Als ich Silverton erreichte , eine alte Bergbausiedlung mit fünfhundert Einwohnern, regnete es. Sie befand sich in einem Hochtal, umgeben von den zerklüfteten Gipfeln einer dreißig Millionen Jahre alten Gebirgskette, die beim Zusammenprall zweier Kontinentalplatten entstanden war.
Ich fuhr durch die ruhigen Straßen.
Die einzigen zwei Lokale, die offen hatten, waren eine heruntergekommene Bar an einem Ende der Stadt und ein Diner am anderen. Die Hälfte der Gebäude war verfallen. Silverton wirkte wie ein Ort, in dem sich seit hundert Jahren nichts verändert hatte und der sich trotzig gegen jede Form von Zukunft stemmte.
Eine Gemeinde, die im Sterben lag.
Am Stadtrand hielt ich an.
Laut meinem Navi befand sich 58 Eolus Way gut fünf Kilometer nördlich von meiner derzeitigen Position. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass Andrew mich belogen hatte. Vielleicht aber auch nicht, und ich spielte Kara direkt in die Hände.
So oder so, ich würde es früh genug erfahren.
Anderthalb Kilometer weiter endete der Asphalt. Die anschließende unbefestigte Straße war matschig und teilweise überflutet. Der Regen fiel immer heftiger, während ich der gewundenen Strecke durch den Nadelwald folgte.
Die unheilvoll wirkende Wolkendecke hüllte die höchsten Gipfel ein.
Ich kam am Fuß eines stillgelegten Skigebiets vorbei. Die Fenster des Kassenhäuschens waren dunkel, die Scheiben zerbrochen. Die Sessellifte baumelten im Wind. Zwei schon lange nicht mehr bewegte Schneepflüge rosteten stumm vor sich hin.
Drei Kilometer danach informierte mich das Navi, dass ich mein Ziel erreicht hatte.
Ich hielt nicht an.
Zu meiner Rechten führte eine einspurige Straße den Berg hinauf und verschwand in einem dunklen Wald. Ich konnte keine Hausnummer erkennen, doch die Straße war mit einem Tor versperrt, neben dem ein Tastenfeld und eine Gegensprechanlage angebracht waren. All dies hatte ich bereits am Vortag auf der niedrig aufgelösten Google-Satellitenaufnahme von dieser Gegend gesehen.
Ich fuhr weiter die Straße entlang und stellte den Sprinter in sicherer Entfernung von Karas Einfahrt ab.
Dichter Regen prasselte auf die Windschutzscheibe.
Ich ging nach hinten und öffnete Andrews Tasche. Er hatte meine Waffe in Tiffanys Haus in Glasgow zerlegt, doch dafür hatte ich nun seine 9 mm Kimber Micro. Sie war mit sieben Patronen im Magazin und einer in der Kammer geladen. Es war eine winzige Pistole, aber besser als nichts.
Als ich ausstieg, stieg mir der Geruch von nassen Fichten und brennendem Holz in die Nase. Ich betrat einen verkohlten Wald und stapfte den steilen Hang hinauf.
Nach fünfzehn Minuten befand ich mich rund hundert Meter über der Straße und konnte die Zufahrt zu 58 Eolus Way sehen, der sich ein Stück entfernt aufwärts durch die Bäume schlängelte. Vermutlich war er mit Kameras und Infrarotsensoren gesäumt.
Als eine Stunde später der Nachmittag in den Abend überging, gelangte ich schließlich an den Rand einer Lichtung. Direkt vor mir stand die Berghütte. Die Fenster waren beleuchtet.
Ich setzte mich unter einen Baum, dessen dichtes Astwerk mich gegen den eiskalten Regen abschirmte, nahm das Fernglas aus meinem Rucksack und musterte das Gebäude.
Im Inneren waren keine Bewegungen auszumachen.
