht, dass Kara recht hatte. Wir hatten gefunden, weshalb wir hier waren. Das Ganze war ein letztes Fickt euch von Mom, das wir wohl nie begreifen würden.
Als ich das Suchgebiet gerade zum vierten Mal durchquert hatte und wieder kehrtmachte, rief Kara nach mir.
Sie war ungefähr zwanzig Meter entfernt und zwischen den Bäumen verborgen.
Ich ging durch den Schnee und folgte ihrer Stimme. Als ich Kara schließlich entdeckte, stand sie neben dem Stumpf einer Gelbkiefer. Der Baum war vor langer Zeit umgestürzt. Den Brandspuren auf dem Stumpf nach zu urteilen, hatte ein Blitz ihn gefällt.
Ich lief zu Kara.
Der Stamm hatte einen guten Meter Durchmesser und war ausgehöhlt.
Ich blickte hinein.
Ein Griff aus rostfreiem Stahl ragte aus dem Schnee. Nach einem kurzen Blick zu Kara bückte ich mich und packte ihn. Was auch immer an diesem Griff hing, lag unter dem Schnee begraben.
»Hilfst du mir?«
Wir zogen beide mit aller Kraft.
Einen Moment später zerbrach die gefrorene Oberfläche, und wir wankten mit einem schwarzen Hartschalenkoffer von ungefähr sechzig Zentimetern Kantenlänge rückwärts vom Stumpf weg.
Er war versiegelt, aber, soweit ich feststellen konnte, nicht zugesperrt.
Ich stellte ihn ab.
Er sah teuer aus. Wasserdicht, bruchsicher und gegen Staub geschützt.
Die Außenschale bestand aus einem leichten Polymer und rostfreiem Stahl.
Kara kniete sich hin, öffnete die drei Schnappverschlüsse und hob vorsichtig den Deckel an.
Im Inneren lag in einer schwarzen Schaumstoffhalterung ein extrem leistungsstarker Laptop. Ich hatte SWAT -Officer mit solch einem Modell Wärmebilddrohnen steuern sehen, aber noch nie selbst eins verwendet.
»Das ist ein Militärgerät«, sagte Kara und klappte den Laptop auf.
»Was ist so besonders daran?«
»Es übersteht Hitze, Kälte, Explosionen und Strahlung. Und es ist sehr schwer.«
Sie drückte ein paarmal den Anschaltknopf, doch nichts geschah.
Schließlich drehte sie den Laptop um. Die Einschubhalterung im Boden war leer. »Kein Akku«, sagte sie.
Ich zog die obere Schaumstoffschicht aus dem Koffer. Darunter befanden sich ein vakuumverpackter Akku und sechs Phasenspeicher. Kara befreite mit ihrem Kampfmesser den Akku aus seiner Hülle.
»Wenn das nicht funktioniert, gibt es immer noch den Stromanschluss im Google.« Sie schob den Akku in die Halterung am Laptop und tippte erneut auf den Anschaltknopf.
Der Monitor erwachte leuchtend zum Leben.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange er hier draußen gewesen war, aber er schien normal hochzufahren. Zehn Sekunden später betrachteten wir einen Startbildschirm, der bis auf ein einzelnes Symbol in der Mitte leer war – eine AVI -Datei mit dem Titel »Für meine Kinder«.
Ich spürte, wie mein Puls von 78 Schlägen pro Minute auf 105 Schläge beschleunigte, und sah Kara an. »Willst du das durchziehen?«
Sie bewegte den Cursor zur Datei und klickte darauf.
Es dauerte einen Moment, bis sie geladen war. Derweil warteten wir und knieten vor dem Koffer im Schnee.
Unsere Mutter erschien auf dem Bildschirm.
»Verdammte Scheiße«, murmelte Kara.
Dass ich ihr erzählt hatte, unsere Mutter würde noch leben, war eine Sache. Sie nun mit eigenen Augen zu sehen war noch etwas ganz anderes.
Miriam trat von der Kamera zurück, als hätte sie gerade ein Handy auf einem Dreibeinstativ befestigt. Sie war nicht in diesem Bergwald, sondern in der Wüste, die wir auf dem Herweg durchquert hatten, und sie trug die Kleidungsstücke, in denen wir sie im Pick-up entdeckt hatten.
Den Lichtverhältnissen nach war es früher Morgen.
Der Wind wehte durch ihre silbernen Haare. Sie strich sie aus dem Gesicht und setzte sich auf einen Felsen.
