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Ich brach spätnachts auf und fuhr von Colorado aus nach Westen. Als der Morgen graute, war ich auf einer leeren Straße im Monument Valley unterwegs. Während die Ebene noch in ein trübes, violettes Licht getaucht war, wurden die Sandsteinspitzen bereits von den ersten Sonnenstrahlen beschienen.

Ich fuhr an den Straßenrand und gönnte mir eine Pause.

Als ich ausstieg, fühlte ich mich von der allumfassenden Stille fast erschlagen.

Es wehte nicht einmal der leiseste Windhauch, und der Himmel war vollkommen wolkenlos.

Während ich beobachtete, wie das Licht über die jenseitigen Felsvorsprünge zum Talgrund vordrang, der einst ein paläozoisches Meer gewesen war, merkte ich, wie tröstlich diese unveränderliche Landschaft auf mich wirkte.

Eine hauchdünne Schneedecke lag auf der Wüste, und allenthalben ragten rote Tafelberge und Felszinnen auf, die bereits Hunderte von Millionen Jahren existiert hatten, bevor die Menschheit die Herrschaft über die Erde übernahm. Und sie würden auch lange nach unserem Verschwinden noch stehen.

Es war später Abend und noch immer siebenunddreißig Grad warm, als ich auf der I-15 nach Vegas fuhr.

Mehrere Kilometer vor mir erhob sich die Lichtshow des Strips wie die geöffnete Blüte einer fantastischen außerirdischen Blume aus dem Wüstenbecken.

Ich näherte mich dem Casino-Cluster. Am nördlichen Ende des Strips fuhr ich am Meta Frame vorbei – einem eintausend Meter hohen Hotel, das wie ein Bilderrahmen konstruiert war, in dem ständig wechselnde, zufällig ausgewählte Social-Media-Feeds angezeigt wurden.

Zwischen den schwerelos wirkenden Glanzstücken moderner Casino-Architektur versteckten sich die kleineren, schmuddeligeren Relikte von vor vierzig, fünfzig und sechzig Jahren, die bereits ihr Verfallsdatum überschritten zu haben schienen.

Während ich am Strip entlangfuhr, drang ein Geruchsgemisch aus Gras, Erbrochenem, Urin, Alkohol und dem Parfüm der Showgirls in den Sprinter.

Ich passierte die sonnenbeschienenen Wasserspiele vor dem Hotel Bellagio. Einmal am Tag schoss echtes Wasser in die Höhe, während der restlichen Zeit wurden die Fontänen durch ein Hologramm ersetzt.

Der Caesars Palace war abgerissen worden. An seiner Stelle hatte ein multinationaler Konzern den Tower of Babel errichtet – einen regelrechten, von Menschenhand geschaffenen Berg, der sich exakt eine Meile hoch über den Strip erhob. Am Fuß des Turms begann ein Grünzug namens Hanging Gardens, der sich bis zur Spitze fünfzehn Kilometer lang um das Gebäude wand. Entlang dieser Grünanlage lockten Gärten, Geschäfte, Restaurants, Cafés, lange Fußwege, die zu Spaziergängen einluden, und digitale Wasserspiele – lauter Orte, an denen man verweilen konnte, um die schimmernde Stadt und die Wüste dahinter zu bewundern.

Am Südende des Strips hob sich Las Vegas’ neueste und auffälligste Sehenswürdigkeit schimmernd vom Abendhimmel ab. Eine riesige Sphäre namens Blue Earth, die tagsüber wie eine Diskokugel in der Wüstensonne glitzerte und nachts ein perfektes Abbild unseres Planeten war.

Der Strip war von heruntergekommenen Mietskasernen umgeben – die Behausungen der Leute, die Vegas am Laufen hielten.

Und um die Mietskasernen herum erstreckte sich der Rest von Las Vegas wie ein äußerer Kreis der Hölle. Seit vor zwanzig Jahren der Lake Mead ausgetrocknet war, lebte hier niemand mehr.

Auf der Fahrt durch die leeren Straßen musste ich Müll und Trümmerstücken ausweichen.