Ich hatte mir den Grundbuchauszug angesehen. Das Haus hatte seit seiner Fertigstellung vor zwölf Jahren nur einen einzigen Eigentümer gehabt, eine anonyme Gesellschaft mit beschränkter Haftung namens J6 mit einem eingetragenen Vertreter in Delaware. Darüber hinaus lagen keine Informationen über sie vor. Ich hatte mich in das Büro des Bauinspektors von Silverton gehackt und die Grundrisse gefunden. Wenn sich die Bauarbeiter an diese Pläne gehalten hatten, würde ich mich in dem Gebäude zurechtfinden.
Während ich auf die Dunkelheit wartete, ging mir auf, dass ich mich im Januar auf einem mehr als dreitausend Meter hohen Berg in Colorado befand und es nicht schneite, sondern regnete. Früher hatte eine meterhohe weiße Schicht diese Berge bedeckt. Außerdem waren die Bäume grün gewesen. Doch während der viel zu langen Sommer hatte es zahllose Waldbrände gegeben.
Schließlich brach die Nacht an.
Ich stand auf und lief im Schutz der Bäume am Rand der Lichtung zum Haus.
Dort angekommen, ging ich an der Steinmauer entlang und bog um die Ecke. Auf der Rückseite des Gebäudes erstreckte sich eine weitläufige Terrasse bis zum Waldrand. Am ersten Fenster, an dem ich vorbeikam, blieb ich stehen.
Und da war sie.
Sie stand nur drei Meter entfernt mit dem Rücken zu mir und schnitt auf der Kücheninsel aus Granit Gemüse.
Ich setzte mich wieder in Bewegung. Wenn die Baupläne verlässlich waren, befand sich an der nächsten Ecke ein Wintergarten. Durch ihn konnte ich mich Kara am besten nähern, und wenn ich eine Scheibe zerbrechen musste, um mir Zugang zu verschaffen, würde sie in der Küche wahrscheinlich nichts davon mitbekommen.
Geduckt überquerte ich die Terrasse und gelangte zu einer dunklen, auf der Innenseite beschlagenen Glaswand.
Ich zog die Kimber Micro aus der Jacke und streckte die Hand nach der Tür aus.
Der Griff ließ sich drehen.
Warme Luft schlug mir entgegen.
Ich trat ein und zog die Tür leise hinter mir zu.
Ein paar Schritte weiter gelangte ich in ein von Glaswänden umgebenes Musikzimmer, in dem ein prächtiger Flügel mit einem Gehäuse aus satiniertem Holz stand. Auf dem geschlossenen Deckel standen mehrere sorgfältig arrangierte gerahmte Fotos.
Ich betrachtete sie.
Max und ich, wie wir mit acht Jahren auf Pferden durch die Sierra Nevada ritten.
Kara mit Hut und Talar bei ihrem Highschool-Abschluss.
Unser Vater, Haz, an der Ruderpinne seines geliebten Segelboots in der San Francisco Bay. Er trug eine Sonnenbrille und lächelte.
Geburtstage, Weihnachten, Thanksgiving und Halloween.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der mich diese Bilder erschüttert hätten – Artefakte einer dem Untergang geweihten Familie. Doch in diesem Moment spürte ich nur den Hauch eines Gefühls, und es war so schwach, dass ich es kaum wahrnahm.
Hatte sich meine Mutter hier versteckt, während alle Welt glaubte, dass sie mit ihrem Wagen über die Klippe ins Meer gerast war?
Im Deckel des Flügels war eine Scharte, an die ich mich erinnerte. Als er Jahrzehnte zuvor in unserem Haus in Berkeley gestanden hatte, war ich beim Fangenspielen mit Kara versehentlich mit meinem Roller dagegen gestoßen.
Ich stellte mir vor, wie Miriam hier saß und die Musik spielte, mit der sie uns in glücklicheren Zeiten erfreut hatte und all diese eingefrorenen, unwiederbringlichen Momente anstarrte.
Ich zog meine Schuhe aus und trat aus dem Wintergarten in den breiten Korridor, der das Erdgeschoss durchzog. Meine Herzfrequenz erhöhte sich in der dünnen Höhenluft um fünf Schläge pro Minute, als ich meine Schwester in der Küche werkeln hörte.
Auf der rechten Seite des Gangs hingen acht Vermeers. Der leichten Patinaschicht auf den Leinwänden nach zu urteilen, waren es Originale.
