Beamte des NYPD warteten im Grand Central am Gate auf uns. Als sie Nadine die Handschellen anlegten, stieg Edwin aus seiner Gondel. Er war ein paar Minuten nach uns aus D. C. abgefahren.
Er kam zu uns und musterte Nadine mit einem zornigen Blick, der mehr ausdrückte, als er jemals mit Worten hätte sagen können. Ich sah zu, wie die Polizisten sie abführten, und machte mir Sorgen, was nun aus ihr werden würde. Wollte Edwin sie wie mich in einem Geheimgefängnis untersuchen lassen oder einem virtuellen Verhör unterziehen? Ich konnte noch immer nicht fassen, dass sie diesen Weg gewählt hatte, doch im Moment hatte ich keine Zeit, ihr Schicksal zu betrauern.
»Direktor Rogers?« Wir drehten uns zu der jungen Polizistin um, die bei uns geblieben war. »Ich soll Sie zum SWAT -Team bringen.«
Wir folgten ihr aus dem Untergeschoss des Grand Central und durch die große Bahnhofshalle auf die Park Avenue hinaus, wo sie ihren Streifenwagen in zweiter Reihe abgestellt hatte.
Während wir nach Süden fuhren, studierte ich die Grundrisse des Wolkenkratzers am Broadway Nummer 140, die Edwin mir geschickt hatte. Vor der Überflutung Lower Manhattans hatte Omega Laboratories auf der kompletten zweiunddreißigsten und dreiunddreißigsten Etage des Gebäudes in einem Betaphasen-Labor noch nicht zugelassene Grippe-Impfstoffe für klinische Versuche hergestellt.
»Vielleicht ist das Ganze ein Fehler«, sagte Edwin.
»Was? Die Razzia?«
»Sie haben keine Ahnung, in was Sie da hineingeraten. Es wird Tote geben. Ich könnte wahrscheinlich eine Genehmigung für einen Drohnenangriff bekommen und das Gebäude vor Morgengrauen in Grund und Boden schießen lassen.«
»Ich habe gehört, dass schätzungsweise zehntausend Menschen in Lower Manhattan leben.«
»Es gäbe natürlich Kollateralschäden.«
»Und wir könnten nie sicher sein, dass wir Kara wirklich erwischt haben. Oder das Virus, das sie konstruiert hat. Ich will, dass es dafür eine Bestätigung gibt.«
Broadway Nummer 140 war ein rund hundert Jahre altes, im Internationalen Stil errichtetes Gebäude aus Glas und schwarzem Stahl. Ich scrollte rasch durch die einundfünfzig Stockwerke und prägte mir die jeweiligen Grundrisse ein.
Wir fuhren derweil am Union Square Park vorbei und anschließend den Broadway runter, bis zur Kreuzung Houston Street, wo das bewohnbare Manhattan endete. Das Flutgebiet, das die Insel im Süden begrenzte, verlief nicht in einer geraden Linie. So stand zum Beispiel SoHo komplett unter Wasser, während andere Viertel wie etwa Chinatown zum Teil von der Überschwemmung verschont geblieben waren.
Ich stieg aus dem Streifenwagen und ging auf die Betonstraßensperren und die mit Ketten verbundenen Bauzäune zu, die eine Weiterfahrt in südlicher Richtung verhinderten. Ein Stück hinter der Barrikade sah ich die Stelle, an der die Flut Halt gemacht hatte.
Hinter mir leuchteten die Lichter der weltberühmten Skyline. Vor mir war lediglich ein senkrechter, zwischen schwarzen Gebäuden eingezwängter Streifen Sternenhimmel zu sehen. Der Wald aus konturlosen schwarzen Monolithen, in den sich Lower Manhattan verwandelt hatte, bot einen verstörenden Anblick. Natürlich war der Südteil der Insel nicht komplett menschenleer. Die Obdachlosen, die ihn übernommen hatten, nannten ihn New Venice. In weiter Ferne sah ich hinter zerbrochenen Scheiben Lichter flackern – Hochhaus-Camps, in denen offene Feuer brannten.
