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Laut der Armaturenbrettanzeige war es 18:45 Uhr. Es war dunkel und nieselte. Die Holzverkleidung meines Hauses war gestrichen worden – die Zierleisten marineblau, die Tür rot.

Zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich unentschlossen. Das Minikühlgerät, das mein neues Upgrade enthielt, war auf dem Beifahrersitz festgeschnallt. Ich hätte es mir bereits in Vegas verabreichen können. Es wäre besser gewesen, es dort zu tun. Doch stattdessen war ich dafür hierhergekommen.

Ich wusste nicht, was mich erwartete, und wollte noch ein letztes Mal meine Familie sehen.

Als ich gerade im Innenspiegel meine Haare richtete, um ordentlicher auszusehen, schwang die Vordertür auf.

Beth erschien auf der Schwelle.

Sie trug ein grünes Wickelkleid, das ich noch nie an ihr gesehen hatte. Ihre Haare waren nicht mehr schulterlang, sondern zu einem asymmetrischen Bob geschnitten.

Sie zog die Tür hinter sich zu und ging auf dem gefliesten Weg zur Straße.

Damit war mein Moment gekommen.

Doch als ich die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, tauchten in der Ferne Scheinwerfer auf. Ihr Licht brach sich in den Regentropfen, die an meiner Windschutzscheibe herabliefen.

Ich hielt inne und sah zu, wie das fahrerlose Auto am Straßenrand stehen blieb.

Beth öffnete die rechte hintere Tür und stieg ein.

Nach drei Kilometern hielt ihre Mitfahrgelegenheit vor einem Restaurant namens La Fleur, wo wir ein paarmal zu besonderen Anlässen gegessen hatten. Es war ein Ort für Jahres- und Geburtstage, wo man jemanden mit einer Speisekarte voller horrend teurer, nicht synthetischer Gerichte beeindrucken konnte. Sie boten etwas an, für das manche Leute sehr viel zu zahlen bereit waren – die Erinnerung daran, wie es früher gewesen war, auswärts zu essen.

Beth stieg aus, überquerte eilig den Gehsteig und verschwand im Inneren des Restaurants.

Ich bog in die erste freie Parklücke und trat ebenfalls in den Regen hinaus.

Trotz des schlechten Wetters herrschte auf den Gehsteigen großes Gedränge.

Ich drängte mich durch Parfümwolken.

Vor dem Empfangspult des La Fleur stand eine Schlange, die bis auf die Straße hinausreichte. Beth befand sich nicht unter den Wartenden. Der Speisebereich war hinter einer Wand aus roten Vorhängen verborgen.

Ich bahnte mir unter zahlreichen Entschuldigungen einen Weg durch die Menge und schlüpfte durch die Vorhänge, während die Empfangsdame mit einer Stablampe ihre Reservierungsliste inspizierte.

Im Speiseraum war es laut und dunkel.

Die mit weißen Decken und flackernden Kerzen dekorierten Tische waren ausnahmslos besetzt. Neben einigen standen Champagnerkübel.

Während ich einem Kellner mit schwarzer Krawatte und einem Tablett voller Martinis auswich, entdeckte ich Beths grünes Kleid.

Sie saß mit dem Rücken zu mir an einem Tisch in der hintersten Ecke des Raumes.

Ihr gegenüber saß ein Mann.

Ich ging durch das kontrollierte Chaos aus Kellnern und Gästen auf sie zu.

Meine Umgebung schien sich aufzulösen.

Ich nahm nur das Gesicht des Mannes wahr, der meiner Frau gegenübersaß. Er sah gut und sehr gepflegt aus, mit einem maßgeschneiderten schwarzen Jackett über einem teuren weißen Hemd.

Er beugte sich lachend vor. Als ich näher kam, sah ich, dass sein rechter Arm auf dem Tisch lag, die Hand nur wenige Zentimeter von Beths entfernt.

»Sir?«

Ich drehte mich zu der Kellnerin um, die mich angesprochen hatte.

»Suchen Sie nach Ihrem Tisch?«

»Ja«, erwiderte ich. »Aber ich sehe meine Freunde nirgendwo. Ich dachte, sie wären schon hier.«

»Auf welchen Namen läuft die Reservierung? Ich werde nachsehen, ob sie bereits eingetroffen sind.«

»Ich bin mir nicht sicher, wer von ihnen reserviert hat.«

»Okay, wie heißen Sie?«

»Robbie.«

»Wenn Sie wollen, können Sie gern an der Bar warten.«

Als ich auf dem einzigen freien Hocker Platz nahm, von dem ich ungehindert Beths Tisch beobachten konnte, merkte ich, dass ich auf den Mann, der ihr gegenübersaß, rasend eifersüchtig war. Doch wie so viele meiner Emotionen konnte ich auch diese beiseiteschieben und rational hinterfragen.

Ich bestellte ein Getränk, das ich nicht anrührte, und beobachtete die beiden.

Sie orderten Cocktails, Wein und etwas zu essen.

Ihre Unterhaltung geriet nicht einen Moment lang ins Stocken.

Ihre Körpersprache, der abgeschiedene Tisch und die Tatsache, dass sie an einem Donnerstagabend in einem dunklen französischen Restaurant zusammensaßen, wiesen eindeutig auf eine Verabredung hin. Es war ihre dritte, vielleicht sogar schon die vierte.

Ein Sommelier brachte ihnen die Weinflasche und schenkte dem Mann einen kleinen Schluck zum Probieren ein. Er schnupperte am Korken und hielt das Glas vor das Kerzenlicht.

