Zwei Tage später raste ich unter dem weitesten Himmel, den ich je gesehen hatte, hundertsechzig Kilometer westlich von Glasgow durch Montana.
Der Landschaft um mich herum haftete eine sanfte Trostlosigkeit an. Von Zeit zu Zeit sah ich auf den weiten Ebenen eine verwitterte Scheune oder ein Schulhaus stehen.
Ich durchquerte bewohnte Geisterstädte, deren Infrastruktur lediglich aus einem Postamt und einer Kornmühle bestand.
Die allgegenwärtigen Windparks mit ihren wirbelnden weißen Rotorblättern waren der einzige Beweis, dass man auch hier in der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts angekommen war.
Ansonsten schien diese Gegend komplett aus der Zeit gefallen zu sein.
Die Entfernungen zwischen den einzelnen Siedlungen wirkten nicht nur riesig, sondern geradezu galaktisch.
Ich fuhr in meinem Mercedes-Sprinter-EV mit Vierradantrieb, den ich zu einer Mischung aus Wohnmobil und molekularbiologischem Labor umfunktioniert hatte. Wenn ich mal keine Unterkunft fand, stellte ich einfach den Antrieb ab, klappte das eingebaute Bett aus und schlief im Sprinter, während in der Sonora-Wüste Kojoten heulten oder in Colorado ein heftiger Schneesturm die Außenwelt einhüllte.
Achtzig Kilometer vor Glasgow stellte ich das Radio an und drückte auf Sendersuchlauf, bis ich die örtliche NPR -Station fand.
»… untersuchen Rinder auf den umgebenden Ranches und Fleisch aus den Lebensmittelgeschäften in Glasgow. Bislang gibt es jedoch keinen Hinweis, dass mit BSE verseuchtes Fleisch für die 177 Todesfälle innerhalb einer Woche verantwortlich sein könnte.«
Ich kam an zwei mobilen elektronischen Anzeigetafeln vorbei, die im Abstand von wenigen Hundert Metern aufgestellt worden waren.
Auf der ersten stand:
Highway 2 östlich von Hinsdale für den gesamten Verkehr in östlicher Richtung gesperrt
Und auf der zweiten las ich:
Umleitung in Richtung Norden zum Highway 5 oder nach Süden zum Highway 200
Ich fuhr weiter nach Osten.
Hinsdale war ein Weiler mit 242 Einwohnern, den man bei der Durchfahrt leicht übersah, wenn man im falschen Moment blinzelte. Er stand im Schatten eines tausend Meter hohen Windrads.
Während ich durch die Hauptstraße rollte, sah ich in der Ferne Lichter aufblitzen.
Achthundert Meter östlich der Stadtgrenze blockierten drei Autos von der Montana Highway Patrol beide Fahrbahnen und die Straßenränder.
Als ich mich der Sperre näherte, stieg aus einem der Autos ein Streifenpolizist. Er war mit einer Khaki-Hose, einem olivgrünen Button-down-Hemd und einem breitkrempigen Hut bekleidet.
Ich brachte den Sprinter rund sieben Meter vor den Polizeifahrzeugen zum Stehen.
Während meines Nomadendaseins der vergangenen zwölf Monate war ich wie durch ein Wunder kein einziges Mal von der Polizei angehalten worden. Ich war zuversichtlich, dass die Veränderungen, die ich an meinem Gesicht vorgenommen hatte, auch einer kritischen Überprüfung standhalten würden. Und mein Führerschein war zwar noch nie von einem Polizisten kontrolliert worden, ansonsten hatte er mir jedoch bereits viele Male gute Dienste erwiesen.
Ich reduzierte meinen Herzschlag auf siebzig Schläge pro Minute.
Der Polizist bedeutete mir mit kreisendem Zeigefinger, das Fenster zu öffnen.
Ich kam der Aufforderung nach.
Er trug eine Fliegerbrille, in deren Gläsern ich mich selbst hinter dem Lenkrad sitzen sah. Ich fragte mich, ob die Innenseiten der Gläser optische Displays enthielten, auf denen relevante Informationen über mich und mein Fahrzeug angezeigt wurden oder ob es sich bloß um herkömmliche Sonnenschutzlinsen handelte.
Ich bemerkte Anzeichen von Rasurbrand auf seinem Gesicht und Hals.
»Tun Sie mir einen Gefallen, und stellen Sie den Motor ab.«
Ich tat es.
Es gefiel mir nicht, dass ich seine Augen nicht sehen konnte. Die Augenbewegungen verrieten mit Abstand am meisten über die Gefühle und Absichten einer Person.
»Woher kommen Sie?«, fragte er.
Die Nummernschilder meines Sprinters stammten aus New Mexico.
»Aus New Mexico«, erwiderte ich.
»Okay. Haben Sie vor dreißig Kilometern die Hinweisschilder gesehen?«
»Klar.«
»Dann wissen Sie also, dass Glasgow und das nähere Umland wegen des Seuchenausbruchs abgeriegelt sind.«
»Ich arbeite als Zellbiologe am Los Alamos National Laboratory. Glasgow ist mein Ziel.«
Er nahm die Brille ab und fixierte mich mit seinen hellblauen Augen. »Wie heißen Sie?«
»Robbie Foster.«
»Führerschein und Fahrzeugpapiere.«
Ich hatte die Dokumente schon bereitgelegt und reichte sie ihm.
Er nahm sie und ging wortlos zu seinem Auto zurück.
Der Wind peitschte über die Prärie.
Der Sprinter wackelte.
Fünf Minuten später stieg er wieder aus seinem Auto und kam zurück.
»Willkommen in Montana, Mr. Foster. Sie arbeiten für das CDC ?«
»Ich bin eher so etwas wie ein freier Mitarbeiter.«
»Tja, wir sind auf jeden Fall froh, Sie hierzuhaben.«
Auf seinem Namensschild stand D. TRAUTMANN . D stand für David.
Er war einer von 237 State Troopers in Montana, gehörte zum District V und war in der Stadt Glendive stationiert. District V umfasste sechzehn Countys, darunter Valley, in dem ich mich gerade befand. David war vierundzwanzig und hatte vor einem Jahr seinen Abschluss an der Polizeischule gemacht.