Edwin stellte sich neben mich. »Die wissen, dass Sie bei diesem Einsatz den Befehl haben.«
»Vertrauen Sie denen?«
»Die Bio-SWAT -Teams tun, was man ihnen sagt.«
Ich kletterte über die Betonsperre und schlüpfte durch einen Zaunspalt.
»Hey«, rief Edwin mir hinterher.
Ich drehte mich um.
»Passen Sie auf sich auf.«
Auf halbem Weg zur nächsten Seitenstraße sah ich dunkle Schemen mit Taschenlampen.
Als ich in Hörweite war, machte ich sie auf mich aufmerksam.
Dank meiner verbesserten Nachtsicht machte ich zwei Schlauchboote und ein Dutzend SWAT -Beamte aus, die ein letztes Mal ihre Waffen überprüften. Zwei Personen in Nachttarnanzügen verstauten ein paar Ausrüstungsgegenstände in einem der Boote und kamen anschließend zu mir.
Wir stellten uns einander vor. Der Teamleiter hieß Bob Noyes, ein stämmiger Mann mit Bart, der aussah, als wäre mit ihm nicht zu spaßen. Neben ihm stand ein grauhaariger Officer namens Aaron Brandes. Er schob gerade eine Lithiumbatterie in eine Drohne.
Noyes rief die anderen herbei.
Ich ließ den Blick über sie gleiten und versuchte, mit jedem von ihnen Augenkontakt aufzunehmen.
Nichts, was ich in dem schwachen Licht erkennen konnte, wies auf einen Täuschungsversuch hin. Ich sah Erschöpfung. Einer von ihnen war leicht berauscht. Zwei waren gelangweilte Soziopathen, die nach Gewalt gierten. Das vorherrschende Gefühl war jedoch Nervosität. Was ich sehr gut verstehen konnte. Je mehr ich über dieses Gebäude herausfand, desto besser verstand ich, wieso Kara es ausgesucht hatte. Die beiden Stockwerke, in denen sich das Labor befand, waren sehr leicht zu verteidigen.
»Die Zielperson heißt Kara Ramsay.« Keiner fragte, ob sie meine Schwester war. Wahrscheinlich wussten sie nichts über sie. »Sie müssten eine kürzlich angefertigte Phantomzeichnung haben. Sie operiert von Broadway Nummer 140 aus, vierundzwanzig Blocks südlich von unserem derzeitigen Standort. Die Grundrisse des Gebäudes sollten Ihnen ebenfalls vorliegen.«
»Mit welcher Art von Gegenwehr müssen wir rechnen?«, fragte Noyes.
»Sie wird von mehreren ehemaligen Special-Forces-Leuten bewacht. Aber Sie müssen sich klarmachen, dass das keine gewöhnlichen Soldaten sind. Sie verfügen über Fähigkeiten, die Sie noch nie gesehen haben.«
»Wissen die, dass wir kommen?«
»Das glaube ich nicht, aber sie werden trotzdem auf der Hut sein. Das Labor befindet sich vermutlich in den Stockwerken 32 und 33. Aus bekannten Gründen funktionieren die Fahrstühle nicht. Es gibt vier Treppenhäuser, jeweils zwei auf jeder Seite des Gebäudes. Wenn wir ankommen, möchte ich zwanzig Minuten vor allen anderen reingehen. Beziehen Sie vor den Zugängen zu den Treppenhäusern im Erdgeschoss Stellung, und warten Sie dort auf mein Signal. Bilden Sie vier Teams. Eins pro Treppenhaus. In dem Gebäude gibt es garantiert Überwachungskameras mit Bewegungsmeldern, also benutzen Sie Ihre Signalstörsender. Außerdem würde ich mit Barrikaden rechnen und künstlichen Verengungen.«
»Also mit einem Schießstand«, sagte Noyes.