Linkerhand prangten vier riesige O’Keeffe-Gemälde. Die Farben schienen im Licht der Akzentstrahler fast zu pulsieren.
Der Gang mündete in einen großen Raum, dessen gewölbte Decke von freiliegenden Holzbalken durchzogen war. Ein Feuer brannte in einem zwei Stockwerke hohen Steinkamin, der sowohl zum Wohnzimmer hin geöffnet war, in dem ich stand, als auch zur Küche auf der anderen Seite.
Ich holte tief Luft und trat um die Ecke, sodass ich meine Schwester sehen konnte.
Sie stand noch immer an der Kücheninsel und war gerade dabei, eine Zwiebel zu zerschneiden, schneller, als ich es jemals irgendwen hatte tun sehen.
Obwohl ich sicher war, dass sie mich bemerkt hatte, sah sie nicht gleich zu mir her.
»Ist Andrew tot?«, fragte sie schließlich anstelle einer Begrüßung.
»Nein, aber es geht ihm nicht besonders.«
Soweit ich feststellen konnte, war Kara unbewaffnet. Sie trug eine Yoga-Hose und ein Trägeroberteil. Ihre Haare waren kürzer als bei unserer letzten Begegnung, und es sah aus, als hätte sie ihr Gesicht weiter verändert.
»Ist außer dir …?«
»Ich bin allein«, sagte sie. Ihr Sprechtempo hatte sich weiter gesteigert.
Aber vielleicht war ich es auch bloß nicht mehr gewohnt, mit einem anderen upgegradeten Menschen zu kommunizieren.
»Ich habe dich erwartet, Logan.«
Ich nahm an ihrer Körpersprache etwas wahr, das ich nicht ganz einordnen konnte.
»Hast du vor, mich zu erschießen?«, fragte sie, während sie zum Herd ging und die Zwiebelringe in eine Pfanne voll glänzender Butter strich.
»Kommt darauf an.«
Als Nächstes schnitt sie Spargelstangen und legte sie in eine Backform aus Porzellan. Anschließend träufelte sie Olivenöl darüber und schob sie in den heißen Ofen.
»Lass uns zusammen essen«, sagte sie. »Du kannst mich auch später noch erschießen. Du siehst ja, dass ich unbewaffnet bin.«
Ich ließ die Waffe sinken. Kara bedeutete mir, ihr gegenüber an der Kücheninsel Platz zu nehmen. Sie nahm einen Kochtopf und holte ein gefrorenes Hühnchen aus dem Tiefkühler.
»Das war also Moms Haus«, sagte ich.
»Sie hatte auch noch andere. Sie konnte noch ein paar Millionen auf die Seite schaffen, bevor der Staat ihr Vermögen beschlagnahmt hat. Wie war Glasgow?«
»Ich habe ein paar Proben deiner Arbeit genommen.«
»Bislang haben 2 016 Personen das Upgrade erhalten, und es gibt 274 bestätigte Prionen-Erkrankungen.«
»War das Absicht?«, fragte ich.
Kara schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, weshalb 13,6 Prozent der Infizierten nicht upgegradet werden, sondern erkranken.« Sie zerteilte gekonnt zwei Hühnerbrüste mit einem Schmetterlingsschnitt und wendete sie in einer Gewürzmischung. Ihre Bewegungen waren punktgenau und mit einer Schnelligkeit und Präzision ausgeführt, wie ich sie noch nicht einmal von professionellen Köchen kannte. Dabei sah sie mir, selbst beim Schneiden, die meiste Zeit in die Augen.
Unter der Granit-Arbeitsplatte hielt ich die Kimber noch immer fest.
»War dir klar, dass ich in Glasgow auftauchen würde?«, fragte ich.