Er war noch reichlich grün hinter den Ohren.
David berichtete an Sergeant Betsy Lane, die an Captain Sam Houghton berichtete, der an Major Tommy Meadows berichtete, der wiederum an Colonel Jenna Swicegood berichtete. An diesem Morgen hatte ich mich zwei Stunden lang über die Befehlskette der Montana Highway Patrol informiert und eruiert, wie sie im Hinblick auf die Vorfälle in Glasgow mit dem CDC und der Nationalgarde von Montana interagierte.
Die MHP hatte den Auftrag, vierzig Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt den äußersten Ring aus Kontrollpunkten zu betreiben.
Zwei Stunden zuvor hatte ich Colonel Swicegood von einer fingierten Telefonnummer in Atlanta aus angerufen und mich als Ron Auerbach ausgegeben, CDC -Direktor für zwischenstaatliche und strategische Angelegenheiten. Ich hatte ihr eine Liste mit drei Wissenschaftlern übermittelt, die auf dem Highway 2 nach Glasgow unterwegs seien, dazu die jeweiligen Nummernschilder, Fahrzeugbeschreibungen und die geschätzten Ankunftszeiten am Checkpoint in Hinsdale.
»Was haben Sie hinten im Wagen?«, fragte der Trooper. Er wirkte nicht misstrauisch, sondern bloß neugierig.
Ich stieg aus dem Auto. Selbst aus einer Entfernung von achthundert Metern war noch das dumpfe Dröhnen zu vernehmen, mit dem die gewaltigen weißen Blätter des Windrads die Luft durchschnitten.
Ich öffnete die seitliche Schiebetür.
Das Erste, worauf Davids Blick fiel, war ein von der Decke hängender weißer Schutzanzug.
Dann auf ein Tiefkühlgerät.
Eine Mini-Zentrifuge.
Ein Fluoreszenzmikroskop mit Videokamera.
Und eine graue Maschine von der Größe und Form einer Mikrowelle.
»Das ist ein automatisiertes digitales Mikrofluidik-Gerät zur Nanopore-DNS -Sequenzierung«, sagte ich. »Ich steige in den Anzug, gehe ins Ausbruchsgebiet und sammle DNS von infizierten Personen. Hautzellen, Schleimabstriche, Blutproben. Dann gebe ich die Proben in diese Maschine, die die DNS analysiert, um zu ermitteln, an welchen Krankheiten sie leiden könnten. Wenn wir die Sequenz entdecken oder erkennen, was genetisch verändert worden ist, dann können wir möglicherweise herausfinden, mit was für einer Art Krankheit wir es zu tun haben.«
»Ich habe gehört, es soll etwas mit verdorbenem Fleisch zu tun haben«, sagte er.
In seiner Stimme schwang mehr als nur morbides Interesse mit.
»Das wissen wir noch nicht. Leben Sie in der Gegend?«
»In Malta.«
»Sie kennen jemanden, der erkrankt ist«, stellte ich fest.
»Mein Schwager. Meine Schwester und er wohnen in Glasgow.«
»Das tut mir leid.«
»Ich habe seit zwei Tagen nicht mehr mit meiner Schwester sprechen können.«
»Wie heißen die beiden?«
»Tiffany und Chris Jarvis.«
»Wie lautet ihre Adresse?«
Er schrieb sie auf die Rückseite einer Visitenkarte. Ich steckte sie ein.
»Ich werde versuchen, sie aufzuspüren. Wir werden herausfinden, was da los ist.«
Ich konnte sehen, dass mein Angebot ihn berührte. »Das wüsste ich sehr zu schätzen. Wenn Sie sie sehen …«
Ich sah zu, wie er seine Gefühle zu unterdrücken versuchte. »Ich werde es ihr ausrichten.«
Der Highway zwischen Hinsdale und Glasgow war leer, wie nach einer Apokalypse. Ich wusste, dass die Straßensperre, durch die ich es gerade geschafft hatte, nicht die letzte und auf keinen Fall die am strengsten kontrollierte sein würde. Der nächste Checkpoint würde mit Soldaten statt mit Highway-Polizisten bemannt sein, die dreißig Kilometer vom Geschehen entfernt und nicht auf dem Laufenden waren. Dort würde ich mein Glück auf keinen Fall noch einmal auf die Probe stellen.
Viereinhalb Kilometer vor Glasgow fuhr ich von der Straße runter und parkte meinen Wagen so versteckt wie möglich zwischen den einzigen Bäumen, die ich während des ganzen Tages gesehen hatte. Es waren Pappeln. Sie standen am Ufer des Milk River, eines 1 173 Kilometer langen Seitenarms des Missouri, der in einer Entfernung von vierhundert Metern an Glasgow vorbeifloss.
Auf meiner Packliste für den letzten Teil der Strecke standen ein Schlauchboot, mein Schutzanzug, der Garmin, ein Fernglas, eine Heckler & Koch VP , eine Panzerweste, ein Nachtsichtgerät der neuesten Generation, das an die klassische Oakley-Sonnenbrille erinnerte, ein Laptop und ein Etui mit Spritzen und BD -Vacutainer-EDTA -Röhrchen für die Entnahme und Lagerung der Blut- und Speichelproben.
In voll aufgeblasenem Zustand machte das Schlauchboot, das ich tags zuvor für neunzig Dollar in der Sportabteilung eines Walmart in Spokane erstanden hatte, nicht viel her.
Ich belud es mit meiner Ausrüstung und wartete auf die Dunkelheit.
Über mir steuerten zahlreiche Drohnen und Flugzeuge im Tiefflug Glasgow an, doch auf der Straße fuhr kein einziges Fahrzeug vorbei.
Ich saß an eine Pappel gelehnt und sah zu, wie die Sonne hinter dem Horizont versank.
Als sie untergegangen war, wurde es kalt.
Ein erster Stern zeigte sich am Himmel.
Um acht Uhr zog ich das Boot zum Fluss, stieg hinein und stieß mich mit einem der Ruder vom Ufer ab.
Das Wasser war bitterkalt.
Eisschollen trieben am Schlauchboot vorbei.