Die Sonne versank im westlich gelegenen Kalifornien und tauchte die Mojave-Wüste in ein Wechselspiel aus Farben – von Orange über Rot zu Magenta und Violett.

Als sie endgültig verschwunden war, lagen die Vororte von Vegas in Dunkelheit, und die Casinos erblühten im Neonlicht.

Ich stellte den Sprinter ab und ging auf der ruhigen Straße an mehreren Häuserblocks vorbei zu einem ehemaligen Walmart.

Unterwegs zog ich aus der Tasche des alten Mantels, den ich auf der Herfahrt gekauft hatte, eine Whiskeyflasche. Ich öffnete sie und spritzte mir etwas von dem Whiskey über den Mantel. Dann nahm ich einen kleinen Schluck, gurgelte damit und spuckte ihn wieder aus.

Der Parkplatz war leer. Überall lagen umgestürzte Laternen herum. Ich sah ausgebrannte Autowracks und die Überbleibsel mehrerer Obdachlosenlager – zerfetzte Zelte, Ölfässer und andere Anzeichen von Hoffnungslosigkeit.

Die Nacht war mondlos, doch die Sterne leuchteten mir den Weg.

Die alten Eingänge in der Ladenfassade waren mit Brettern vernagelt und unpassierbar.

Ich wankte wie ein Betrunkener seitlich am Gebäude entlang. Noch bevor ich um die Ecke bog, roch ich Zigarettenrauch und einen Hauch billiges Rasierwasser.

Auf der Rückseite waren in der Nähe der Verladerampen vier schwarze SUVS geparkt.

Stimmen drangen an mein Ohr. Sie sprachen Russisch.

Fünf Männer. Nein, sieben.

Als ich rund fünfzehn Meter von ihnen entfernt war, wandten sie sich zu mir um. Sicher hatten sie mich schon mehrere Minuten zuvor auf den Überwachungsmonitoren bemerkt, aber als besoffenen Landstreicher abgetan.

Sie verstummten und warteten ab, ob ich weitergehen würde.

Ich blieb stehen und sah sie an.

Ein riesiger Mann in einem schwarzen Jogginganzug machte einen Schritt auf mich zu. »Zieh Leine«, sagte er und deutete mit seiner Zigarette zum anderen Ende der Gasse.

Ich ging noch immer schwankend auf ihn zu.

»Bist du taub?«

Drei Meter von den anderen entfernt trat er mir entgegen. Er bewegte sich leichtfüßiger, als sein mächtiger Körperbau vermuten ließ.

»Ist Feld da drin?«

Ich betrachtete im Sternenlicht seine Reaktion: Überraschung. Er hob den Arm und sagte in seiner Muttersprache etwas in den Ärmel. Ein paar Sekunden später blickte er zur Seite und lauschte der Antwort in seinem Ohrhörer. »Da, da, da.«

Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, das sich nicht in seinen Augen widerspiegelte. Er würde mir wehtun und freute sich darauf.

Mit der rechten Hand griff er hinter sich – nach der Pistole, die ich im Chrom-Außenspiegel eines der SUV s in seinem Hosenbund stecken sah.

Ich trat ihm gegen das linke Knie, was eines der abscheulichsten Geräusche verursachte, die ich je gehört hatte – eine Art knackenden Knall. Während er nach hinten taumelte, zog ich die MP -443 Grach aus seinem Hosenbund, wirbelte sie in der Hand herum und schlug ihm mit dem Griff den Schädel ein.

Während er umkippte, schoss ich auf den dritten, den ersten, den vierten und den sechsten Mann – die Reihenfolge orientierte sich an ihrer jeweils zur Schau gestellten Körperbeherrschung. Die nicht weiter erwähnenswert war. Keiner von ihnen schaffte es, ordentlich die Waffe zu ziehen.

Der zweite Mann hatte eine Zigarette geraucht, und sein Zögern rettete ihm das Leben. Der fünfte und weiseste unter ihnen hob einfach nur die Hände.