»Natürlich konnte ich nicht wissen, ob du New Mexico überlebt hast, aber falls ja, habe ich gehofft, dass du es tun würdest. Deswegen habe ich Andrew dorthin geschickt.«
Damit er mir den Weg hierher weisen würde, dachte ich. Laut sagte ich: »Ich habe die Proben aus Glasgow sequenziert. Das Upgrade war nicht übertragbar.«
»Ich wollte erst sichergehen, dass das Upgrade funktioniert.«
»Dann musst du also noch einmal ran.«
»Nein, mit einer Krankheitsrate von 13,6 Prozent kann ich leben. Bei einer derart tiefgreifenden Gentherapie lassen sich unerwünschte Nebeneffekte nicht ausschließen. Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass es nur so wenige Fälle sind.« Kara ging zum Herd und goss Weißwein über die sautierten Zwiebeln. Der Duft von verdampfendem Alkohol erfüllte die Küche.
»Hast du schon eine übertragbare Version?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort gar nicht hören wollte.
»Demnächst.«
Oh Gott. Ich hatte es bereits vermutet, aber gehofft …
»Ich verwende modifizierte HEK 293-Zellen, um hohe Titer des das Upgrade tragenden Virus zu züchten.«
Ich nickte. HEK 293 war ein Stamm menschlicher embryonaler Nierenzellen, der seit Jahrzehnten in der Gentech-Industrie verwendet wurde, da er sich leicht züchten und problemlos mit fremder DNS transfizieren ließ.
Sie legte das Hähnchen auf die gusseiserne Grillplatte des Ofens.
»Wie hoch ist der prognostizierte R0-Wert?«
»8,7 innerhalb von fünfzehn Tagen.«
Das war sehr hoch. In der Virologie gibt der R0-Wert, von den Medien oft auch nur R-Wert genannt, den Ansteckungsgrad einer bestimmten Krankheit an – also die Anzahl der Fälle, die voraussichtlich von einer einzigen infizierten Person verursacht werden. Masern, das für Menschen ansteckendste Virus, weist einen R0-Wert von 12 bis 18 auf, was bedeutet, dass jede infizierte Person voraussichtlich 12 bis 18 weitere Personen anstecken wird. Im Vergleich dazu hatte die Spanische Grippe von 1918, an der fünf Millionen Menschen starben, einen viel niedrigeren R0-Wert von 1,4 bis 2,8. COVID -19 lag bei etwa 5,7.
»Wenn du jeden mit dem Upgrade infizierst und sich der Wert von Glasgow bestätigt, sprechen wir von einer Milliarde toter Menschen. Raubt dir diese Vorstellung nicht den Schlaf?«
Kara drehte sich wieder zu den Hühnerbrüsten um, die mittlerweile scharf angebraten waren. Sie legte sie mit einer Zange in die Weißweinsauce und bestreute sie mit frischen Kräutern.
»Wo finalisierst du das Upgrade?«, fragte ich.
Kara lächelte mich an. »Zeit, den Tisch zu decken. Hol uns einen Wein. Der Weinkeller ist hinter dir.«
Ich wartete ab, bis sie anfing, das Essen auf Teller zu legen, und stieg dann vom Hocker.
Moms Weinkeller war eine begehbare, klimatisierte Kammer mit Steinwänden. Nach kurzem Überlegen wählte ich einen Cabernet Sauvignon von einem Weingut in der Nähe von Walla Walla im Staat Washington. Das war mein liebstes Anbaugebiet gewesen, bevor es abbrannte.
Als ich mit der Flasche in die Küche zurückkehrte, hatte Kara bereits die dampfenden Teller auf den Esstisch gestellt. Sie warf einen Blick auf das Etikett. »Dein Geburtsjahr. Gute Wahl.«
Wir setzten uns einander gegenüber. Die Kimber legte ich neben mich auf die Bank.
Das Essen war vorzüglich. Draußen war es mittlerweile stockfinster. Das Kaminfeuer warf zuckende Schatten an die Wände.