Der Mond war bloß eine dünne Sichel, dank des Nachtsichtgeräts konnte ich dennoch alles sehen.
Abgesehen von meinen Rudern, die ich gelegentlich in das eisige schwarze Wasser tauchte, war es vollkommen still.
Der Fluss war perfekt dazu geeignet, sich darin treiben zu lassen. Er war breit und wies eine ordentliche Strömung auf.
Der gewundene Kurs durch die Äcker kostete mich dennoch mehrere Stunden, viel mehr Zeit, als ich auf der Straße benötigt hätte.
In der Ferne sah ich die Lichter von Gehöften, die wie grüne Sterne funkelten, und dahinter den Strahlenkranz, der Glasgow umgab.
Jedes Mal, wenn das Boot um eine Flussbiegung fuhr, leuchtete die Stadt ein bisschen heller.
Unterwegs behielt ich sorgfältig beide Ufer im Auge, auch wenn ich nicht mit einem Sicherheitskontrollpunkt am Fluss rechnete. Die Nationalgarde und das CDC würden es zwar bestimmt nicht gerne sehen, wenn jemand in die Stadt gelangte; viel wichtiger war es ihnen jedoch, dass die Bewohner sie nicht verließen.
Um Viertel vor elf piepte mein Garmin.
In der Nacht zuvor hatte ich lange die Google-Earth-Satellitenaufnahmen von Glasgow und der näheren Umgebung studiert und vor dem Aufbruch mit dem Schlauchboot die angepeilte Ausstiegstelle mit einem GPS -Pin markiert.
Ich paddelte ans Ufer, sprang aus dem Boot und zog es an Land.
Der Stadtrand befand sich etwas weniger als tausend Meter von mir entfernt, auf der anderen Seite eines offenen Feldes.
Ich nahm das Fernglas und ließ den Blick über Glasgow schweifen.
Von meiner Position in den Schatten aus konnte ich einen Militär-Kontrollpunkt auf dem Highway 246 ausmachen. Er befand sich ungefähr hundert Meter westlich von der Stadt und war mit Betonbarrieren und quer über die Straße gespanntem Stacheldraht gesichert. Zwischen zwei Humvees stand ein halbes Dutzend Soldaten in Biosicherheitsanzügen.
Im Geschützturm eines der beiden Fahrzeuge suchte ein Soldat mit einem Nachtsichtgerät methodisch die umliegenden Felder ab, darunter auch jenes, das ich überqueren musste, um in die Stadt zu gelangen. Am Rand dieses Feldes gab es jedoch eine niedrige Böschung, hinter der ich mich geduckt vorwärtsbewegen konnte.
Ich verstaute das Schlauchboot zwischen den Bäumen, schulterte meinen Rucksack und begann, langsam in Richtung Glasgow zu robben.
Um Mitternacht erreichte ich den Stadtrand.
Ich streifte den Rucksack ab und zog den Schutzanzug heraus, nicht aus Sorge vor einer Infektion, sondern um mich damit zu tarnen. Wer würde schon jemanden verdächtigen, der in einem Schutzanzug in einem Ausbruchsgebiet unterwegs war?
Ich legte die magnetische Panzerweste an und brauchte wegen der Dunkelheit mehrere Minuten, um mich in den Tyvek-Anzug zu zwängen. Anschließend streifte ich das Atemgerät über, verstaute die Pistole in dem improvisierten Holster, das ich an der Hüfte des Anzugs befestigt hatte, und schulterte erneut den Rucksack.
Vorsichtig ging ich durch eine kleine Baumgruppe, die das Feld, durch das ich gekrochen war, von Glasgow trennte. Das erste Gebäude, das ich sah, war eine von rostigen und mit Unkraut bedeckten Fahrzeugen umgebene Autowerkstatt.
Ich kniete mich hin und sondierte einen Moment lang die Lage.
In der Ferne standen mehrere bescheiden aussehende Häuser.
Laut dem Protokoll der Nationalgarde von Montana würde während der nächtlichen Ausgangssperre jeweils ein Soldat einen Häuserblock überwachen. Außerdem würden ein paar Humvees oder Bradley-Kampffahrzeuge unterwegs sein.
Ein Nationalgardist mit einer taktischen Gesichtsmaske lief in mein Blickfeld und ging mitten auf der ansonsten leeren Straße mit seinem Maschinengewehr im Anschlag von mir weg. Vierzehn Sekunden später durchquerte ein weiterer Soldat die nächstgelegene Querstraße, und fünf Sekunden danach tauchte – zwei Blocks entfernt – ein dritter Soldat auf, der kurz in meine Richtung ging, ehe er gleich darauf nach rechts abbog.
Ich maß ihre jeweiligen Schrittgeschwindigkeiten, die um bis zu 0,5 Kilometer pro Stunde voneinander abwichen, und berechnete rasch, wie lange ich mich zwischen ihnen aufhalten konnte, ohne dass mich einer von ihnen sah.
Als der richtige Augenblick kam, verließ ich meine Deckung zwischen den Bäumen und ging schnell einen Gehsteig entlang. Die eingeschränkte Sicht durch mein Visier behagte mir nicht. Und auch ansonsten waren meine Sinneswahrnehmungen durch den Schutzanzug gedämpft.
Ich hörte:
Einen bellenden Hund.
Einen Mann, der schluchzend jemanden namens Jane anflehte, wieder aufzuwachen.
Eine mit Megafon verstärkte Stimme, die fünf oder sechs Blocks entfernt Anweisungen rief.
Laute Knallgeräusche, vermutlich Schüsse, auf der anderen Seite der Stadt.
Dazu drang aus mehreren Häusern das manische Lachen, das ich bereits aus dem viral gegangenen Video kannte.
Laut des Langwellen-Radiosenders KLTZ , der in Glasgow zu empfangen war, hatten das CDC und die Nationalgarde den Bewohnern aller Häuser befohlen, ein sichtbares Zeichen aus Stoff an ihren Vordertüren zu befestigen, das ihren jeweiligen Gesundheitszustand markierte.
Grün = keine Krankheit.
Rot = mindestens ein Mitglied des Haushalts zeigte Symptome.