»Kommt man durch diese Tore hinein?«

»Ja«, erwiderte er.

Ich zog einen Kabelbinder aus einer meiner Gürtelschlaufen und warf ihn dem Mann zu.

»Fessele ihn«, sagte ich.

Während der fünfte Mann dem zweiten die Arme hinter dem Rücken verschnürte, richtete ich weiter die Waffe auf die beiden. Zudem behielt ich die an der Wand angebrachten Kameras im Auge.

Wenn sie mich beobachteten, hatten sie mehrere Möglichkeiten zu reagieren. Entweder schickten sie Verstärkung – falls es noch welche gab –, oder sie versuchten auf einem anderen Weg aus dem Gebäude zu fliehen.

»Ist Feld hier?«

Der fünfte Mann zog den Kabelbinder straff und sah mich an. Meine Frage machte ihm Angst. Er nickte.

»Wie viele Wachen halten sich in dem Gebäude auf?«

»Zwei.«

Er sagte die Wahrheit.

»Wie heißt du?«

»Alexej.«

»Führe mich hinein, Alexej.«

Ich entwaffnete Alexej und folgte ihm die Stufen zum Tor der Verladerampe hinauf. Er hob es so weit an, dass wir darunter durchschlüpfen konnten.

Wir gingen durch ein leeres Lagerhaus. Scheinwerfer strahlten von den Dachsparren auf den polierten Betonboden herab. In der Ferne hörte ich Generatoren summen.

»Bring mich zu Feld«, sagte ich.

Alexej führte mich durch einen düsteren Korridor.

Am Ende angelangt, zog er einen Schlüsselbund aus der Tasche und sperrte eine schwere Stahltür auf.

Wir betraten einen Raum, der mich an das Innengehege eines Zoos erinnerte. Die Wände waren mit Terrarien und Aquarien verschiedener Größe gesäumt. Es roch nach Sägespänen, Tierkot und Reinigungsmitteln.

Wir gingen an einer Wand entlang, von der mehrere mit Glasscheiben versiegelte Kammern abgingen. In vielen von ihnen sah ich durchsichtige Petrischalen. Roboterarme versorgten sie mit Lösungen aus kalibrierten Glaspipetten oder verschoben sie, um den Lichteinfallwinkel zu korrigieren.

Je weiter wir kamen, desto größer wurden die Kammern.

In einer sah ich eine mit bloßem Auge kaum zu erkennende Larve, die sich im Dreck wand. In einer anderen winzige pinke Körper, so groß wie Cashewkerne, die an neugeborene Mäuse erinnerten.

Dann Nadelbaumsetzlinge, allerdings mit karminroten Nadeln.

Es folgten mehrere Terrarien voller exotisch wirkender Insekten, die ich noch nie gesehen hatte.

Eine große, mit Salz- oder Süßwasser gefüllte Kammer enthielt durchscheinende, unförmige Fische, die aussahen, als stammten sie von einem anderen Planeten.

Im Anschluss kamen wir an noch größeren Terrarien und Aquarien vorbei.

Ich sah eine beuteltierartige Kreatur von der Größe einer Hauskatze, die kopfüber an ihren Drei-Zehen-Krallen hing. Ihre indigoblauen Augen waren geöffnet, die schwarzen Pupillen winzig klein.

Durch ein mit pinkem Seegras gefülltes Aquarium schwamm ein Aal mit jeweils einem Kopf an beiden Enden seines Körpers. Der Strom, der unter seiner Haut pulsierte, verlieh ihm einen quecksilbrigen Schimmer.

Vor dem geräumigsten Habitat blieb ich stehen. Die Glasscheibe reichte vom Boden bis zur Decke, der Raum dahinter war so groß wie ein begehbarer Kleiderschrank.

In einer Ecke der Kammer saß unter einem Palmwedel ein Wesen, das mich an einen Gremlin aus dem gleichnamigen Film erinnerte, allerdings mit kleineren Ohren, Flügeln und einem weniger beängstigendem Verhalten.

Am Ende des Raums schwang eine Tür auf.