In den linken Bildrand ragte die Motorhaube des gelb-weißen Chevys. Im Hintergrund waren viele Meilen pinkfarbener Wüste zu erkennen. Sie endete an einem hohen, violetten Tafelberg, den ich vor ein paar Stunden selbst gesehen hatte.
Miriam sah in die Kamera. »Ich weiß nicht, ob ich zu Logan und Kara oder nur zu einem von euch beiden spreche, aber wenn ihr das hier seht, bin ich stolz auf euch. Es bedeutet, dass ihr die Nachricht gefunden habt, die ich im AAVS 1 für euch hinterlassen habe. Und es zeigt, dass das Upgrade funktioniert hat.«
Mein Blick fiel auf ein paar Pappeln hinter ihr.
Die Blätter waren grellgelb.
Sie hatte dieses Video im Herbst aufgenommen – vielleicht im Oktober?
»Ich bin mit eurem Vater einmal hier durchgekommen.«
Sie lächelte.
»Damals war ich mit dir schwanger, Kara, wusste es aber noch nicht. Wir waren in unseren Zwanzigern und hatten kein Geld. Wir waren von Boston nach Berkeley zu meinem ersten Postdoc-Stipendium unterwegs. Wir haben in einem Motel am Rand von Santa Fe namens Desert Aire übernachtet. Am nächsten Tag sind wir in nördlicher Richtung weitergefahren. Ich hatte immer die Landschaft sehen wollen, die Georgia O’Keeffe ihr ganzes Leben gemalt hat. Seht ihr den Berg hinter mir?«
Sie drehte sich zu dem Tafelberg um, dessen violetter Umriss sich vor der Morgendämmerung abzeichnete.
»Das ist der Cerro Pedernal. O’Keeffe hat ihn achtundzwanzigmal auf Leinwand gebannt. Sie hat einmal gesagt: ›Das ist mein ganz persönlicher Berg. Er gehört mir. Gott hat mir gesagt, wenn ich ihn oft genug male, darf ich ihn behalten.‹ Genauso empfinde ich bezüglich meiner Arbeit. Wenn man das Ende seines Lebens erreicht, denkt man an seine besten Momente zurück. Diese Reise mit eurem Vater war einer der allerbesten. Vielleicht idealisiere ich sie in meiner Erinnerung auch nur, aber Haz und ich waren gerade mit dem College fertig und die Zukunft lag genauso offen vor uns wie diese Wüste. Noch war nichts Schlimmes passiert. Zumindest nichts, was nicht wieder in Ordnung gebracht werden konnte. Wir gelangten in dieses kleine Dorf am Rand des Gebirges namens Vallecitos. Wir hielten an und gingen in eine Bar, in der man nicht zu wissen schien, was man mit Touristen anfangen sollte. Sie hieß Mis Amigos.«
Miriams Blick verlor sich einen Augenblick lang in der Ferne, dann sah sie wieder in die Kamera.
»Logan, vor vielen Jahren hast du mich mal gefragt, ob ich mehr Leute so machen würde, wie wir sind, wenn ich könnte. Seit dieser Nacht sind zwanzig Jahre vergangen und es steht schlechter um die Welt denn je. In den letzten beiden Jahrzehnten habe ich in einem kleinen Labor an meinem absoluten Lieblingsort etwas zu konstruieren versucht, das jedes Mitglied unserer Spezies mehr wie uns machen könnte. Ich wollte der Menschheit ein Geschenk anbieten, das sie weitere fünfhundert, tausend oder vielleicht sogar zehntausend Jahre überleben lässt. Ein genetisches Upgrade, das unsere Geisteskraft so sehr steigert, dass wir uns als Kollektiv eher von der Vernunft als von unseren wolkigen Gefühlen steuern lassen. Die Gene, die uns zu empfindsamen Geschöpfen gemacht haben, und die Glaubensmuster, die daraus erwuchsen, sind noch immer in unserem Genom präsent. Als es mit uns Menschen losging und wir das Universum noch nicht verstanden, waren Emotionen ein Selektionsvorteil. Ihretwegen erfanden wir Mythen, Religionen und Traditionen, was zu ge sellschaftlicher Stabilität und einer gewissen Kooperationsbe reitschaft führte. Doch jetzt verhindern sie, dass wir die Fakten anerkennen. Armut, Krankheiten, Hunger und der Hass, den diese Nöte hervorbringen – all das wird mit jedem Jahrzehnt schlimmer. Gleichzeitig wringen wir die Vorräte unseres Planeten bis zum letzten Tropfen aus. Wir dürfen nicht mehr länger leugnen, was geschieht, oder darauf hoffen, dass irgendjemand anders diese Probleme löst. Die Dinosaurier haben ihr Ende nicht kommen sehen. Sie starben aus, weil eines Morgens ein zehn Kilometer breiter Asteroid mit einer Geschwindigkeit von hundertzehntausend Kilometern pro Stunde in die Yucatán-Halbinsel einschlug. Der Untergang des Homo sapiens steht unmittelbar bevor. Wir können ihn auf tausenderlei Weise vorausberechnen. Was bedeutet, dass wir eine Chance haben. Aber nur, wenn wir alle an einem Strang ziehen. Wenn sich nichts ändert, werden wir aus dem denkbar dümmsten Grund aus sterben: Weil wir uns, kindisch, wie wir sind, beharrlich weigern, das Richtige zu tun, um uns zu retten.«
Der Blick meiner Mutter wurde distanzierter, finsterer.