Schwarz = im Haus befand sich mindestens eine tote Person.
Als ich die Ninth Street South entlangging, sah ich zu meinem Entsetzen an jedem neunten oder zehnten Haus ein schwarzes Stück Stoff am Türknauf hängen.
Außerdem sah ich weitere Soldaten durch die Straßen patrouillieren und fügte sie in meine Berechnung ein.
Die ersten Häuser, denen ich mich näherte, schieden aus, weil Hunde darin bellten, Lichter in den Fenstern brannten oder die Türen verschlossen waren. Da ich keinen Alarm auslösen wollte, suchte ich ein dunkles Haus ohne Hund und mit unversperrter Tür.
Im Norden erblickte ich das Zentrum der medizinischen und militärischen Aktivitäten:
Weiße Zelte, die im Scheinwerferlicht leuchteten.
Eine Schlange von Menschen, die auf eine Behandlung warteten.
Über alldem schwebten Drohnen.
Ich blieb einen Moment lang stehen und versuchte, alles in mich aufzunehmen. Die Angst dieser bedauernswerten Leute war beinahe mit den Händen zu greifen. Sicher fragten sie sich, welcher verrückten Wendung des Schicksals sie diese Krankheit zu verdanken hatten. Und im Gegensatz zu mir konnten sie ihre Furcht nicht abschalten.
Ich musste ein Haus finden.
Meine Blutprobe bekommen.
Zum Sprinter zurückkehren.
Zum vorausberechneten Zeitpunkt nahm ich in der Windschutzscheibe eines Autos auf der anderen Straßenseite die Reflektion einer Bewegung wahr. Ein Soldat in Nachttarnung trat auf die Straße.
Ich hechtete vor ein Auto, legte mich flach in den Rinnstein und wartete reglos ab, bis er vorüber war.
Eine Querstraße weiter entdeckte ich eine vertraute Adresse und erklomm die überdachte Vordertreppe. Das an die Tür genagelte schwarze Stück Stoff waren die Überreste eines T-Shirts von Beyoncés Abschiedstournee.
Ich klopfte an.
Das Verandalicht brannte, doch im Inneren des Hauses waren keine Lichter zu sehen. Ich griff nach oben und drehte die Glühbirne heraus.
Dann drückte ich ein Ohr an die Tür.
Keine sich nähernden Schritte.
Keine Stimmen.
Ich griff nach unten und drehte den Knauf.
Die Tür war nicht abgesperrt.
Innen war es dunkel.
Still.
Ich trat ein und machte hinter mir wieder zu.
Trotz meines Atemfilters nahm ich den Totengeruch wahr.
Ich ging in ein kleines Wohnzimmer und durch eine bogenförmige Tür weiter in die Küche.
Dort betätigte ich einen Wandschalter.
Schienenleuchten erhellten Arbeitsplatten, auf denen sich schmutziges Geschirr stapelte.
»Hallo?«
Der leere Raum verschluckte meinen Ruf.
Es kam keine Antwort.
Ich stieg die mit Teppich belegte Treppe in den ersten Stock hinauf. Vom oberen Absatz gingen mehrere Türen ab.
Sie waren alle zu.
Ich öffnete die mittlere und blickte in ein Badezimmer mit zwei weiteren, nach links und rechts abgehenden Türen.
Die rechte führte in ein Arbeitszimmer.
Ich schaltete das Deckenlicht an.
Der Schreibtisch war mit Fotos und verschiedenen Schneidewerkzeugen bedeckt.
Über dem Tisch hing ein gerahmtes Foto von einer Großfamilie, die in besseren Zeiten vor einem imposanten Weihnachtsbaum posierte.
Ich ging ins Badezimmer zurück und öffnete die andere Tür.
Meine Augen begannen zu tränen.
Ich hörte ein leises Schaben, zog die Pistole und hätte fast die Frau erschossen, die in einem seidenen Nachthemd reglos in der am weitesten entfernten und dunkelsten Ecke des Schlafzimmers hockte.
Sie hatte die Arme um die Knie geschlungen und betrachtete mich durch einen Vorhang aus Haaren.
»Was tun Sie in meinem Haus?« Ihre monotone Stimme klang, als stünde sie unter Schock – und gleichzeitig ein wenig gepresst.
»Ich habe das schwarze T-Shirt an Ihrer Tür gesehen«, erwiderte ich. »Ich habe geklopft, aber es hat niemand geantwortet.«
Die Frau rührte sich nach wie vor nicht und war in der Dunkelheit so gut wie unsichtbar.
Ich ließ die Pistole sinken und ging ein paar Schritte auf sie zu. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
Soweit ich es beurteilen konnte, schüttelte sie den Kopf.
Ich ging zur Wand und betätigte den Lichtschalter.
Auf einem Nachttisch ging eine Lampe an und beleuchtete einen aufgeblähten Mann, der auf einem Doppelbett lag. Er trug ein T-Shirt über einer Pyjamahose. Seine Augen standen offen, seine Haut schimmerte bleich und wächsern. Ich schätzte ihn auf vierzig bis fünfundvierzig. Um ihn herum lagen etliche gerahmte Fotos verteilt, wie für eine improvisierte Trauerfeier.
Die Aufnahmen zeigten den Toten und die Frau in der Ecke.
Am London Eye.
In Chichén Itzá in Yucatán.
Am Fuß der Space Needle in Seattle.
Bei einem Konzert.
Auf Snowmobilen.
»Wann ist er gestorben?«, fragte ich.
»Vor drei Tagen. Ich habe versucht, seine Mutter anzurufen, aber Sie und Ihre Leute haben unser Wi-Fi abgeschaltet und das Handynetz gesperrt.«
»Hat er sich vor seinem Tod eigenartig benommen?«
»Ja.«
»Hat er nur noch im Bett gesessen und gezittert?«
Sie nickte.