Ich zog Alexej dicht an mich heran und hielt ihm die Grach an den Kopf.

Ein Mann in einem weißen Laborkittel trat ein. Er lächelte, als er mich sah. Ty Feld war fünf Zentimeter kleiner als ich. Er hatte lockiges Kraushaar, buschige Koteletten und einen Schnauzbart, der besser zum Besitzer eines Saloons als zu einem Wissenschaftler gepasst hätte. Die GPA beobachtete ihn seit sieben Jahren. Obwohl wir wussten, dass er im Penthouse des Tower of Babel wohnte und seine Geschäfte in einer Handvoll alter Gebäude am menschenleeren Stadtrand von Las Vegas betrieb, waren wir ihm nie auf die Pelle gerückt. Offiziell wussten wir nicht, warum er für uns tabu war, doch natürlich kannten wir alle den Grund: Er verkaufte der DARPA illegale Biotechnologie und lieferte der GPA gelegentlich wertvolle Informationen über Bioterroristen und den einen oder anderen Konkurrenten. Solange er das tat, würde es ihm weiterhin gestattet sein, seine exotischen synthetischen Geschöpfe zu verhökern.

Hinter ihm standen zwei Männer mit schwarzen Jacken und slawischen Gesichtszügen.

»Der kleine Logan Ramsay«, sagte er.

»Dr. Feld.«

»Sind Sie hier, um mich zu verhaften?«

»Ich arbeite nicht mehr für die GPA

»Wollen Sie mich töten?«

»Sie müssen mir Ihr Labor leihen.«

»Wieso sollte ich das tun, anstatt Sie einfach kaltzumachen?«

»Wenn Sie meinen, Sie könnten mich umbringen, sollten Sie das auf jeden Fall tun. Den sieben Wachen, die Sie an der Verladerampe postiert hatten, ist es nicht gelungen, aber vielleicht sind die beiden, die sich hinter Ihnen verstecken, ja die wirklich harten Hunde. Wenn sie es mit mir aufnehmen wollen, muss ich zuallererst Alexej töten, und das würde ich lieber nicht tun. Rein theoretisch könnten Sie aber auch einfach akzeptieren, dass Sie unterlegen sind, und wir überspringen das Ganze.«

Dr. Feld lachte herzlich. »Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, müssen Sie ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein. Ich war zu einem Vortrag in Berkeley, und Ihre Mutter lud mich zum Abendessen ein.«

»Ich war neun, und Sie haben bei uns übernachtet.«

»Wirklich?«

»Wir haben eine Partie Schach gespielt.«

»Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Wer hat gewonnen?«

»Sie haben mich in dreizehn Zügen vom Brett gefegt.«

»Das höre ich gern.« Er drehte sich zu den beiden Männern um. »Haltet euch zurück.«

Ich ließ Alexej los. Er ging wie ein geprügelter Hund mit hängendem Kopf auf Feld zu.

»Macht ihn kalt«, sagte Feld.

1,2 Sekunden später lagen alle drei Männer tot zu seinen Füßen, und in der Pistole, die ich auf sein Gesicht richtete, steckte noch immer eine Patrone.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich musste es mit eigenen Augen sehen.«

»Dann erschaffen Sie mittlerweile also Drachen?«, fragte ich und deutete zum größten Habitat.

»Sie wären überrascht, wie viel manche Leute für eine brandneue Lebensform hinblättern. Sobald ich das Design perfektioniert habe, wird mir dieses Kerlchen fünfzig Millionen einbringen.«

»Kann es fliegen?«

»Nein, aber mit den Flügeln schlagen. Leider kann es kein Feuer spucken.«

»Haben Sie es versucht?«

»Wir haben mit der Idee gespielt. Manche natürlichen Lebewesen können extreme Temperaturen erdulden. Wir haben uns das Genom des Pompeijwurms vorgenommen, der in der Nähe von hydrothermalen Quellen in Temperaturen von über siebzig Grad Celsius lebt. Oder das Genom der Bärtierchen, die in einer Spannbreite von hundertfünfzig Grad plus bis zu fast zweihundertdreiundsiebzig Grad minus existieren können. Aber im gesamten Tierreich gibt es – soweit wir wissen – keine einzige innere biologische Struktur, die dreihundert Grad und mehr standhält.« Er lachte. »Außerdem wüsste ich auch gar nicht, wie man ein Organ konstruiert, das Feuer produzieren und ausstoßen kann.«