Kara sah mich an. »Glaubst du nicht, dass wir in Schwierigkeiten stecken?«
»Doch.« Ich aß ein weiteres Stück Hühnchen. »Ich sehe es genauso wie Mom. Mir ist klar, was auf uns zukommt. Und es macht mir Angst.«
»Warum arbeiten wir beide dann nicht zusammen?«
»Was, wenn das Upgrade nicht die Lösung ist? Was ist, wenn du ohne jeden Grund eine Milliarde Menschen tötest? Was, wenn du lauter Miriam Ramsays erschaffst, die alle davon überzeugt sind, keine Fehler zu machen und unvorstellbaren Schaden anrichten können, wenn sie es doch tun? Was, wenn du Leute erschaffst, die einfach nur viel besser in dem werden, was sie jetzt schon können? Soldaten. Kriminelle. Politiker. Kapitalisten.«
Kara nippte am Wein und musterte mich über die naturbelassene Tischplatte hinweg, an der unsere Mutter vermutlich so manches einsame Mahl eingenommen hatte. Vielleicht hatte sie sich aber auch gar nicht einsam gefühlt, sondern es genossen, mit ihren Gedanken allein zu sein.
»Du gehst von einer fehlerhaften Annahme aus«, fuhr ich fort. »Höhere Intelligenz macht die Menschen nicht weniger gierig, egoistisch oder böse. Sie macht nicht zwangsläufig eine gute Person aus dir.«
»Ich behaupte gar nicht, dass Intelligenz die Lösung für alles ist«, erwiderte Kara. »Sie ist kein Zauberstab. Aber wenn wir die Leute mit der Fähigkeit ausstatten, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, und mit der nötigen geistigen Kapazität, um etwas an den Missständen zu ändern, dann würden wir uns damit zumindest eine Chance verschaffen. Findest du nicht, dass wir uns das als Spezies schuldig sind? Hör mal, ich verstehe durchaus, dass du gern in die Zukunft blicken und im Voraus wissen möchtest, ob wir die richtige Entscheidung treffen. Aber das kannst du nicht.«
»Zeige mir einen Beweis, dass dieses Upgrade unsere Probleme lösen wird. Zeig mir deine aussagefähigen Testreihen und Forschungsdaten.«
»Ich weiß, dass ich mich zum Besseren verändert habe und muss darauf vertrauen, dass es den meisten Menschen, die ich upgrade, ebenso ergehen wird.«
»Letzten Endes stützt du dich also nur auf das, was du glaubst ?«
»Wir haben keine Zeit mehr, Logan. Wir können nichts anderes tun, als die uns bekannten Fakten nach bestem Wissen und Gewissen einzusetzen. Ich habe meine Motive hinterfragt. Ich mache das nicht, um reich oder berühmt zu werden. Mir geht es auch nicht um Macht für mich oder meine Nachkommen.«
»Warum tust du es dann? Weil du es für richtig hältst?«
»Richtig und falsch sind emotionale Konstrukte. Sie haben nichts mit der objektiven Realität zu tun. Mir geht es nur ums Überleben.«
»Vielleicht sind Mitgefühl und Einfühlungsvermögen nur schwammige Emotionen. Von unseren Spiegelneuronen geschaffene Illusionen. Aber es ist nicht wichtig, wie sie entstehen, sondern dass sie uns zu Menschen machen. Vielleicht sind sie sogar der einzige Grund, weshalb es richtig ist, uns zu retten.«
»Komm schon, Logan. Hör auf mit diesen abstrakten Überlegungen. Vielleicht hast du in New Mexico noch nicht geglaubt, dass unsere Zeit abgelaufen ist, aber mittlerweile ist es dir klar geworden. Und du weißt, dass wir es nicht einfach zulassen dürfen.« Kara hob ihr Weinglas. »Kann ich mit dir rechnen oder nicht?«
Ich hob ebenfalls das Glas und stieß mit ihr an. Während wir tranken, sah ich ihr tief in die Augen und streckte ganz langsam die Hand nach der Kimber aus.
Teller, Gläser, die Dekantierkaraffe, die Weinflasche, das Essen und das Besteck – all das fiel auf mich, während der schwere Tisch mich nach hinten umwarf und mit Wucht auf meiner Brust landete.
Ich hatte es nicht kommen sehen. Sie hatte ihre Absicht durch nichts verraten, mir aber offensichtlich am Gesicht abgelesen, dass es ihr nicht gelungen war, mich zu überzeugen.