»Zwanghaft gelacht?«
»Es wurde immer schlimmer. Er wollte nichts mehr essen oder trinken. Ist nicht mehr ins Badezimmer gegangen. Er hat mir verboten, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Als ich schließlich doch den Notarzt rief, ging es in der Stadt bereits drunter und drüber.«
»Ist keiner gekommen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Am Ende hat er mich nicht einmal mehr erkannt.« Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Mein Vater ist vor fünf Jahren an Demenz gestorben. Bei meinem Mann war es, als hätte er den ganzen Prozess innerhalb von zehn Tagen durchgemacht. Als ich ihn das letzte Mal dazu bringen wollte, Wasser zu trinken, hat er mich geschlagen und mir den Kiefer gebrochen.« Sie beugte sich vor, um mir ihre linke Gesichtsseite zu zeigen. Sie war blau angelaufen und geschwollen. »Irgendwann hat er schließlich gar nicht mehr reagiert und bloß noch stundenlang ins Leere gestarrt. Danach ist er in eine Art Koma gefallen. Ich bin zu ihm ins Bett gekrochen und habe ihm eine Hand auf die Brust gelegt, um zu spüren, wie sie sich hob und senkte. Dabei bin ich eingeschlafen, und als ich wieder wach wurde, hat sich seine Brust nicht mehr bewegt.«
»Dürfte ich einen Abstrich von seiner Mundschleimhaut machen?«
»Wozu?«
»Sein Gen-Material wird uns dabei helfen, die Krankheit, die ihn getötet hat, besser zu verstehen.«
»Er ist tot. Ist es damit nicht unbrauchbar?«
»Hoffentlich nicht.«
»Von mir aus.«
Ich stellte meinen Rucksack auf die Sitzbank am Fuß des Betts und fischte mein Probenset heraus: eine Plastikampulle und einen zwölf Zentimeter langen Tupfer.
Der Mund des Toten war geschlossen. Ich hoffte, dass die Totenstarre bereits vergangen war. Wenn nicht, würde ich ihm ein Stück Haut von einem Finger schneiden müssen.
Zum Glück ließ sich sein Mund leicht öffnen. Ich schob ihm den Tupfer zwischen die Zähne, strich mit der Spitze über die Innenseite einer Wange und verstaute das Stäbchen im Plastikröhrchen.
»Werde ich auch sterben?«, fragte die Frau.
Ihre Stimme war leise und bebte vor Angst.
Ich ging zu ihr. »Leiden Sie unter ähnlichen Symptomen wie Ihr Mann?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber es geht mir nicht gut.«
»In welcher Hinsicht?«
»Nachts tut mir alles weh. Es fühlt sich an, als würden meine Knochen auseinanderbrechen.«
»Was sonst noch?«
Erneut glitzerten Tränen in ihren Augen. »Mein Gedächtnis hat sich verändert.«
»Inwiefern?«
»Es ist, als würden alle Momente, die ich mit Chris erlebt habe, immerzu über mich hinwegspülen. Ich sehe sie in allen Einzelheiten und so klar wie noch nie vor mir. Klarer, als ich mich je an irgendetwas erinnert habe. Wir sind uns vor dreizehn Jahren in einer Bar in Bozeman begegnet. Ich könnte alles wortwörtlich wiederholen, was wir damals gesagt haben. Ihnen genau schildern, was ich damals empfunden habe. Ich kann nicht zeichnen, aber wäre ich dazu in der Lage, könnte ich ihnen zeigen, wie Chris in dieser Nacht ausgesehen hat – bis hin zu den Bartstoppeln auf seinem Kinn. Das Haarbüschel, das ihm senkrecht vom Kopf abgestanden ist. Ich könnte ihnen genau beschreiben, wie er gerochen hat. Wie sehr ich mich bei ihm zu Hause gefühlt habe. Wie ich schon in dieser Nacht wusste, dass ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen würde.« Sie sah mich flehentlich an. »Ich habe nie damit gerechnet, dass es so enden würde.«
Ich hätte sie gern getröstet.
Aber ich war zu aufgeregt, diese Frau gefunden zu haben – sie zeigte die gleichen frühen Upgrade-Symptome, die auch ich nach der Explosion der Eisbomben in Denver gehabt hatte.
Und ich bekam es mit der Angst zu tun, wenn ich darüber nachdachte, was das bedeutete.
Die Teenagerin in dem Video hatte von allumfassenden Schmerzen gesprochen. Deswegen war ich hergekommen, und nun hatte ich meine Bestätigung. Um ganz sicher zu sein, würde ich jedoch noch ihre DNS von meinem Sequenzer analysieren lassen müssen.
Ich kniete mich vor sie.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich von Ihrer Mundschleimhaut ebenfalls einen Abstrich mache?«
»Warum?«
»Ich versuche nur zu verstehen, was vor sich geht.«
Sie nickte.
Ich nahm einen weiteren Tupfer und wischte etwas Speichel von der Innenseite ihrer rechten Wange.
»Was werden Sie damit machen?«, fragte sie.
Ich ging zum Bett, nahm einen schwarzen Filzstift aus dem Probenset und schrieb auf das Plastikröhrchen mit ihrer Probe: »sie/nicht krank«.
»Ich werde Ihre DNS analysieren und mit der Ihres Mannes vergleichen. Ich versuche herauszufinden, weshalb er krank geworden ist und Ihr Zustand sich verbessert hat.«
»Verbessert ?«, fragte sie. »Ich fühle mich nicht besser.«
»Das glaube ich, aber Sie werden überleben.« Ich streifte den Rucksack über. »Gehen Sie bitte wenn möglich zu den Lazarettzelten, und lassen Sie sich dort den Kiefer richten.« Ich öffnete die Tür und trat aus dem Zimmer. Im Gang drehte ich mich noch einmal um. »Ich bin heute an einem Kontrollpunkt in Hinsdale Ihrem Bruder begegnet. David. Er macht sich Sorgen um Sie. Er wollte mit Ihnen sprechen, aber die lassen nicht mal die Highway-Polizei in die Stadt. Ich soll Ihnen von ihm ausrichten, dass er sie lieb hat.«
Sie fing wieder an zu weinen.
»Ihr Verlust tut mir sehr leid, Tiffany.«
Damit schloss ich die Tür. Während ich die Treppe hinabging, dachte ich darüber nach, auf welcher Route ich aus der Stadt hinaus und zum Sprinter gelangen würde.