»Die erste Version des Upgrades ist komplett, aber es gibt noch immer etwas zu tun. Ich habe keinen Verbreitungsmechanismus entwickelt und werde es auch nicht mehr schaffen.«
Was als Nächstes geschah, war ein so seltenes Ereignis wie Schneefall in der Wüste: Meine Mutter wurde emotional.
»Zum ersten Mal in meinem Leben lässt mein Verstand mich im Stich, und da ich untergetaucht bin, kann ich mich deswegen nicht behandeln lassen. Aber vielleicht habe ich es angesichts der zweihundert Millionen Toten auch verdient, das mir das Einzige genommen wird, das ich je an mir geliebt habe. Ständig vergesse ich etwas. Manchmal bin ich gar nicht mehr in der Lage zu denken. Heute ist einer der besten Tage seit Monaten. Daher habe ich beschlossen, dass ich heute sterben werde. Ich will mich auf meine eigene Weise verabschieden, solange ich noch weiß, wer ich bin.«
Sie wischte sich über die Augen.
»Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, das Upgrade kurz vor der Ziellinie scheitern zu sehen. Also tat ich etwas Drastisches. Kara, ich habe einen Mann dazu angeheuert, eine mit meinem Upgrade geladene Drohne zu deiner Hütte zu fliegen. Und wie du sicher bereits weißt, Logan, habe ich Henrik Soren dazu angestiftet, dich in das Haus in Denver zu locken. Außer euch beiden gibt es niemanden, dem ich vorbehaltlos vertrauen kann. Zumindest hoffe ich das. Außerdem hoffe ich, das Upgrade hat funktioniert. Und ich hoffe, dass ihr nicht allzu sauer auf mich seid. Also, meine Kinder, wenn ihr euch das hier anseht, wisst ihr, dass ihr der nächste Schritt in der menschlichen Evolution seid. Als die beiden einzigen Menschen auf diesem Planeten, die mein Upgrade empfangen haben, haltet ihr das Schicksal unserer gesamten Spezies in euren Händen. In dem Koffer, in dem ihr diesen Laptop gefunden habt, befinden sich Phasenspeicher. Sie enthalten die Sequenzen und Funktionen der ersten Upgrade-Version. Betrachtet sie als mein Vermächtnis. Was ihr daraus macht, liegt ganz an euch.«
Trotz der Kälte schwitzte ich, während ich zu erfassen versuchte, was in dieser Schale steckte.
»Es tut mir leid, in welchem Zustand ihr mich entdecken musstet. Ich wollte euch nie wehtun. Und auch nicht all diesen bedauernswerten Menschen. Ich denke jeden Tag an die Toten. Ich denke an euch beide. An Max. Und an meinen lieben Haz. Ich weiß, dass ich nicht die Mutter war, die ihr euch gewünscht habt, aber ich habe euch so geliebt, wie es mir möglich war.«
Unsere Mutter stand auf.
Das morgendliche Sonnenlicht beschien ihr Gesicht.
Sie blickte in die Wüste hinaus.
»Es ist so schön hier. Ich wünschte, ihr könntet es zusammen mit mir sehen.«
Und dann kam sie auf die Kamera zu.
»Leb wohl, Kara. Leb wohl, Logan.«
Ihre Stimme brach.
»Jetzt geht und rettet unsere Spezies.«
Sie griff nach der Kamera.
Auf dem Bildschirm war kurz der Himmel zu sehen, dann wurde er schwarz.
Kara und ich knieten noch immer vor dem Koffer.