»Haben Sie ihn von einem Tier austragen lassen oder im Labor gezüchtet?«

»Er ist in einem künstlichen, frei stehenden Uterus herangereift. Wir nennen ihn Smaug.«

Ich blickte das Geschöpf an. Es sah nicht aus wie ein mächtiger mythischer Drache. Eher mitleiderregend.

Seine Haut war stachelig und hart. Vermutlich hatte Feld sich zum Teil beim Genom eines Krokodils bedient. Seine Hinterbeine schienen vom Komodowaran zu stammen.

Die Augen des Geschöpfs öffneten sich – reptilienhaft und unheimlich. Es blickte uns durch die Glasscheibe an.

»Diese Kreatur ist noch längst nicht perfekt«, sagte Feld. »Ihre Masse nimmt etwas schneller zu, als ihr Knochenquerschnitt verkraften kann. Wir sind gerade mit der somatischen Überarbeitung der Knochen fertig. In ein paar Wochen werden wir sehen, ob es uns gelungen ist, ihre Größe und Dichte zu erhöhen.«

Der Drache kam unter dem Palmwedel hervor und senkte den eckigen Kopf, um aus einer Wasserpfütze zu trinken.

»Wieso sind Sie hier?«, fragte Feld.

»Haben Sie mitbekommen, was in Glasgow los ist?«

»Natürlich. Ich habe gehört, dass das Militär die Stadt abriegelt und die Bewohner einkesselt.«

Ich erzählte ihm alles, was ich über die Situation wusste.

Als ich damit fertig war, warf er den Kopf in den Nacken und lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Ihre Mutter tötet zweihundert Millionen Menschen und zerstört ein komplettes Forschungsgebiet, darunter auch mein Lebenswerk«, brachte er schließlich hervor. »Dann täuscht sie ihren eigenen Tod vor, um erneut und diesmal noch härter zuschlagen zu können.« Er seufzte und riss sich zusammen. »Funktioniert dieses Upgrade?«

»Bei einem Teil der Infizierten wirkt es.«

»Wie hat sie das geschafft?«

»Ich weiß es nicht, vermute aber, dass sie ihre Story-of-You-Biodaten durch einen Exascale-Prozessor gejagt hat.«

»Ja, natürlich.« Seine Augen begannen zu leuchten, und ich erhaschte einen Blick auf den Forscher hinter dem Verbrecher. »Sie hatte den Datensatz. Wahrscheinlich hat sie einen Algorithmus programmiert, der aus den körperlichen Eigenschaften ihrer Kunden den dazugehörigen DNS -Code rekonstruiert. Donnerwetter. Ein Programm, das aus dem Phänotyp den Genotyp rekonstruieren kann.« Er dachte nach. »Beim Ausfüllen von Fragebogen können die Leute lügen. Vermutlich hat sie Crawler entwickelt, um öffentliche Verzeichnisse und die sozialen Medien zu durchforsten. Sie hat die Systeme von Versicherungen gehackt und ihre Daten mit deren Patientenakten verglichen.« In seiner Begeisterung schwang Neid mit.

