Im Morgengrauen erreichte ich meinen Sprinter. Die aufgehende Sonne tauchte die Prärie in ein schönes, weiches Licht, außer am äußersten östlichen Horizont, der grellrot schimmerte, wie ein letztes Nachbild dieser entsetzlichen Nacht.
Vorsichtig näherte ich mich dem Fahrzeug, für den Fall, dass dort jemand auf mich wartete.
Zum Beispiel die Nationalgarde.
Oder weitere Spießgesellen meiner Schwester.
Da sie meine Route in die Stadt korrekt vorhergesehen hatten, wussten sie vielleicht auch, wo mein Wagen parkte.
Doch alles blieb ruhig, und die einzigen Fußabdrücke, die ich in der Umgebung sah, waren meine eigenen.
Ich stieg ein und schälte mich stöhnend aus meinem Schutzanzug. Zuletzt streifte ich mein T-Shirt über den Kopf. Es war schweißnass.
Ich wusste nicht, wie viele Rippen geprellt waren, aber es waren sicher einige.
Die Solarbatterien waren voll aufgeladen. Ich verband sie mit dem Nanopore-DNS -Sequenzer und fütterte das Gerät mit den Proben, die ich von Tiffany, Chris und mir selbst genommen hatte – sowie zu Kontrollzwecken der DNS von ein paar nicht upgegradeten Menschen. Anschließend begann das Gerät mit seinem automatisierten Analyseprozess.
Nach der Reinigung der DNS würde sich das System jedes Nukleotid Strang für Strang vornehmen, jedes Basenpaar in der Sequenz aufzeichnen und dann das Ergebnis in eine Software einspeisen, die ein komplettes De-novo-Genom-Alignment erstellen würde. Die vollständige Sequenzierung – und vor allem die Analyse dieser Proben – würde zwischen acht und zehn Stunden dauern.
Als die Sequenzer-Systeme die Genome zu lesen und zusammenzusetzen begannen, startete ich das Auto und ließ Glasgow hinter mir.
Bis Silverton waren es tausendfünfhundert Kilometer – eine sechzehnstündige Fahrt nach Süden, durch Montana, Wyoming und schließlich Südwestcolorado.
Kurz nachdem ich die Grenze von Wyoming überquert hatte, brach ich körperlich zusammen und konnte mich nicht mehr konzentrieren. Ich hielt an einem Rastplatz kurz vor Ranchester, holte Morphium aus meinem Notfallkoffer, injizierte mir ein paar Milligramm in den Arm …
Und der Schmerz
löste
sich
einfach
auf.
Ich klappte mein Bett auf, zog mich aus und legte mich hin.
Seit Kara mich in New Mexico zu töten versucht hatte und ich mitten in der Nacht aus dem Krankenhaus hatte fliehen müssen, war ich nicht mehr so müde gewesen.
Einen glücksseligen Moment lang fiel aller Schmerz von mir ab.
Ich betrachtete das mittägliche Sonnenlicht, das durch die schmutzige Windschutzscheibe hereinschien, bis ich die Augen nicht mehr aufhalten konnte und ich mit dem beruhigenden Klicken und Summen des DNS -Sequenzers im Ohr einschlief.
Als ich wieder aufwachte, war es Nacht und vollkommen still im Sprinter.
Ich setzte mich langsam auf und atmete vorsichtig ein.
Die Wirkung des Morphiums hatte nachgelassen, und die Schmerzen waren wiedergekehrt, wenn auch nicht ganz so überwältigend wie zuvor.
Ich stieg aus dem Bett, nahm drei Advil aus dem Notfallkoffer und ging zum leise summenden DNS -Sequenzer.
Als ich den Touchscreen berührte, erschien eine Meldung: Sequenz A hochgeladen und analysiert. Analysiere Sequenz B. Verbleibende Zeit: 51 Minuten.
Ich trank drei Gläser Wasser und setzte mich auf die Bank, die mir unter anderem als Büro diente.