Während das Video gelaufen war, hatte ich sie nicht angesehen, doch jetzt tat ich es.
Ihr Gesicht war ausdruckslos. Ich sah keine Tränen. Keine Wut. Sie hielt einfach nur den Blick abgewandt.
Ich schloss den Laptop und sah die sechs Phasenspeicher an, die sicher im Schaumstoff eingebettet waren. Sie waren jeweils ungefähr so groß wie meine Hand. Kara holte einen heraus. Sie wog ihn in der Hand, dann legte sie ihn behutsam wieder zurück und verriegelte den Koffer.
Der Wind fuhr durch die Baumwipfel – ein einsames, nicht enden wollendes Rauschen.
Sie sah mich an. Und nun?
»Ich finde, wir sollten diesen Koffer mit Benzin überschütten und anzünden«, sagte ich.
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Mom hat versucht, ein paar Reisfelder zu verändern und damit zweihundert Millionen Menschen getötet.«
»Was sie mit uns gemacht hat, war erfolgreich«, erwiderte Kara. »Es hat funktioniert .«
»Bei zwei Leuten. Damit ist nicht bewiesen, dass dieses Upgrade für alle Menschen auf dem Planeten sicher ist.«
»Wieso muss es für alle sicher sein? Wieso machst du das zur Voraussetzung?«
»Denkst du wirklich ernsthaft darüber nach?«, fragte ich.
»Wenn sie mit unserem unmittelbar bevorstehenden Ende Recht hat, haben wir ohnehin nichts zu verlieren, oder?«
Ich stand auf und blickte auf meine Schwester hinab. »Wir könnten unsere Menschlichkeit verlieren.«
Kara erhob sich ebenfalls. »Ich weiß, dass du dabei warst, als Mom ihre Heuschrecken auf die Felder losgelassen hat, und ich kann nicht so tun, als wüsste ich, wie es ist, mit diesem Wissen leben zu müssen. Aber in diesem Moment steht die menschliche Spezies mit dir und mir hier im Wald an einem Scheideweg. Wir müssen sachlich darüber nachdenken und unsere Gefühle ausblenden. Ohne falsche Nostalgie für eine dem Untergang geweihte Spezies. Wenn wir nichts unternehmen, stirbt die Menschheit in hundertfünfzig Jahren aus. Wir können unsere Spezies in die Zukunft führen. Du und ich.«
»Oh Gott, du klingst genauso arrogant wie Mom.«
»Soll mich das kränken?«
»Du begehst den gleichen Fehler wie sie. Intelligenz macht nicht unfehlbar, nur gefährlicher.«
Kara musterte mich einen Moment lang.
Es war nur eine Kleinigkeit.
Eine winzige Kleinigkeit.
Doch ich sah, wie sie kaum merklich das Kinn hob und die Augenbrauen erst zusammen und anschließend nach oben zog. Ein trauriger Mikroausdruck, der nach weniger als einer Viertelsekunde wieder verschwunden war.
Als ob sie ihn vor mir verstecken wollte.
Wieso sollte ihr daran gelegen sein, ihre Trauer vor mir zu verbergen?, fragte eine Stimme in meinem Kopf.
Weil sie traurig über etwas war, von dem ich nichts wissen durfte.
Was würde sie mich nicht wissen lassen wollen?
Die Antwort lag auf der Hand.
Dass sie diesen Moment als das erkennt, was er ist. Zwei Menschen, die in der Wildnis die Zukunft der Menschheit in Händen halten. Sie glaubt, dass ich falschliege und sie selbst recht hat. Und da der Fortbestand unserer Spezies auf dem Spiel steht, ist sie bereit, das Undenkbare zu tun.
Ich bückte mich und hob den Koffer am Griff hoch.
»Was tust du?«, fragte Kara.
»Wir können ihn nicht hierlassen. Sollen wir zurückkehren?«
Sie sah mich einen Moment lang an. »Also gut.«
Ich musste mich bemühen, nicht das Kampfmesser in ihrem Gürtel und die Glock im Holster an ihrer linken Hüfte anzustarren.
Ich drehte mich rasch um und stellte den Kragen meiner Jacke auf, damit sie nicht sah, wie meine Halsschlagader pochte.
Mein Puls lag bei 144. Ich wurde zwar immer besser darin, ihn zu kontrollieren, konnte ihn aber nicht schnell genug auf ein normales Maß reduzieren, um Kara über meine Nervosität hinwegzutäuschen. Und dann würde ich keine Zeit mehr haben, mir einen Ausweg aus dieser Situation zu überlegen.