Ich wand mich unter dem Tisch hervor und bekam endlich die Pistole zu fassen. »Bleib stehen!«
Kara drehte sich im Durchgang zum Wohnzimmer langsam um und wurde vollkommen reglos. Ich sah zu ihren Händen, ob sie eine Waffe hielt, doch sie waren nach wie vor leer. Sie bedachte mich mit einem verstörend intensiven Blick. »Ich liebe dich, Logan. Ich will dir wirklich jede Chance geben. Zwing mich nicht dazu, etwas zu tun, das ich nicht will. Ich weiß, dass es nur ein Gefühl ist, aber ich will dich nicht auch noch verlieren.«
Ich zielte mit der Kimber auf das linke Bein meiner Schwester und erwartete, zumindest einen Anflug von Traurigkeit oder Angst in ihrem Gesicht zu entdecken, doch ihre Miene blieb vollkommen ausdruckslos.
»Wo bereitest du das Virus auf?«
»Ava erbt eine sterbende Welt«, erwiderte Kara. »Ich sehe dir an, dass du …«
»Natürlich hasse ich diese Vorstellung!« Meine Stimme hallte in dem stillen Raum wider.
»Und wieso zielst du dann mit einer Pistole auf mich?«
»Weil es bestimmt noch eine andere Möglichkeit gibt.«
»Schön. Und wie sieht die aus?«
»Ich weiß es nicht.«
»Nun, während du darüber nachdenkst, werde ich etwas unternehmen.«
»Wo bereitest du das Virus auf?«
Kara sah mich schweigend an.
»Ich will dir nicht wehtun«, sagte ich.
»Ich weiß.«
Ich zielte auf ihren linken Musculus rectus femoris, der die Hüfte beugt und die Kniestreckung bewirkt, um sie wirkungsvoll außer Gefecht zu setzen, ohne dabei ihr Leben zu riskieren.
Der Schuss dröhnte ohrenbetäubend durch das Haus.
Kara stand noch immer aufrecht. Ich suchte ihren Körper nach Blut ab, konnte aber keines entdecken. Genauso wenig wie eine Eintrittswunde.
Sie stand ein Stück rechts von der Stelle, auf die ich gezielt hatte.
Unversehrt.
Ich …
Sie bewegte sich.
… schoss erneut.
Kurz fragte ich mich, ob sie es irgendwie geschafft hatte, das Magazin mit Platzpatronen zu laden – ob ich auf irgendein raffiniertes Täuschungsmanöver reingefallen war. Doch dann sah ich hinter ihr das Einschussloch im Boden.
Ich trat einen Schritt auf sie zu und war nur noch drei Meter von ihr entfernt.
Wieder bewegte sie sich genau in dem Moment, als ich den Abzug betätigte, und verschwand hinter der Ecke des Kamins.
Was zum Teufel?
Ich rannte meiner Schwester ins Wohnzimmer hinterher und versuchte zu begreifen, wie sie es geschafft hatte, drei aus nächster Distanz abgefeuerten Kugeln auszuweichen. Natürlich war sie ihnen nicht wirklich ausgewichen. Die meisten 9 mm-Patronen fliegen mit einer Geschwindigkeit von vierhundert Metern pro Sekunde. Kein Mensch, nicht einmal ein upgegradeter, konnte sich auch nur annähernd so schnell bewegen.
Nein, sie antizipierte die Schüsse und bewegte sich eine Nanosekunde, bevor ich den Abzug betätigte. Ich selbst hätte das trotz meiner verbesserten Wahrnehmungsfähigkeit nicht geschafft.
Hinter mir knarzte ein Dielenbrett.
Ich drehte mich um.
Ein wuchtiger Tritt traf mich an die Brust und schleuderte mich nach hinten, wo ich durch die Glasplatte eines Beistelltischs krachte. Ich versuchte, die Pistole zu heben, doch Kara trat sie mir aus der Hand. Dann warf sie sich auf mich und hielt mir die Spitze des Messers an die Kehle, mit der sie das Hühnchen aufgeschnitten hatte.