Ich schaltete meinen Laptop an und öffnete das Analyseprogramm, eine Software namens LifeCode. Sequenz A war Tiffanys DNS -Probe. Da ich mein eigenes Genom minuziös sequenziert und mit Anmerkungen versehen hatte, wusste ich ganz genau, wonach ich suchen musste. Ich hatte eine Liste von Genen und Pfaden, die vom Upgrade, das meine Mutter mir aufgezwungen hatte, verändert worden waren. Zudem hatte ich den Quellcode der Analyse-Software gehackt und ein Programm geschrieben, das ein untersuchtes Genom schneller und gründlicher mit meiner DNS abglich.
Die haploide DNS /Genomsequenz aller Menschen ist zu 99,9 Prozent identisch und umfasst etwa 3,2 Milliarden Basenpaare. Obwohl wir alle ungefähr die gleichen Gene haben, gibt es Polymorphismen – kleine Unterschiede in der Sequenz dieser Gene –, die zu Veränderungen in der Expression führen und sogar die Funktion eines Gens verändern können. Diese subtilen Differenzen sind es, die uns von anderen Mitgliedern unserer Spezies unterscheiden.
Ich hatte meine Software so programmiert, dass sie diese Unterschiede fand und hervorhob.
Ich verschob die riesigen Dateien mit Tiffanys DNS -Sequenz in meine Programmabfrage.
Während LifeCode sich an die Arbeit machte, holte ich eine Suppendose aus dem Schrank und erhitzte sie in einem Kochtopf auf meinem Herd.
Ich hatte einen Bärenhunger.
Während ich aß, las ich die Ergebnisse von Tiffanys DNS -Analyse.
Wie erwartet war ihr Genom an denselben Stellen verändert worden wie meins.
Die daraus resultierenden Mutationen stimmten ebenfalls überein.
Sie betrafen unzählige Gene, wobei mehrere Kaskaden von Pfaden involviert waren. Jede Mutation hatte ihr Genom nur minimal verändert. Daraus ergab sich eine Art Schmetterlingseffekt, der Tiffanys Genom im Laufe der Zeit transformiert und zu einer Steigerung ihrer Intelligenz, Langlebigkeit und Widerstandsfähigkeit geführt hätte, bis sie irgendwann auf meinem Entwicklungsniveau angekommen wäre.
Meine Erfahrungen mit Kara und Andrew deuteten darauf hin, dass das Upgrade generell die Intelligenz, das Gedächtnis und die Physis verstärkte und darüber hinaus bereits existierende Anlagen exponentiell verbesserte: Kraft, Agilität und Koordinationsfähigkeit bei Leuten wie Andrew und Kara, Mustererkennung und Menschenkenntnis bei eher intellektuell Veranlagten wie mir.
Tiffany war ebenfalls gerade dabei gewesen, sich zu einer fortschrittlicheren Version eines Homo sapiens zu entwickeln, als Andrew sie am oberen Treppenabsatz ihres Hauses erschoss.
Mit Hilfe der Software begann ich, die genetischen Codes mehrerer Virenpakete zu isolieren, die ihr das Upgrade eingepflanzt hatte. Es waren Acht-Kilobasen-Sequenzen, also nicht weiter bedeutsame DNS -Stücke, aber sie transportierten einen Code. Diese Pakete hatten sich zwar repliziert, schienen jedoch nicht so konstruiert zu sein, dass sie übertragbar waren.
Tiffany war also nicht ansteckend gewesen.
Am meisten interessierte mich jedoch Sequenz B.
Ich hörte den DNS -Sequenzer piepen, was bedeutete, dass er diese Sequenz nun in LifeCode hochlud.