Hatte sie meine erhöhte Herzfrequenz bemerkt? Gab es noch andere Hinweise, dass mein Nervensystem in einen Kampf-oder-Flucht-Modus geschaltet hatte? Erweiterte Pupillen? Meine Muskelspannung?
Der Hartschalenkoffer hatte Rollen, doch die funktionierten im Schnee nicht. Ich schleifte ihn hinter mir den Hügel hinab und durch das Koordinatensuchgebiet.
Mir wurde schwindelig.
War ich verrückt?
Natürlich würde mich meine Schwester, die ich liebte und die mich ebenfalls liebte, mit der ich sechzehn Jahre unter einem Dach zusammengelebt hatte, niemals töten wollen. Es stimmte. Sie wollte es nicht. Doch meine Mutter hatte sie überzeugt, wie wichtig dieses Upgrade war, und sie wusste, dass sie noch an Ort und Stelle eine Entscheidung treffen musste.
Ihr Fehler war nicht ihre zur Schau gestellte Traurigkeit gewesen. Dafür hätte sie sich leicht eine Erklärung einfallen lassen können, wie zum Beispiel, dass wir in dem Pick-up am Fuß des Hügels unsere tote Mutter gefunden hatten.
Ihr Fehler war ihr Täuschungsversuch gewesen – dass sie ihre Trauer vor mir hatte verbergen wollen.
Im Vorbeigehen bückte ich mich und hob den Garmin auf.
Ich hörte Karas Schritte im Schnee. Sie war ungefähr drei Meter hinter mir.
Wir erreichten trockenen Boden. Die Räder des Hartschalenkoffers rollten bergab, wobei sie immer wieder über Wurzeln und Steine holperten.
Ich musste mich umdrehen und sie ansehen, um mehr Informationen zu sammeln, aber ich hatte Sorge, dass sie dann die Angst in meinem Gesicht sehen und beschließen würde …
»Vielleicht hast du recht, Logan.«
Ihre Stimme klang flach. Wenn ich antwortete, würde mein Tonfall jedoch zweifellos meine innere Verfassung offenbaren.
Ich wischte mir Schweiß von der Stirn, bevor er mir über die Brauen rinnen und in den Augen brennen konnte. Mein Puls schnellte auf 165 Schläge. Mein Blutdruck schoss durch die Decke.
Beruhige dich.
Als wir die sonnige Lichtung betraten, holte ich tief Luft.
Sie wird mich in diesem Wald töten. Aus ihrer Sicht ergibt es keinen Sinn, länger zu warten. Dies ist der perfekte Ort dafür. Sie wird mich einfach hier bei unserer Mutter zurücklassen.
Doch ich war noch immer nicht sicher. Gut möglich, dass ich mir das alles nur einbildete. Wegen eines einzelnen Mikroausdrucks, denn ich nur einen Sekundenbruchteil lang gesehen hatte.
Ich dachte an die Farm zurück, wo Kara innerhalb von drei Sekunden drei Männer getötet hatte. Obwohl ich definitiv stärker und schneller als früher war, bezweifelte ich, dass ich ihr in puncto Geschwindigkeit und Körperkontrolle das Wasser reichen konnte. Im Gegensatz zu mir war sie schon vor dem Upgrade eine versierte Kämpferin gewesen. Vermutlich war sie mir körperlich noch immer genauso überlegen wie früher. Zudem war ich unbewaffnet, während sie mit einem Armeemesser, einer Glock und ihrem angeborenen, über die Jahre geschärften und genetisch verbesserten Tötungsinstinkt hinter mir herging.
Ich sah Moms Pick-up. Er war fünfundachtzig Meter entfernt.
Kara hatte ihre Flinte an einen Baum neben dem Wagen gelehnt. Ich sah eine Route dorthin, auf der die Kiefern dicht zusammenstanden. Möglicherweise würden sie mir ein wenig Deckung verschaffen. Bevor ich loslief, musste ich Kara jedoch noch ein wenig aus dem Konzept bringen, um zumindest den Hauch einer Chance zu haben. »Erinnerst du dich noch, was du in der Nacht nach Max’ Tod im Krankenhaus zu mir gesagt hast?«, fragte ich, ohne zu ihr zurückzublicken.
Kara blieb stehen. »Logan.«
Ich ging weiter.
»Logan.«
Ich hielt ebenfalls an, betrachtete ein letztes Mal meine Route durch die Kiefern und drehte mich langsam zu ihr um.