Als der Sommelier gegangen war, schob Beths Date seinen Stuhl zurück und stand auf. Ich beobachtete, wie er einen Korridor am anderen Ende des Restaurants entlangging, der vermutlich zu den Toiletten führte.

Ich legte etwas Bargeld auf die Theke und machte mich auf den Weg zu Beths Tisch.

Sie war ungefähr sieben Meter von mir entfernt und tippte eine Nachricht in ihr Handy.

Mein Puls erhöhte sich auf hundertsechzig Schläge pro Minute. Es fühlte sich an, als hätte jemand anders meinen Körper übernommen. Natürlich wusste ich, wer es war: der alte Logan, der noch immer ein Gefangener seiner menschlichen Sehnsüchte war und die Wendungen seines Schicksals nicht verstehen, geschweige denn kontrollieren konnte.

Der neue Logan meldete sich zu Wort. Seine Stimme klang ruhig und vernünftig: Du weißt, dass das nicht richtig ist. Du wirst sie in Gefahr bringen.

Ich war noch drei Meter von ihrem Tisch entfernt.

Dann zwei.

Du weißt, dass das nicht richtig ist.

Zwischen den zahlreichen Gerüchen des Restaurants nahm ich nun auch den meiner Frau wahr – die vertraute Mischung aus ihrem Parfüm, ihrer Seife und den Cremes, die sie benutzte. Und unter alledem ihre Pheromone, die in die Reste meines Reptiliengehirns vordrangen. Seit meinem Upgrade hatte ich noch nie solch ein emotionales Durcheinander erlebt.

Ich liebte sie noch immer.

Und dann war es vorbei – der alte Logan wieder weggesperrt.

Auf einmal sah ich mich in vollkommener Klarheit durch dieses Restaurant gehen. Der Schleier lüftete sich, und ich erkannte, was mich an diesen Ort getrieben hatte.

Ein Gewirr aus Eifersucht, Angst und Trauer.

Aus reiner Selbstsucht hatte ich die Wahrheit verdreht.

Ich war eine Gefahr für Beth und unsere gemeinsame Tochter.

Ich war nicht mehr das Beste für sie.

Beth bemerkte mich aus dem Augenwinkel.

Ihr Kopf drehte sich langsam zu mir um.

Ich bog scharf ab und ging erst an ihrem Tisch und gleich darauf an dem Mann vorbei, der gerade von der Toilette zurückkehrte. Er beachtete mich nicht, da er vollkommen auf Beth konzentriert war. In seinem Gesicht erkannte ich die Mikroausdrücke von Interesse, Erregung und Lust.

Draußen setzte ich mich in den Sprinter und beobachtete durch den Regen die Passanten.

Ich löste den Sitzgurt, mit dem ich das Kühlgerät gesichert hatte, und klappte dessen Deckel auf. Dann griff ich in das Schmelzwasser und zog die erste von acht großen Spritzen mit meinem neuen Upgrade heraus. Auf den Etiketten stand ganz genau, wo ich sie mir jeweils setzen musste.

Ich legte sie auf die Mittelkonsole, rollte den linken Ärmel hoch, schnürte mir den Arm über dem Ellbogen mit einem Gummiband ab und reinigte die Injektionsstelle über meiner Antekubitalvene mit einem in Alkohol getränkten Wattebausch.

Der beißende Geruch von Isopropyl breitete sich im Fahrzeug aus.

Ich nahm die Spritze und drückte einen einzelnen Tropfen der Lösung aus der Nadel. Sobald ich sie injiziert hatte, würden sich binnen einer Stunde die ersten Effekte bemerkbar machen. Im Mandarin Oriental wartete ein Hotelzimmer auf mich. Ich verwendete eine Druckinjektion für die hydrodynamische Schockwirkung, mit der ich die wichtigsten systemischen Upgrades verbreichte, und einen modifizierten Naseninhalator für die Nanopartikel, die die Blut-Hirn-Schranke passieren und direkt auf mein Gehirn einwirken sollten. Mit dem Inhalieren der Nanopartikel würde ich warten, bis ich wieder im Hotel war, da deren Wirkung sofort einsetzen würde.

Durch die regennasse Scheibe sah ich etwas Grünes aufblitzen. Beth näherte sich auf dem Gehweg. Der Mann, mit dem sie gegessen hatte, hielt einen Schirm über sie. Sie hatte sich bei ihm untergehakt. An ihrem Finger steckte kein Ehering. Sie sprachen miteinander. Wegen der Tropfen, die auf das Dach des Sprinters prasselten, konnte ich jedoch nicht verstehen, was sie sagten.

Ein Großteil von Beths Gesicht war unter dem Schirm verborgen. Nur ihr Mund war zu sehen. Sie lächelte.

Ist das der letzte Blick, den ich je auf Beth werfen werde?, fragte sich der alte Logan.

Sie gingen direkt an meinem Seitenfenster vorbei, und ich hörte Beth lachen. Hoch und wohltönend. Ihr Lachen hatte mich immer an Sonnenschein erinnert.

Dann waren sie verschwunden – bloß ein weiteres Paar in einem Meer aus Regenschirmen. Der außenstehende Beobachter in mir wunderte sich – nicht zum ersten Mal –, wie sehr sich die Mitglieder unserer Spezies gegenseitig brauchten. All diese Leute, die in den kalten Regen hinausgingen, um miteinander zu lachen, zu trinken und über Nichtigkeiten zu reden. Es war fast, als wäre dieses Bedürfnis nach Nähe und Berührungen unser … ihr  … Lebenselixier.

Ich selbst war nicht einsam.

Der alte Logan war einsam. Aber er hatte nicht mehr lange zu leben.

Ich betrachtete die Spritze. Dann stach ich die Nadel in meine Vene.