Wie hatte Kara es geschafft, derart viele Bewohner von Glasgow zu infizieren, wenn sie das Virus nicht aneinander weitergeben konnten? Hatte sie vielleicht schon vor Monaten ein Team in die Stadt geschickt, um so viele Leute wie möglich händisch zu infizieren? Sie hätten sich nur an einer Handvoll von Orten aufhalten müssen, um die halbe Bevölkerung anzustecken.
Auf meinem Laptop erschien die Meldung, dass Sequenz B (Chris’ DNS ) nun vollständig hochgeladen war.
Ich verschob den Datensatz in die Programmabfrage und ging nach draußen, um zu pinkeln.
Der Himmel war bedeckt. Kein Stern war zu sehen.
Ein frischer Schneegeruch hing in der Luft, und die Lichter der Raststätte waren von undurchdringlicher Finsternis umgeben.
Ich kehrte in den Wagen zurück und überflog rasch die ersten Ergebnisse zu Sequenz B.
Mir fiel sofort auf, dass darin etwas fehlte.
Chris hatte die Virenpakete ebenfalls erhalten, doch bei ihm hatten sie nur zu einem Teil der Upgrades geführt. Zudem handelte es sich bei ihnen in vielen Fällen nur um partielle Veränderungen, die nicht abgeschlossen worden waren und stattdessen Abschnitte lebenswichtiger Gene durcheinandergebracht hatten.
Anstatt das Upgrade einzuleiten, hatte das Virenpaket nur die Lunte an einem neuen DNS -Fragment angezündet und damit eine Reihe von genetischen Entgleisungen bewirkt.
Ich kopierte die neuen Sequenzen und begann eine allgemeine Suchanfrage, um zu sehen, ob ich übereinstimmendes Genmaterial finden und Informationen über mögliche Wechselwirkungen bekommen konnte.
Wie erwartet wurden keine exakten genomischen Übereinstimmungen entdeckt.
Dafür ich sah mit Schrecken zu, wie die Ergebnisliste der »50 %-95 %-Überschneidungen« vorbeizog: Traberkrankheit, Rinderwahnsinn, spongiforme Kamel-Enzephalopathie, übertragbare Nerz-Enzephalopathie, chronische Auszehrungskrankheit, spongiforme feline Enzephalopathie, Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, iatrogene Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, variante Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, familiäre Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, sporadische Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, Gerstmann-Sträussler-Scheinker-Krankheit, tödliche familiäre Schlaflosigkeit, Kuru, variable Protease-sensitive Prionopathie.
Verdammter Mist.
Das waren allesamt Prionen-Erkrankungen.
Prionen sind fehlgefaltete Proteine, die die erschreckende Fähigkeit besitzen, ihre Fehlbildung katalytisch auf normale Varianten desselben Proteins zu übertragen. Wenn diese Proteine im Gehirn auftauchen, zerfetzen sie buchstäblich die Hirnsubstanz und verursachen eine ganze Reihe von neurodegenerativen Horror-Erkrankungen. Die Opfer verlieren ihre Fähigkeit, Menschen und Orte zu erkennen und sich selbst zu versorgen. Im Endstadium können sie überhaupt nicht mehr denken.
Normalerweise schreiten Prionen-Erkrankungen sehr langsam voran und sind äußerst selten – in den Vereinigten Staaten werden weniger als dreihundert Fälle pro Jahr gemeldet. Und die Übertragungswege sind sehr spezifisch. Es gibt nur drei Möglichkeiten, sich anzustecken: durch Vererbung, durch kontaminierte Hornhauttransplantate und medizinische Geräte oder, wie im Fall der Kuru-Seuche, die das Volk der Fore in Papua-Neuguinea befallen hatte, durch Kannibalismus.
Ich schloss meinen Laptop, schaltete den Sequenzer ab und ließ den Sprinter an.
Meine Gedanken rasten.
In Menschen wie Tiffany und mir machte das Upgrade, was es sollte.
Aber wenn es aus irgendeinem Grund fehlschlug, war eine Prionen-Erkrankung genau die Art ungewollte Konsequenz, mit der man rechnen musste.