Sie stand vier Meter hinter und ein wenig über mir und starrte mich an. Sie hatte Tränen in den Augen. Die Hände hielt sie an den Seiten. Der Magnetverschluss, der die Glock im Holster fixierte, war geöffnet. Ich war mir sicher, dass er vorhin noch verschlossen gewesen war. Sie hatte ihn lautlos gelöst, während sie mir den Hang hinunter gefolgt war.
Damit hatte ich meine Bestätigung, und ich war mir sicher, dass sie die Tränen in meinen Augen sehen konnte.
»Du hast mir gesagt …«
»Hör auf damit.«
»›Ich bin deine große Schwester, und das werde ich immer bleiben.‹«
»Was hast du …?«
»›Wir werden mit diesem Verlust gemeinsam fertigwerden.‹ Du hast mir gesagt, du würdest immer für mich da sein.«
Einen Moment lang ließ sie die Maske fallen und sah wieder wie die alte Kara aus. Ich beobachtete, wie sie mit sich rang und schließlich verbittert resignierte.
Ich ließ den Koffer los. Er fiel auf die Kiefernnadeln.
»Was willst du von mir hören, Logan?«
»Du sollst sagen, dass ich dein Bruder bin und das wichtiger ist als …«
»Aber das ist es nicht. Ich wünschte, es wäre so. Mehr als alles andere. Aber es ist nur ein schönes Gefühl und …«
Ich rannte unvermittelt los.
Drehte mich einfach um und hastete auf dem gewundenen Pfad, den ich mir in Gedanken zurechtgelegt hatte, durch die Kiefern.
Kara rief meinen Namen, und fast wäre ich stehen geblieben. Etwas in ihrer Stimme – eine Spur von Überraschung oder Kränkung – ließ mich daran zweifeln, dass ich sie wirklich …
Und dann fiel der Schuss.
Einen halben Meter links von mir explodierte ein Ast.
Moms Pick-up war noch fünfzig Meter von mir entfernt.
Ich sah kurz zurück und bemerkte eine Bewegung zwischen den Bäumen.
Ein weiterer Schuss.
Ich schlug einen Haken nach links, dann nach rechts und versuchte, ein schwieriges Ziel abzugeben.
Die letzten Meter legte ich im Sprint zurück.
Rasch hintereinander hallten zwei weitere Schüsse durch den Wald, und ich spürte, wie etwas an meiner Schulter riss.
Ich rannte weiter. Der Pick-up war nicht mehr weit.
Ich sah die Flinte, die Kara an den Baum gelehnt hatte.
Meine linke Schulter pulsierte. Der Schmerz, der von ihr ausging, erstreckte sich über meinen gesamten Rücken und den Hals.
Noch ein Schuss.
Die Kugel durchschlug die Windschutzscheibe des Pick-ups.
Meine Schulter tat unfassbar weh. Ich berührte sie und fühlte Blut. Kara hatte mich angeschossen.
Ich betastete meine Brust und die Vorderseite der Schulter, fand aber keine Austrittswunde.
Als ich den Pick-up erreichte, schnappte ich mir die Flinte und ging hinter dem Baum in Deckung.
Das Adrenalin, das durch meine Adern schoss, reduzierte den Schmerz zu einem dumpfen Pochen. Mein Herz raste mit 203 Schlägen pro Minute. Ein Stück den Hügel hinauf hörte ich einen Zweig knacken.
Ich versuchte, meinen Atem zu beruhigen.
Die Flinte war eine halbautomatische Benelli. So eine hatte ich schon einmal in Händen gehalten. Es war eine solide Waffe, die standardmäßig mit fünf Schuss im Magazin und einem in der Kammer geladen war. Doch Kara hatte sie mit einem längeren Magazin ausgestattet.
Ich lud sie durch und spähte um den Baumstamm herum.
Im Wald war es still geworden.
Kein Wind. Kein Vogelgezwitscher. Nichts bewegte sich.
Meine Schulter fühlte sich an, als hätte jemand mit einem Baseballschläger auf sie eingeschlagen. Blut rann an der Innenseite meines linken Beins herab. Es tropfte vom Hosensaum und zeichnete eine dunkle Spur auf die zermalmten braunen Kiefernnadeln.
Ich blickte hinter mich.
Nichts.
Was machte sie? Wollte sie mich von der Seite angreifen? Was würde ich an ihrer Stelle tun?