»Hast du dir je überlegt, aus welchem Grund Mom uns beide upgegradet hat?« Ich spürte, wie die Klinge in meine Haut schnitt. »Vielleicht wusste sie, dass du vor der schwierigen Entscheidung zurückschrecken würdest.«
»Du hast dich noch einmal selbst upgegradet, stimmt’s?«, fragte ich.
Sie antwortete nicht. Ich schob die rechte Hand in meine Hosentasche, bekam die Fernbedienung zu fassen und drückte auf den Knopf. Der Kupplungsmotor und der Vakuumerzeuger in meiner linken Jackentasche begannen zu summen.
Kara sah auf mich herab. Ihre Gesichtszüge verzogen sich zu einem zornigen und zutiefst unglücklichen Ausdruck. »Du weißt hoffentlich, dass ich das nicht tun will.«
Doch sie würde es tun. Sie hatte zugelassen, dass ich sie fand, damit sie noch einen letzten Versuch unternehmen konnte, mich auf ihre Seite zu ziehen. Doch der war gescheitert, und nun musste sie zum Äußersten greifen.
»Es tut mir leid«, sagte sie mit Tränen in den Augen.
»Wenn du mich tötest, sterben wir beide.«
Sie suchte mein Gesicht nach einem Hinweis ab, dass ich log, doch sie fand keinen.
»Ich halte mit dem Daumen einen Knopf gedrückt. Wenn ich ihn loslasse, stößt der Zerstäuber in meiner Jacke einen Sprühnebel …«
»Was ist es?«
»Rizin.«
Ihre Pupillen weiteten sich. Eine Folge des Adrenalinschubs, der sie durchfuhr.
Rizin ist ein Ribosomen-inaktivierendes Protein. Es infiziert Zellen und blockiert ihre Fähigkeit, eigene Proteine zu synthetisieren, wodurch wichtige Funktionen im Körper blockiert werden. Rizin stammt aus den Samen der Rizinuspflanze, aus denen ansonsten ein harmloses Öl gewonnen wird. Es ist leicht erhältlich und relativ einfach herzustellen. Ein durchschnittlicher Erwachsener stirbt nach einer injizierten oder inhalierten Dosis von nur 1,78 mg – das entspricht der Menge einiger Körner Kochsalz.
»Weißt du, was geschieht, wenn du es einatmest?«, fragte ich.
Kara rührte sich nicht.
»Nach ein paar Stunden beginnst du, Blut zu husten. Deine Lunge füllt sich mit Flüssigkeit, und du ertrinkst. Dagegen gibt es keine Behandlung und kein Medikament.«
»Das ist ein guter Bluff.«
Ich hob den linken Arm. »Siehst du den Schlauch in meinem Ärmel?«
Ihr Blick zuckte zu meinem Ärmel und dann wieder zu meinem Gesicht zurück.
Ich beobachtete sie. Sie sah zur Kimber hinüber, die knapp zwei Meter von uns entfernt lag. »Der Zerstäuber ist eine Spezialkonstruktion«, sagte ich. »Er wird diesen Raum mit aerosolierten Nanopartikeln füllen, bevor du die Pistole auch nur berühren kannst.«
»Und so einen hattest du einfach herumliegen?«
»Nimm das Messer von meiner Kehle.«
Sie zog die Klinge zurück.
»Wirf es auf die andere Seite des Raums.«
Das Messer schlitterte hinter uns über den Boden.
»Es spielt keine Rolle«, sagte sie. »Du kannst mich nicht aufhalten.«
Wäre ich davon überzeugt gewesen, dass das Upgrade nach Karas Tod nicht auf die Menschheit losgelassen werden würde, hätte ich den Daumen vom Knopf genommen. Doch sie hatte Leute wie Andrew angeheuert und upgegradet, die ihren Plan auch ohne sie verwirklichen konnten. Und es schien, als wären sie bereits kurz vor dem Ziel.
»Steig ganz langsam von mir runter.«
Sie tat es.
»Leg dich auf den Bauch.«
Sie rollte herum, sodass sie mit dem Gesicht nach unten in den Glasscherben lag, und sagte: »Wenn du dir die Pistole holen …«
»Das werde ich nicht.«
Ich blickte zur Vordertür. Sie war sieben Meter entfernt.