Im Foyer krachte etwas mit der Wucht eines Lastwagens gegen mich.
Ich knallte gegen die Wand.
Meine Pistole fiel zu Boden.
Ein Ellbogen erwischte mich am Kinn, und mir wurde schwarz vor Augen.
Wer auch immer mich angegriffen und überrumpelt hatte, musste ebenfalls upgegradet sein.
Ein weiter Schwinger traf mich in die Magengrube. Ich klappte keuchend zusammen.
Mit einem Mal befand ich mich gut zweit Meter über dem Boden. Irgendwer hob mich hoch, als wöge ich gar nichts, und warf mich dann so kraftvoll, dass ich 0,85 Sekunden lang durch die Luft flog.
Am Rand der Küche knallte ich auf das Hartholzparkett.
Ich hörte mich stöhnen, schaffte es aber, die Schmerzen weitestgehend zu ignorieren und den Kopf zu heben. Am Fuß der Treppe stand ein Mann. Er hob gerade meine Heckler & Koch auf.
Er trug kein Atemgerät.
Ich hörte Schritte im ersten Stock.
Der Mann vernahm sie offensichtlich auch, denn er sah mit erhobener Pistole die Treppe hinauf, wartete einen Moment und schoss.
Tiffany fiel die Stufen runter und blieb vor seinen Füßen liegen.
Der Mann entfernte das Magazin aus meiner Pistole, warf die Patrone in der Kammer aus und nahm die Waffe, während er barfuß auf mich zuging, auseinander. Die Einzelteile ließ er klappernd auf den Boden fallen.
Er war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt und glattrasiert, mit einem kräftigen Kinn und schulterlangen Haaren. Er trug Jeans und ein enges Polohemd, das sich straff über seinen kräftigen Muskeln spannte. Er war ein paar Zentimeter kleiner als ich und gebaut wie ein Ringer.
Er war garantiert upgegradet, konnte aber seine Körpersprache noch nicht kontrollieren. Er hätte mir genauso gut ins Ohr schreien können, wie sehr er es liebte, anderen Leuten Schmerzen zuzufügen. Jemand Schlimmeren mit einem Upgrade konnte ich mir kaum vorstellen.
Soweit ich es erkennen konnte, trug er keine Waffe.
Ich blieb liegen und ließ ihn näher herankommen.
Meine Gedanken rasten.
Wie hatte er mich hier gefunden?
Die Antwort war ganz einfach:
Er hatte mich erwartet.
Er hatte die gleiche Google-Earth-Recherche durchgeführt wie ich und erkannt, dass der Milk River und das Feld, das ich kriechend überquert hatte, der sicherste Weg in die Stadt waren.
Und er hatte darauf gewartet, dass ich auftauchen würde.
Ich hatte es vermasselt.
So versessen, wie ich darauf gewesen war, die beste Route in die isolierte Stadt zu finden, hatte ich gar nicht darüber nachgedacht, dass jemand, der genauso intelligent wie ich war, die gleiche Strecke wählen würde.
Ich hätte mich für die zweit- oder drittbeste Option entscheiden sollen. Oder zumindest ansatzweise auf ein Ereignis wie dieses vorbereitet sein müssen.
Doch all das war im Moment nicht wichtig.
Als er noch gut einen Meter von mir entfernt war, stürzte ich mich auf ihn.
Er wich mir mühelos aus.
Ich hechtete an ihm vorbei und knallte auf den Boden. Während ich mich wieder aufrappelte, riss ich mir das Atemgerät vom Gesicht, um besser sehen zu können, und ließ den Rucksack von den Schultern gleiten.
Er sah mich an und strich sich die Haare hinter die Ohren. »Hi, Logan.«
Ich merkte, wie ich automatisch seine Stimme mit allen abglich, die ich je gehört hatte.
Er sah mich an, als könnte er meine Gedanken lesen. »Wir sind uns noch nie begegnet.«
»Wie lange haben Sie auf mich gewartet?«, fragte ich.
»Drei Nächte.«
»Wo?«
»Auf dem Autofriedhof.«
»Ist meine Schwester auch hier?«
Während er leise in sich hineinlachte, überlegte ich, ob sein Auftrag darin bestand, mich gefangen zu nehmen oder zu töten.
»Haben Sie Ihre Proben bekommen?«
Wir trafen im Wohnzimmer aufeinander.
Ich wich seiner rechten Gerade aus, die mich andernfalls zu Boden geschickt hätte, und landete, während er einen Moment lang um sein Gleichgewicht rang, einen rechten Haken in seinem Gesicht, gefolgt von einem heftigen Ellbogenstoß gegen seine Nase.
Er taumelte nach hinten.
Blut floss ihm übers Gesicht.
Wir lieferten uns einen Schlagabtausch. Ein paar Schläge fanden ihr Ziel, andere gingen daneben. Selbst meine wuchtigsten Treffer schienen ihm nicht viel auszumachen. Es war, als würde ich gegen eine Eiche kämpfen.
Als ich ihn an der linken Schläfe erwischte, schüttelte er nur kurz den Kopf und stürzte sich mit weit ausgebreiteten Armen auf mich. Mir war klar, dass ich mich auf keinen Fall von ihm niederringen lassen durfte.
Wir befanden uns in einem Flur, der an der Treppe vorbei zum Wohnzimmer führte. Als er nach meinen Beinen hechtete, sprang ich senkrecht in die Höhe, spreizte mich kurz zwischen den Flurwänden ein und ließ mich dann geradewegs auf ihn hinabfallen. Mein angewinkeltes Knie krachte mit einem Übelkeit erregenden Knacken gegen seinen Hinterkopf.
Als er benommen auf dem Parkett liegen blieb, wickelte ich mir seine langen Haare um die rechte Hand, ballte die Finger zur Faust und schlug seinen Kopf auf den Boden.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
Und noch ein viertes Mal.
Unglaublicherweise kämpfte er sich wieder hoch.