»Könnte man sagen. Und jetzt wissen Sie alles, was ich weiß. Wir fahren nach Süden und legen einen Zwischenstopp an der Kreuzung Broadway und Fulton ein, um die Überwachungsdrohne auf den Weg zu bringen und die Funkverbindung einzurichten. Gibt es noch irgendwelche Fragen?«
Als das Team zu den Booten zurückkehrte, reichte Brandes mir meine Ausrüstung. Ich legte die Kettenpanzerweste an und schloss die Magnetstreifen. Anschließend hängte ich mir die Nachtsichtbrille um den Hals und packte die Waffe aus, die ich angefordert hatte – eine belgische FN Five-seveN mit geringem Rückstoß und einem zwanzig Schuss fassenden Magazin. Ich steckte drei Magazine in die Tasche, schob das vierte in die Pistole und lud sie durch.
Das SWAT -Team schleifte die fertig beladenen Boote zum Wasser. Ich zog Schuhe und Socken aus und verstaute sie im Rucksack. Dann zog ich mein Kajak hinter den anderen her, bis es zwei Handbreit über weiß gestrichelten Linien trieb, die früher eine Busspur gekennzeichnet hatten.
Ich stieg ein, nahm das Paddel und stieß mich vom Ufer ab.
Mittlerweile war es drei Uhr morgens.
Ein beißend kalter Wind wehte durch die Straßenschlucht.
Die vier Boote fuhren ein kleines Stück vor mir. Die Geräusche aus der Stadt in unserem Rücken – die allgegenwärtigen Sirenen und Hupen, die Kakophonie der betrunkenen Nachtschwärmer – hallten immer leiser von den dunklen Gebäuden wider.
Nach sieben Blocks konnte ich nur noch das Plätschern der Ruder hören.
Je weiter wir nach Süden kamen, desto tiefer wurde das Wasser. Wir passierten überflutete Apotheken, ein Kosmetikgeschäft, eine Forever-21-Filiale, einen Bloomingdale’s und diverse Bodegas.
Gelegentlich sah ich Feuer in den Gebäuden flackern und roch Rauch.
Wir kamen an der City Hall und an St. Paul’s vorbei.
Aus einem der Wolkenkratzer hoch über uns drangen die zarten Klänge einer Geige – jemand spielte »Tonight« aus der West Side Story . »Tonight, tonight, it all began tonight, I saw you and the world went away.«
Kurz nach der Kreuzung Fulton und Broadway, knapp drei Kilometer von unserer Ablegestelle entfernt, fuhren die vier Boote auf die linke Straßenseite und versammelten sich unter dem verblichenen Schild eines Fastfood-Restaurants.
Wir waren nur noch zwei Blocks von unserem Ziel entfernt.
Ich hielt mit meinem Kajak neben einem der Boote. Brandes nahm die Drohne, schaltete sie an und fuhr dann einen kleinen Laptop hoch. Anschließend warf er die Drohne in die Höhe. Ihre Propeller trugen sie die Straße hinab.
Einen Moment später hob er den Daumen. »Wir haben ein Videobild.« Ich beobachtete von meinem Kajak aus, wie er vornübergebeugt einen Joystick bediente, der seitlich am Laptop angeschlossen war.
»Sehen Sie irgendetwas Bemerkenswertes?«
»Noch nicht. Nur ein riesiges, schwarzes … Bingo!«
»Was?«
»Ihre Informationen waren richtig. Wie es aussieht, hat jemand ein ganzes Stockwerk mit IR -Paneelen ausgekleidet.«
Personen, die sich in einem mit Infrarot-Paneelen getäfelten Raum aufhalten, können nicht von wärmeempfindlichen Kameras oder Zielvorrichtungen erfasst werden.
Brandes drehte noch ein paar Runden um das Gebäude, auf denen er die Lobby, das Dach und die Nebeneingänge inspizierte, dann holte er die Drohne zurück.