Ich stemmte mich vom Boden hoch und stand auf.
Kara beobachtete mich aus dem Augenwinkel, die Handflächen auf dem Boden, bereit, jederzeit aufzuspringen.
Ich trat vorsichtig einen Schritt zurück.
Dann noch einen.
Als mich nur noch drei Meter von der massiven Tür trennten, drehte ich mich um und rannte los. Hinter mir knirschte Glas. Kara hatte die Verfolgung aufgenommen. Ich blieb nicht stehen und hoffte, dass die Tür nicht abgesperrt war. Denn wenn ich auch nur eine Sekunde an dem Schloss herumfummeln musste, war ich so gut wie tot.
Als ich sie aufriss und hindurchstürmte, fiel hinter mir ein Schuss.
Ich sprintete, den Daumen noch immer auf dem Knopf, die Vordertreppe hinunter und aus dem Lichtkegel der Außenbeleuchtung hinaus in den eiskalten Regen.
Nicht hinfallen, nicht hinfallen, nicht hinfallen.
Weitere Schüsse hallten von den umgebenden Bergen wider. Meine nackten Füße fanden im Matsch kaum Halt.
Ich blickte nicht zurück und rannte, ohne anzuhalten, über die Lichtung hinab auf die dunklen Bäume zu. Mein Herz schlug 195-mal pro Minute. Ich hatte keine Ahnung, ob meine Schwester mich noch immer verfolgte.
Als ich in den verbrannten Wald eintauchte, wurde das Gelände steiler. Dank meiner verbesserten Nachtsicht gelang es mir gerade so, niedrig hängenden Ästen auszuweichen und über umgestürzte Bäume zu springen. Ein Fehltritt, und ich würde in rasender Geschwindigkeit den Berg hinabpurzeln.
Ich bremste ab, ging hinter einem Felsen in Deckung und spitzte die Ohren.
Nichts.
Ich begann zu zittern. Meine Fußsohlen waren aufgerissen und brannten vor Kälte. Ich hörte etwas. Keine Schritte, sondern ein entferntes mechanisches Geräusch. Ein Garagentor ging auf.
Zwölf Sekunden später sah ich zwei Lichtkegel, die durch den Wald schwenkten und den Regen anstrahlten. Reifen rollten die asphaltierte Zufahrt hinab.
Kara fuhr davon. Sie musste diesen Kampf nicht gewinnen, da sie bereits gesiegt hatte.
Ich zog mit der linken Hand den Zerstäuber aus der Tasche und stellte ihn ab. Als ich sicher war, dass der Kupplungsmotor nicht mehr lief, ließ ich den Daumen vom Knopf der Fernbedienung gleiten.
Während ich immer unkontrollierter zitterte, schossen mir düstere Gedanken durch den Kopf.
Ich habe versagt.
Der Krieg ist verloren.
Irgendwie hatte sie es geschafft, ihre Fähigkeiten im Vergleich zu meinen so weit zu verbessern, dass sie Kugeln ausweichen konnte. Ja, ich hatte überlebt, aber wozu? Ich hatte nicht den Hauch einer Chance gegen sie.
Auf einmal wurde mir etwas bewusst.
Die Tür zur Berghütte meiner Mutter stand weit auf.
Ich trat ein.
Die Stille war ohrenbetäubend.
Kara hatte die Kimber mitgenommen, doch deswegen war ich nicht zurückgekehrt.
Ich ging in den ersten Stock und fand das Zimmer, in dem Kara geschlafen hatte. Der Schrank war noch mit ihrer Kleidung gefüllt. Auf dem Nachttisch stand ein Glas Wasser.
Ich betrat das Badezimmer. Der Toilettentisch war mit Karas Waschzeug bedeckt. Als ich die Haarbürste untersuchte, keimte ein Hoffnungsfunke in mir auf.
In den Borsten hatten sich mehrere Haare meiner Schwester verfangen, und an einem von ihnen hing noch immer die Wurzel.