»Meine Schwester wird das Upgrade meiner Mutter freisetzen.«

»Wie?«

»Mit einem übertragbaren asymptomatischen Virus.«

»Wie hoch ist der R0-Wert?«

»Fast neun.«

Feld schüttelte beeindruckt den Kopf. »Uns stehen interessante Zeiten bevor.«

»Ich brauche ein Labor.«

Er zuckte die Achseln. »Glauben Sie, es lohnt sich wirklich, sie aufzuhalten?« Einen Moment lang wirkte sein Blick traurig. »Wir gehen unter, Logan. Es ist zu spät, um den Kahn jetzt noch leer zu schöpfen. Nicht, dass wir es je wirklich versucht hätten. Und es gibt keine Rettungsboote. Das Ende der Welt lässt sich nicht mehr vermeiden.« Er sah mich an. »Ich kann Sie nicht umstimmen, nicht wahr?«

»Nein.«

»Tja«, sagte er und betrachtete die toten Männer. »Dann heißt es wohl: Mi casa, su casa. «

Das Hauptlabor war in einem Eck des alten Walmart untergebracht und nahm mehrere Hundert Quadratmeter ein. Seine Wände waren mit Servern und einer Vielzahl von DNS -Druckern gesäumt.

Feld zeigte mir eine 3D-Interface-Gen-Station, meldete mich im System an und ließ mich allein spielen.

Mit meinem Sequenzer und dem Haarfollikel aus Karas Bürste hatte ich bereits eine vergleichende Funktionsanalyse zwischen meinem und ihrem Genom angestellt. Kara hatte ausgewählte Gene in ihrer DNS ins Visier genommen und deren Expression weit über die Schwellenwerte hinaus verändert, die durch das ursprüngliche Upgrade unserer Mutter festgelegt worden waren – in erster Linie jene Gennetzwerke, die ihre Konzentration, Mustererkennung und allgemeine Kognition steuerten.

Ich lud die Analyse von Karas Genom in Felds KI -Interface hoch, die daraufhin eine Liste aller Veränderungen und der entsprechenden Zielorgane und Gensysteme zusammenstellte.

Wenn ich eine Chance haben wollte, Kara aufzuhalten, musste ich meine Fähigkeiten auf ihr neues Niveau oder sogar darüber hinaus steigern. Sie hatte mehrere Monate Zeit gehabt, sich behutsam Schritt für Schritt zu modifizieren. Ich dagegen musste mir etwas ausdenken, das schneller wirkte.

Und ich hatte auch schon eine Idee. Von den meisten unserer Gene und regulatorischen Sequenzen gibt es zwei Kopien. Das ursprüngliche Upgrade meiner Mutter hatte sich an den Bauplan der Natur gehalten und nur eine Kopie des Gens verändert. Die Veränderung beider Exemplare, auch bekannt als Erhöhung der Gendosierung, war jedoch eine bewährte Methode zur Steigerung der phänotypischen Ausprägung – allerdings auch eine riskante. So verändert beispielsweise eine 50-prozentige Erhöhung der Gendosis auf Chromosom 21q den Zeitpunkt, das Muster und das Ausmaß der Entwicklung und verursacht so die als Down-Syndrom bekannte genetische Störung.

Um schnell das zu erreichen, was Kara geschafft hatte, würde ich mich auf meine bereits modifizierten Gene konzentrieren und deren stumme Kopien aktivieren müssen. Was einen grobschlächtigen Eingriff in ein fein ausbalanciertes System darstellte.

Wann immer ich konnte, schlief ich ein paar Stunden im Sprinter. Gelegentlich kamen Felds Zellbiologen und Virologen vorbei, um zu sehen, was ich gerade tat, doch ich hielt den Kopf gesenkt und unterhielt mich so wenig wie möglich mit ihnen.

Mit Hilfe von sogenannten DNS -Schmieden stellte ich ein halbes Dutzend Minicircles her, von denen jeder ein in sich geschlossener, sich selbst replizierender Übertragungsvektor für einen bestimmten Satz von Genen und Anweisungen war.

Am dritten Tag lud ich die rohen genetischen Sequenzen hoch und setzte Felds DNS -Schmieden ein, um DNS in präziser Menge und Reinheit zu erstellen. Alle dazu nötigen Bauteile wurden vollständig chemisch synthetisiert.

Nun fehlte noch eine Verabreichungsmethode, etwas, das sich viel schneller in mein System integrieren würde als der virale Vektor, den unsere Mutter für das erste und Kara für ihr zweites Upgrade verwendet hatten. Ich brauchte etwas, das meine Mischung aus DNS -Sequenzen und Minigenen aufnehmen und die neue DNS mit Wucht in meine armen, überlasteten Zellen einschleusen konnte.