Noyes reichte mir einen Ohrhörer und eine drahtlose Sender-Empfänger-Einheit. »Von jetzt an kommunizieren wir über Funk«, sagte er. »Auf Kanal 2.«
Als wir uns der Kreuzung Broadway und Liberty Street näherten, ragte das Zielgebäude schwarz vor dem Sternenhimmel auf. Die SWAT -Officer setzten ihre Hauben auf. Zwei der Boote entfernten sich von unserer kleinen Flotte und fuhren die Liberty Street hinab.
Ich folgte den anderen beiden, die über die Plaza zum Roten Würfel von Isamu Noguchi ruderten. Vor der großen Flut war diese Skulptur vor dem Haupteingang des Gebäudes ein echter Hingucker gewesen. Nun rostete sie im zwei Meter tiefen Wasser vor sich hin.
Ich paddelte weiter bis zur Cedar Street, die zwischen Broadway Nummer 140 und dem Equitable Building verlief. Als ich in die Dunkelheit zwischen den beiden schwarzen Wolkenkratzern glitt, drang Noyes’ Stimme aus meinem Ohrstöpsel: »Hier spricht das A-Team. Wir nähern uns dem Eingang zur Hauptlobby und schalten unsere Signal störer ein. Welchen Treppenaufgang steuern Sie an, Logan? Over.«
»Ich nehme nicht die Treppe. Over.«
»Gibt es noch einen anderen Weg hinauf? Over.«
»Nein. Ich werde klettern. Over.«
Es dauerte einen Moment, bis Noyes sich wieder meldete: »Entschuldigung, was haben Sie gesagt? Ich habe ›klettern‹ verstanden. Over.«
»Sie haben richtig gehört. Over.«
»Wollen Sie wirklich an der Fassade hochklettern? Over.«
»Ja. Over.«
»Das C-Team nähert sich dem Eingang an der Nassau Street. Over.«
Ich paddelte zum Gebäude und sah an der senkrechten schwarzen Wand hinauf.
»Das D-Team hat seine Position am südöstlichen Treppenhaus eingenommen. Over.«
Das Wasser reichte bis zur Hälfte des Erdgeschosses. Als ich mich vorsichtig hinstellte, begann das Kajak bedenklich zu schwanken.
Ich reckte den Arm in die Höhe und schloss die Finger um einen vertikalen Metallträger, der die Fensterflächen voneinander trennte. Dieser knapp acht Zentimeter breite Streifen aus aufgerautem schwarzen Aluminium war das Einzige, woran ich mich festhalten konnte.
Ich zog mich nach oben, umfasste den Träger mit beiden Händen und stemmte mich mit den Füßen an den kalten Glasscheiben ab. Dann hob ich die linke Hand, schloss die Finger erneut um den Träger und wiederholte die Prozedur.
Beim dritten Durchgang erreichte ich den ersten horizontalen Haltegriff – eine schmale Lippe am unteren Rand der Fensterscheibe im ersten Stock. Es war nicht viel, aber immerhin konnte ich die Finger in einen anderthalb Zentimeter breiten Spalt schieben und meine Trizepse ausruhen.
»Das A-Team hat seine Position am nordwestlichen Treppenhaus eingenommen. Over.«
»Das C-Team hat seine Position am nordöstlichen Treppenhaus eingenommen. Over.«
»An alle Teams«, meldete sich Noyes. »Warten Sie auf weitere Kommandos. Over.«
Ich kletterte weiter, Hand über Hand, den vertikalen Träger hinauf. Ich wusste, dass ich seit den Upgrades kräftiger war, hatte meine Muskeln aber noch nie so sehr auf den Prüfstand gestellt. In meinem früheren Leben hätte ich nicht ein einziges Stockwerk dieses Gebäudes erklimmen können, doch nun waren die ersten drei Etagen kein Problem für mich.