Sie hatte ein zerlegtes CheyTac mit Zielfernrohr in ihrer Reisetasche, das Langstrecken-Scharfschützengewehr des US -Militärs. Es war bis zu einer Entfernung von zwei Kilometern treffsicher und befand sich im Kofferraum des Google. Mit dem CheyTac würde sie mich gefahrloser ausschalten können als mit der Pistole. Ich würde sie nicht kommen sehen und noch nicht einmal den Schuss hören.
Die Benelli war eine Nahdistanzwaffe. Sie war mit 00-Schrotmunition geladen, die nur bis zu einer Entfernung von fünfzig Metern tödlich wirkte. Sicher war Kara zurückgegangen, um die Phasenspeicher zu holen. Anschließend würde sie außerhalb meiner Schussweite zum Google rennen.
Ich legte die Schrotflinte an meine schmerzende Schulter und suchte den Wald durch den Ghostring ab.
Alles war ruhig.
Ich stand unsicher auf. Meine Sicht verschwamm. In meinem linken Schuh schmatzte Blut, während ich auf den Pick-up zuging.
Die Fahrertür des Chevy stand noch immer offen. Ich krabbelte in geduckter Haltung in die Fahrerkabine und hoffte, dass sich der Zündschlüssel irgendwo darin befand.
Der Geruch trieb mir Tränen in die Augen.
Ich kletterte über meine Mutter, packte sie an den Schultern und versuchte, sie mit sanfter Kraft aus der Kabine zu ziehen. Mir wurde jedoch schnell klar, dass ich mir in dieser Situation kein Zartgefühl erlauben konnte. Es fühlte sich an, als würde ich versuchen, einen riesigen Sack voller Suppe und Reis zu bewegen.
Ich zog fester, bis sie auf den Waldboden plumpste. »Tut mir leid, Mom.«
Ich stieg wieder in die Kabine und schloss die beiden Türen. Das metallische Kreischen der Scharniere erfüllte den Wald.
Wenn Kara doch nicht zum Google gelaufen war und in der Nähe lauerte, würde sie mich problemlos erwischen.
Nun musste ich den verdammten Pick-up nur noch zum Laufen bringen.
Er stand schätzungsweise seit Oktober hier. Acht bis zwölf Wochen. Voll aufgeladen und im Standby-Modus würde die Batterie ungefähr sechs Monate halten. Wenn meine Mutter sie an derselben Station wie wir in Ojo Caliente, 45,7 Kilometer von hier entfernt, geladen hatte, musste sie eigentlich noch voll genug sein, selbst in einem alten Modell wie diesem. Wenn nicht … Nun, dann würde ich voraussichtlich innerhalb der nächsten dreißig Minuten sterben.
Ich drückte auf den Startknopf.
Nichts.
Ich versuchte es noch einmal.
Die Antriebseinheit setzte sich langsam in Bewegung.
Und blieb wieder stehen.
»Komm schon.«
Ich warf einen Blick durch die Windschutzscheibe, dann in den Innen- und die beiden Außenspiegel.
Nirgends eine Spur von Kara.
Ich versuchte es noch einmal.
Die Antriebseinheit surrte erneut, schneller diesmal.
»Komm schon!«
Beim vierten Anlauf erwachte der Motor zum Leben und starb nicht mehr ab. Ich trat leicht aufs Fahrpedal. Die Reifen drehten mehrere Sekunden lang durch, doch schließlich griffen sie.
Der Pick-up machte einen Satz nach vorne. Ich riss am Steuerrad und lenkte den Chevy zur Straße zurück. Nun trat ich das Pedal voll durch, um Kara nicht die Chance zu geben …
Geschosse streiften die Beifahrerseite des Pick-ups. Das Fenster explodierte, und etwas bohrte sich seitlich in mein Gesicht. Ich hoffte, dass es nur Glassplitter waren. Was ich hörte, waren nicht die einzelnen, durchdringenden Schüsse eines Scharfschützengewehrs, sondern das Stakkato einer vollautomatischen Salve.
Ich erhaschte einen Blick auf Kara, wie sie mit ihrem schwarzen Mantel und einem angelegten Maschinengewehr in der Sonne stand.
Ich sah Mündungsfeuer und duckte mich, bevor die Kugeln die Windschutzscheibe durchschlugen. Dann setzte ich mich wieder auf und riss gerade noch rechtzeitig das Steuer herum, um eine Kollision mit einem Baum zu vermeiden.
Als sich die nächste Salve in das Heck des Chevy bohrte, erspähte ich die Straße und den blauen Google, dessen Kofferraumdeckel noch immer offen stand.