Ich klammerte mich an seinen Rücken, schlang ihm den rechten Arm um den Hals und schnürte mit aller Kraft seine Hirnschlagader ab, um ein paar Sekunden …
Er sprang nach hinten und knallte mich so fest gegen die Wand, dass mir die Luft wegblieb. Dann wirbelte er herum und wiederholte das Gleiche auf der gegenüberliegenden Seite. In der Wand blieb ein Riss zurück.
Meine Rippen taten entsetzlich weh.
Immer wieder donnerte er mich gegen die Wand.
Bis ich nicht mehr atmen konnte.
Mein Griff löste sich.
Während ich keuchend zusammensackte, deckte er mein Gesicht mit einem Hagel von Schlägen ein.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Küchenboden. Der Mann saß am Tisch im Esszimmer und zog eine Spritze aus einer kleinen schwarzen Tasche.
Meine Schmerzen waren so heftig, dass ich sie nicht unterdrücken konnte.
Ich sah zu, wie er mit dem Finger seitlich gegen die Spritze klopfte. Als er sich zu mir umdrehte, schloss ich die Augen.
Die Bodendielen knarzten, während er sich näherte und neben mich kniete. Ich spürte seine warme Hand auf meiner Schulter und wusste, dass ich gleich den Stich spüren würde.
Ich schlug die Augen auf und drosch ihm die rechte Hand an die Kehle.
Es war ein perfekter Schlag.
Er stieß ein fürchterlich klingendes Keuchen aus, ließ die Spritze fallen und griff sich an den Hals.
Sein Gesicht wurde rot.
Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Ich wälzte mich herum, stand auf und sah zu, wie er um Atem rang. Er schien ein klein wenig Luft zu bekommen, aber es war viel zu wenig. Meiner Schätzung nach hatte er noch zwei unangenehme Minuten bei Bewusstsein vor sich. In vier bis zwölf Minuten würde er hirntot sein.
»Ich habe Ihre Luftröhre zerschmettert«, ächzte ich. »Ich kann Sie entweder ersticken lassen oder retten.«
Er nickte heftig. Sein Gesicht wurde allmählich purpurrot.
»Haben Sie ein Messer in dieser Tasche?«
Er nickte erneut.
Fünfzehn Sekunden.
Die schwarze Tasche des Mannes lag auf der Küchentheke. Sie enthielt eine Kimber Micro 9, Handschellen, Ampullen, Spritzen und ein Viper-Tec-Blue-Phantom-Messer.
Ich lief zu ihm zurück. Mittlerweile lehnte er mit dem Rücken an einem Küchenschrank.
»Legen Sie sich auf den Rücken«, sagte ich. »Nehmen Sie die Hände vom Hals.«
Einundvierzig Sekunden.
Es war merkwürdig, dass ich mir, kurz nachdem ich den Mann zu töten versucht hatte, alle Mühe gab, ihm das Leben zu retten, aber er verfügte über Informationen, die ich dringend brauchte.
Ich hockte mich auf ihn.
»Wenn Sie auch nur zwinkern, schneide ich Sie in Streifen. Verstanden?«
Er nickte hektisch.
Sein Gesicht war völlig zerschlagen. Ich sah, wo mein letzter Hieb ihn getroffen hatte. Er hatte die Oberseite seines Kehlkopfs zerquetscht. Ich fuhr mit dem Finger an seinem Hals hinab, bis ich eine weitere Ausbuchtung fand – den Ringknorpel. Zwischen ihm und dem Adamsapfel würde ich den Einschnitt ansetzen.
Als ich das Messer aufklappte, weiteten sich die Augen des Mannes.
Die Schneide war unfassbar scharf.
Ich drückte sie auf seinen Hals. Der Mann wimmerte, als Blut aus dem Schnitt quoll. Ich stieß die Klinge behutsam durch eine Membran.
Sein Gesicht war mittlerweile blau.
Achtundsiebzig Sekunden.
Ich wusste, dass ich seinen Atemweg punktiert hatte, da etwas von seinem Blut in die Wunde hineingesaugt wurde. Ich vergrößerte den Schnitt, bis er knapp anderthalb Zentimeter breit war.
Ich weiß nicht, ob es an den Schmerzen oder am Sauerstoffmangel lag – auf jeden Fall verlor der Mann in diesem Moment das Bewusstsein.
Ich stand auf und öffnete Küchenschubladen, auf der Suche nach einem Strohhalm oder …
Ich packte einen Plastikkugelschreiber mit Beißspuren an einem Ende und nahm ihn auseinander, bis ich den leeren Schaft in der Hand hielt.
Der Einschnitt, den ich seinem Hals zugefügt hatte, sah alles andere als professionell aus – die Ränder waren schartig, und die Wunde blutete wie verrückt. Nach etwas Gefummel gelang es mir jedoch, dem Mann den Schaft fünf Zentimeter tief in die Luftröhre zu schieben.
Er rührte sich nicht.
Ich legte die Lippen an das Ende des Schafts, blies zwei Atemzüge hinein und wartete ab.
Nichts geschah.
Ich begann mit einer Herzmassage – einhundertmal pro Minute.
Anschließend zwei weitere Atemstöße in den Kugelschreiberschaft.
Und dann wieder die Massage.
Vier Minuten und zwölf Sekunden.
Gerade als ich mich fragte, ob eine weitere Herzmassage überhaupt noch Sinn ergab, zitterte der Schaft in dem Loch und gab ein gurgelndes Sauggeräusch von sich.
Die Augen des Mannes flogen auf. Er nahm lange, verzweifelte Atemzüge durch den Stift und sah mit hilfloser Intensität zu mir auf. Seine Gesichtsfarbe wurde wieder normal.
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus.
Ich sah, wie ihn abermals Panik überfiel, und hatte einen Sekundenbruchteil lang beinahe Mitleid mit ihm.
»Ihr Leben liegt in meiner Hand«, sagte ich und berührte den Stift. »Das hier ist alles, was Sie vom Tod trennt.«
Er nickte.
Ich lief ins Wohnzimmer, holte meinen Laptop aus dem Rucksack und kehrte damit in die Küche zurück.
Ich setzte mich neben ihn und öffnete ein leeres Dokument.
Ich hatte nicht viel Zeit. Sicher hatte irgendwer den Schuss gehört, der Tiffany getötet hatte.