Im vierten Stock bemerkte ich erste Anzeichen von Erschöpfung.
Noyes’ Stimme drang aus meinem Ohrhörer: »Wie läuft’s, Logan? Over.«
»Bislang habe ich vier Stockwerke geschafft«, presste ich hervor. »Ich muss mich jetzt konzentrieren. Out.«
Ich warf einen Blick nach unten und drängte eilig jenen Teil meines Bewusstseins in den Hintergrund, der angesichts der Übelkeit erregenden Distanz zwischen mir und dem winzigen Kajak aufschreien wollte. Einen Moment später streckte ich erneut den Arm aus, packte den vertikalen Träger und ging auf den Fußballen vom sechsten zum siebten Stock hinauf.
Schweiß rann mir vom Rücken bis zu den Beinen hinab und tropfte mir von den Fersen. Während ich mich ein weiteres Mal an den unbarmherzigen, anderthalb Zentimeter hohen Sims klammerte, begannen mein Gastrocnemius und der Soleus (die Wadenmuskulatur) zu zittern. Mein Glukosevorrat, der meine Muskeln mit Energie versorgte, war gefährlich niedrig und bewirkte eine Hypoglykämie. Meine Trizepse und Brustmuskeln brannten zwar, aber sie waren nicht das eigentliche Problem, sondern meine Finger. Schon bald würde ich nicht mehr genug Kraft in ihnen haben, um mich an dieser Wand festzuhalten. Der Schmerz bereitete mir keine Sorgen. Den konnte ich ausblenden. Doch irgendwann – Schmerz hin oder her – würden meine Fingermuskeln und -sehnen einfach den Dienst verweigern.
Ich sah erneut nach unten.
Ich würde siebenunddreißig Meter fallen und in einem zwei Meter tiefen Gewässer landen. Mit meinen vierundachtzig Kilogramm würde ich 2,75 Sekunden lang unterwegs sein, auf 96,95 km/h beschleunigen und mit 30 458 Joule Energie aufprallen. Wahrscheinlich würde ich es nicht überleben, da die zwei Meter hohe Wasserschicht nicht verhindern konnte, dass ich in beträchtlichem Tempo auf den überfluteten Gehsteig knallte.
Ganz sicher würde ich mir die Beine brechen und höchstwahrscheinlich ertrinken.
Ich sah an der Fassade des Gebäudes hoch, die mit dem Nachthimmel zu verschmelzen schien. Ich hatte gehofft, es bis zum neunten Stock hinaufzuschaffen, doch daraus würde nichts werden.
Ich hielt mich, von Muskelkrämpfen geschüttelt, mit einer Hand am Gebäude fest, holte mit der anderen eine C-4-Sprengladung aus dem Rucksack und zog mit den Zähnen vorsichtig die Abdeckung des Klebestreifens ab.
Als Nächstes stellte ich den Timer an der Zündkapsel auf dreißig Sekunden ein. Ich hätte mir gern mehr Zeit gegönnt, um weiter von dem Sprengsatz wegklettern zu können, doch ich spürte, dass ich mich höchstens noch eine Minute an der Fassade festhalten konnte.
Ich startete den Timer und klebte die Ladung an die untere Hälfte der Fensterscheibe im achten Stock. Bis zu diesem Moment hatte ich mein Adrenalin zurückgehalten, wohlwissend, dass ich es am Ende meiner Kletterpartie noch dringend benötigen würde. Nun ließ ich meine Angst zu. Kalte Panik durchflutete mich und mit ihr das Adrenalin, das verhindern würde, dass ich abstürzte.
Ich kletterte vier Meter hinab und klammerte mich mit beiden Händen am Fenstersims des siebten Stockwerks fest.
Die Detonation schleuderte mich fast vom Gebäude weg, und ich merkte, wie meine Finger abzurutschen begannen. Doch irgendwie gelang es mir, nicht loszulassen, während die Glassplitter auf mich herabregneten.