Ich brach aus dem Wald hervor, trat das Bremspedal durch und brachte den Chevy einen Meter von Karas Auto entfernt quietschend zum Stehen.
Das Gewehrfeuer hatte aufgehört.
Ich packte die Schrotflinte, öffnete die Fahrertür und schoss aus der Hüfte eine Schrotladung in den rechten Hinterreifen. Der Google sank ein bisschen ab. Als Nächstes schoss ich den linken Hinterreifen platt. Auf dem letzten unbefestigten Straßenstück hätte ich Kara zwar abhängen können, auf glatterem Untergrund hätte sie mich jedoch bestimmt schnell wieder eingeholt.
Kara kam aus dem Wald.
Ohne zu zögern, visierte ich sie durch den Ghostring an und feuerte drei Schüsse auf sie ab. Während sie hinter einen umgestürzten Baum hechtete, warf ich die Flinte in den Pick-up, sprang hinein und trat erneut das Gaspedal durch.
Während ich auf den ausgeleierten Stoßdämpfern die Straße hinabholperte, schien es, als könnte das Fahrzeug jeden Moment auseinanderbrechen
Ich spähte angestrengt durch die zersplitterte Windschutzscheibe und beschleunigte auf sechzig Kilometer pro Stunde. Mein Sitz war blutgetränkt, und ich fühlte mich, als würde mir jemand ein rotglühendes Schüreisen in den Rücken bohren.
Immer wieder blickte ich in den Seitenspiegel und hielt nach dem Google Ausschau. Doch hinter mir war nur eine rote Staubwolke zu sehen.
Mein Adrenalinspiegel sank, und der Schmerz kehrte mit voller Gewalt zurück.
Nach ein paar Kilometern musste ich vom Gas gehen, da ich mir nicht sicher war, ob ich den Pick-up noch auf der Straße halten konnte. Ich sah schlecht und fühlte mich wie betäubt …
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit Kara mich angeschossen hatte, aber ich blutete eindeutig schon zu lange. Wenn ich nicht bald anhielt, würde ich sterben.
Ich langte hinter mich und drückte die Hand auf die Wunde. Blut sickerte durch meine Finger. Es fiel mir schwer, gleichzeitig den Wagen zu steuern und die Blutung zu stillen, aber ich musste weiter und so viel Abstand wie möglich zwischen Kara und mich bringen.
Ich bemerkte die ersten Anzeichen eines hypovolämischen Schocks, der einsetzt, wenn der Körper mehr als zwanzig Prozent seines Bluts verliert. Ich atmete zu schnell und zu flach und spürte, dass mein diastolischer Druck auf ein gefährliches Niveau absank.
Plötzlich wurde mir kalt. Ich versuchte, mit der ganzen Kraft meines upgegradeten Verstandes gegen die Verwirrung anzukämpfen und am Leben zu bleiben, doch die Ränder meines Sichtfelds färbten sich grau.
Ein plärrendes, lang anhaltendes Geräusch.
Es drang durch die erdrückende Dunkelheit schwach in mein Bewusstsein.
Den Kopf zu heben war das Anstrengendste, was ich in meinem ganzen Leben getan hatte. Als es mir gelang, brach das Geräusch ab.
Ich öffnete die Augen.
Kristalline Lichtsplitter drangen in meine Pupillen.
Ich schmeckte Blut. Mein ganzes Gesicht war damit bedeckt. Ich saß noch immer hinter dem Steuer des alten Chevy. Auf der anderen Seite der Motorhaube erblickte ich den runzligen Stamm einer riesigen Pappel. Ich war dagegen gekracht.
In der Nähe standen Gebäude.
Ich sah die Ruine des Mis Amigos.
Jemand stand neben meinem Fenster. Ich wandte langsam den Kopf und blinzelte gegen die grelle Wintersonne an.
Er war elf oder zwölf und sah zu, wie ich in dem nach Verwesung stinkenden und von Kugeln durchlöcherten Pick-up verblutete. Was sicher eine der verstörendsten Erfahrungen seines jungen Lebens war.
» ¿Necesitas ayuda?« , drang seine hohe Stimme gedämpft durch die Scheibe.
»Sí«, antwortete ich matt. »Por favor.«
Nun tauchten weitere Leute hinter ihm auf der Straße auf und näherten sich dem Auto, das mitten in ihrem ruhigen Dorf verunfallt war.
Sie konnten nicht ahnen – niemand konnte das –, dass der sterbende Mann in dem Chevy gerade für die Zukunft unserer Spezies gekämpft und verloren hatte.