Nachdem ich zweiundzwanzig Stunden lang ohne Unterbrechung gearbeitet hatte, stand ich von meiner Arbeitsstation auf und ging durch die leergeräumten Gänge der früheren Walmart-Sportabteilung.

Dabei fiel mir ein Artikel ein, den ich fünfzehn Jahre zuvor während eines Überschallflugs von D. C. nach Los Angeles gelesen hatte. Damals hatte ich ihn nur zur Hälfte verstanden, doch er war in allen Einzelheiten in meinen Erinnerungen abgespeichert.

In dem Artikel war es um die Vor- und Nachteile verschiedener Gen-Verabreichungsmethoden gegangen. Eine von ihnen beruhte auf hydrodynamischem Druck – eine Technik, bei der ein großes DNS -Volumen injiziert und so ein Genpaket mittels eines osmotischen Schocks regelrecht durch die Zellwände geschleudert und mit großer Effizienz im ganzen Körper verbreitet wurde. Die hydrodynamische Verabreichung war kein Zuckerschlecken für den Empfänger, aber die aussichtsreichste Methode für die schnellen systemischen Veränderungen, auf die ich aus war.

Dazu müsste ich mir das Medikament nicht nur selbst injizieren, sondern bräuchte auch ein spezielles Verabreichungssystem, um die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und die Veränderungen in meinem Gehirn zu bewirken. Zu diesem Zweck würde ich Nanopartikel herstellen, in denen meine Genpakete untergebracht waren. Über einen Inhalator würden sie direkt in mein Gehirn gelangen.

Als ich Feld erzählte, woran ich arbeitete, sah er mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

»Es gibt angenehmere Arten, sich das Leben zu nehmen, als durch ein katastrophales Organversagen.«

»Fällt Ihnen eine bessere Verabreichungsmethode ein?«, entgegnete ich.

Wie erwartet wusste er keine.

Sechs Tage nach meiner Ankunft schüttelte ich Feld an der Kante der Verladerampe die Hand und dankte ihm für seine unfreiwillig gewährte Gastfreundschaft.

»Wenn Sie das wirklich durchziehen, sind Sie erledigt. Das ist Ihnen doch klar, oder? Der menschliche Körper kann solche Strapazen nicht verkraften.«

»Sie haben wahrscheinlich recht«, antwortete ich.

»Ich wünsche Ihnen trotzdem viel Glück. Vergessen Sie nicht, dass ich Ihnen geholfen habe.«

»Nachdem Sie versucht haben, mich umzubringen. Zweimal.«

»Ja, nur zweimal«, erwiderte er lächelnd.

Ich sprang von der Verladerampe und ging über den brütend heißen Asphalt zu meinem Sprinter.

Da mir für die Suche nach Kara nicht viel Zeit blieb, bestieg ich zum ersten Mal, seit ich meine neue Identität angenommen hatte, ein Flugzeug.

Zwölf Minuten nach dem Start vom Flughafen Harry Reid International erreichte die achtzigsitzige Boeing eine Flughöhe von gut achtundzwanzig Kilometern. Obwohl wir von Staustrahltriebwerken angetrieben wurden, nahm ich keine Vorwärtsbewegung wahr. Doch das änderte sich, als ich durch das Fenster hinabsah und elf Kilometer unter uns herkömmliche Überschalljets sowie weitere sieben Kilometer darunter die noch älteren Unterschallflugzeuge erblickte. Sie sahen allesamt aus, als flögen sie rückwärts.

Ich betrachtete die Erdkrümmung – die zerbrechlich wirkende blaue Atmosphäre, die in die schwarze Leere des Weltraums überging.

Zwanzig Minuten später hörte und fühlte ich, wie die Motoren abgeschaltet wurden. Der Pilot sagte durch, dass wir mit dem Gleitsinkflug nach D. C. begonnen hätten.

Nach über einem Jahr kehrte ich nach Hause zurück.