Ich reckte eine Hand zum vertikalen Träger hinauf und packte ihn so fest, dass ich fürchtete, meine Finger würden brechen. Schweiß rann mir übers Gesicht, und meine Augen brannten. Ich sah das klaffende Loch, das der Sprengstoff in die Fassade gerissen hatte. Ein verborgener Metallträger ragte waagerecht aus dem Gebäude. Er sah wie ein idealer Haltegriff aus. Ich vertraute jedoch lieber weiter auf den vertikalen Träger. Schließlich befand ich mich auf Höhe der Öffnung. Mit der linken Hand umklammerte ich so fest ich konnte den Träger und schwang mich hinüber. Als ich mit der rechten Hand den Rand des Lochs packte, schnitt ich mir am Glas den Unterarm auf. Meine Füße baumelten über dem Abgrund.
In diesem Moment war ich mir sicher, dass ich abstürzen würde.
Verzweifelt stieß ich den linken Arm in die Öffnung und tastete nach irgendwas, an dem ich mich festhalten konnte. Schließlich bekam ich etwas zu fassen, das sich wie ein Tischbein anfühlte.
Es war der erste echte Haltegriff, seit ich das Kajak verlassen hatte. Ich zog mich daran über die Kante und wälzte mich in den dunklen Raum dahinter.
Einen Moment lang lag ich keuchend auf dem Boden – meine überstrapazierten Beine, Arme und Hände bebten vor Erschöpfung. Nach dreißig Sekunden setzte ich mich auf und inspizierte meinen verletzten Unterarm. Acht Glassplitter steckten in meinem rechten Brachioradialis – zwei von ihnen hatten sich tief in den Muskel gebohrt. Ich riss einen langen Streifen Panzerband von der Rolle in meinem Rucksack und klebte ihn an den Schreibtisch. Dann begann ich, die Splitter zu entfernen. Blut floss meinen Arm herab. Als die Schmerzen mich zu überwältigen drohten, unterdrückte ich sie. Schließlich zog ich die letzte und längste Scherbe heraus, drückte behutsam die Wundränder zusammen und umwickelte meinen Unterarm komplett mit Panzerband. Hoffentlich würde diese Notlösung halten, bis ich die Schnitte ordentlich vernähen konnte.
Während ich meine Socken und Schuhe wieder anzog, fragte ich mich, ob in den Etagen über mir irgendwer die Explosion gehört hatte.
Bei dem Raum, in dem ich saß, schien es sich um eine Art Bibliothek zu handeln. Die Wände waren mit Regalen voller Gesetzesbände gesäumt. Ich stand auf, schulterte den Rucksack und trat um einen staubigen Besprechungstisch herum in den Flur hinaus.
Vor der Tür setzte ich meine Nachtsichtbrille auf. Direkt vor mir stand eine Empfangstheke. Ich ging an einer Reihe abgeschalteter Fahrstühle vorbei zur Nordseite des Gebäudes.
Das Labor befand sich fünfundzwanzig Stockwerke über mir, und ich konnte mich zwischen vier Aufgängen entscheiden.
Ich bog nach links ab und steuerte auf das nordöstliche Treppenhaus zu.
Seit ich mich an den Aufstieg gemacht hatte, waren siebzehn Minuten und neunundzwanzig Sekunden vergangen. Ein paar Meter vor dem Ziel zückte ich meine Five-seveN.
Dann öffnete ich langsam die Tür.
Dahinter war es so stockfinster, dass nicht mal der Restlichtverstärker meiner Nachtsichtbrille funktionierte. Ich ging in das nächstgelegene Büro und nahm ein Heftgerät vom Schreibtisch. Mein Telefon summte. Edwin rief an.
»Hey«, sagte ich.
»Wo sind Sie?« , antwortete er in einem merkwürdigen Tonfall.