»Wie heißen Sie?«, fragte ich und reichte ihm den Laptop.
Er tippte: Andrew .
»Ist meine Schwester in Glasgow?«
Er schüttelte den Kopf.
»Was verbindet Sie mit Kara?«
Wir waren zusammen in Myanmar. Ich habe zu dem Team gehört, das sie gerettet hat. Letztes Jahr hat sie mich zu diesem Projekt geholt.
»Wieso sterben Leute an dem Upgrade?«
Ich weiß es nicht.
Was wahrscheinlich stimmte.
»Was sollten Sie mit mir tun?«
Hier rausholen.
»Und zu Kara bringen?«
Ja.
»Wo ist sie?«
Keine Ahnung.
Ich streckte den Arm aus und zog den Stift mit einem Ruck aus seiner Luftröhre.
Er begann erneut, verzweifelt zu keuchen und sich mit den Händen an den Hals zu fassen. Sein Gesicht wurde wieder rot.
»Glauben Sie etwa, ich kann nicht mitansehen, wie Sie langsam ersticken?«
Andrew streckte die Hände aus und tippte hektisch: Colorado .
»Wo in Colorado?«
In der Nähe von Silverton. Bitte.
»Geben Sie mir die genaue Adresse und ich lasse Sie wieder atmen.«
58 Eolus Way.
Ich stieß den Schaft in seinen Hals zurück. Als er nach Luft schnappte, beobachtete ich ihn und versuchte zu erkennen, ob er log. Doch das Trauma des Luftröhrenschnitts überlagerte alle anderen Gefühlsregungen in seinem Gesicht.
Auf der Vordertreppe ertönten Schritte. Ich nahm den Laptop, sprang auf und rannte ins Wohnzimmer. Während ich dort alles im Rucksack verstaute, klopfte es an der Tür.
Ich schnappte mir Andrews Tasche vom Esstisch und rannte an ihm vorbei. Als ich die Hintertür entriegelte, schwang gerade die vordere auf.
Soldaten betraten das Haus.
Ich hastete durch den Garten, an einem alten Grill und einer Hütte vorbei, und sprang über einen wackligen, einen Meter hohen Zaun in die dahinterliegende Gasse.
Als ich die ersten tiefen Atemzüge tat, schoss ein blendender Schmerz durch meine gesamte Körpermitte. Ich hatte mir während des Kampfes übel die Rippen geprellt. Meine Brust schmerzte von Sekunde zu Sekunde stärker, aber ich konnte nicht stehen bleiben.
Also hastete ich immer weiter, durch Hinter- und Vordergärten. Über eine leere Straße.
Schließlich stürmte ich aus einem Garten und sah mit einem Mal nur noch Dunkelheit vor mir. Ich hatte das Feld erreicht, über das ich ein paar Stunden zuvor gerobbt war.
Ich rannte, so schnell ich konnte, und ließ mich in einen Bewässerungsgraben gleiten. Dort setzte ich die Nachtsichtbrille auf, die wie durch ein Wunder noch funktionierte. Sie war zwar ein wenig verbogen, doch ansonsten vollkommen intakt.
Ich spähte über die Böschung des Grabens. Die gleißend grünen Lichter von Glasgow blendeten mich. Fünfzig Meter vor mir traten drei Gestalten zwischen den Bäumen hervor.
Nationalgardisten.
Ich sah ihre Gewehre und Atemgeräte. Sie trugen keine Nachtsichtgeräte. Einer von ihnen – ein kleiner, stämmiger Mann – ging ein paar Schritte auf das Feld. Anscheinend hatte er eine Nachtzielvorrichtung auf seinem Gewehr, denn er schwenkte die Mündung methodisch hin und her.
Ich zog mich geräuschlos in den Graben zurück und wartete ab.
Seine Schritte näherten sich.
Ich hörte den Boden unter seinen Absätzen knirschen.
Ich sah seinen Gewehrlauf.
»Siehst du was?«, rief einer seiner Kameraden.
Der Mann zögerte einen Moment und ließ noch einmal den Blick über die Landschaft gleiten. »Nein«, erwiderte er schließlich und kehrte zu den anderen beiden zurück. »Wahrscheinlich ist er in die Stadt zurückgekehrt. Informier die Leitstelle.«
Ich kletterte die Böschung hinauf und sah zu, wie sie wieder zwischen den Bäumen verschwanden.
Ich blieb einen Moment lang auf dem Bauch liegen. Mein Brustkorb presste sich bei jedem qualvollen Atemzug gegen die kalte Erde. Vor meinem Upgrade hätten mich derart starke Schmerzen komplett zermürbt. Und auch jetzt musste ich mich zusammenreißen, um nicht einfach aufzugeben.
Während ich unter Einsatz meiner gesamten verbliebenen Kraft langsam über das breite Feld kroch, dachte ich an die Bewohner von Glasgow.
Diejenigen, die gestorben waren.
Ihre verwirrten und am Boden zerstörten Hinterbliebenen.
Wie hätten sie ahnen sollen, dass sie in ihrer Trauer einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte unseres Planeten erlebten?
Jeder Krieg beginnt mit einer ersten Schlacht.
Die Invasion der Nazis in Polen, die den Zweiten Weltkrieg auslöste.
Das Gefecht um Fort Sumter, mit dem der Amerikanische Bürgerkrieg seinen Anfang nahm.
Der Unabhängigkeitskrieg startete mit den Kämpfen in Lexington und Concord.
Der Krieg um Taiwan mit einem Schwarm chinesischer Drohnen.
Die Schlacht von Glasgow wurde nicht mit Waffen, sondern mit mutierten Genen geschlagen. Es war ein Krieg gegen die natürliche Auslese.
Der erste Angriff hatte bereits stattgefunden, und keiner wusste es. Die Gewalt tobte in den Zellen sämtlicher Bewohner von Glasgow, die meine Schwester erfolgreich infiziert hatte.
Bei diesem Krieg ging es um mehr als Ideologien, Gebietsansprüche oder religiöse Streitigkeiten.
Es stand nicht weniger auf dem Spiel als die Zukunft unserer Spezies.
Kara hatte den Gen-Krieg begonnen.