»Warum?«
»Sind Sie im Gebäude?«
»Ja.«
»Ein zweites Team ist dorthin unterwegs.«
»Wozu?«
»Sie werden auf dem Dach landen und …«
»Nein, das müssen Sie verhindern.«
»Mir wurde gerade mitgeteilt …« Edwin senkte die Stimme. »… dass ich diese Operation nicht länger leite.«
»Wie kann das sein?«
»Als Sie in Virginia waren …« Er meinte meine Gefangenschaft in einer gläsernen Zelle. »… haben wir Videoaufnahmen gemacht. Die sind Leuten in die Hände geraten, die in der Hierarchie weit über mir stehen. Ich dachte, wenn wir nicht lange zögern, könnten wir unter dem Radar bleiben. Anscheinend habe ich mich getäuscht. Ich hatte keine Ahnung, dass die mich beobachten.«
Er sprach mit Sicherheit vom Verteidigungsministerium. Hatten sie die ganze Zeit nach Kara und mir gesucht? Upgegradete Soldaten waren etwas, wovon die DARPA träumte. Und in gewisser Hinsicht eine sogar noch beängstigendere Vorstellung als Karas Plan. Meine Schwester wollte wenigstens jeden upgraden und so unserer gesamten Spezies helfen. Unsere Regierung würde dagegen vermutlich einen weniger egalitären Ansatz wählen.
»Sie werden hart zuschlagen.«
»Wer?«
Keine Antwort.
»Sagen Sie mir, mit wem ich es zu tun bekomme, Edwin.«
»Mit der JTF -Black.«
Verdammt. Er sprach von der im Inland stationierten Joint Task Force, die sich aus ehemaligen Mitgliedern von Delta, SEAL Team Six, Army Special Operations, Marine Raiders und Bundespolizisten aus Einheiten wie dem FBI HRT zusammensetzte. Sie waren die absolute Elite.
»Man kann wohl davon ausgehen, dass die Sie und Ihre Schwes ter lebend haben wollen«, fuhr Edwin fort. »Und was immer Ihre Schwester zusammengebraut hat – ich will, dass Sie wissen, dass ich Sie nicht verraten habe, Logan. Ich hatte keine Ahnung …«
»Wie viele?«
»Normalerweise bestehen deren Teams aus acht Leuten.«
»Was ist mit dem SWAT -Team? Sie schienen damit einverstanden …«
»Die arbeiten nicht mehr für Sie. Tut mir leid. Die JTF -Black trifft in sechs Minuten ein. Was immer Sie vorhaben, machen Sie schnell und verschwinden Sie dann von dort.«
Die Verbindung brach ab.
Fünf Sekunden später drang eine weitere Stimme aus meinem Ohrhörer.
»Logan, hier spricht Noyes. Haben Sie es hineingeschafft? Was ist Ihre Position? Over.«
Ich hörte den verräterischen Unterton in seiner Stimme. Sie klang wie Honig. Ich riss den Ohrstöpsel raus und warf ihn zusammen mit der Sender-Empfänger-Einheit über die Schulter.
Dann öffnete ich erneut die Tür zum Treppenhaus und klemmte das Heftgerät in den Spalt. Ich leuchtete mit der Taschenlampe nach oben, schaltete sie jedoch gleich wieder aus, da ich sechs Stockwerke unter mir Schritte und Noyes’ Stimme hörte.
»Ich glaube, er hat uns durchschaut. Außerdem sind wir gerade …« Die nächsten Worte verstand ich nicht. »… zweiter und dritter Stock. Wir gehen runter und suchen nach einem anderen Weg.«
Sobald sie sich wieder in Bewegung setzten, stellte ich die Taschenlampe erneut an und ging so leise wie möglich die Treppe hinauf.
Als ich im vierzehnten Stock den Treppenabsatz überquerte, wackelte das Gebäude. In der Ferne erklang ein Geräusch, das mich an Donner erinnerte. Im Strahl der Taschenlampe tanzten Staubflusen. Ich blicke nach unten, wo ich weder Feuer sah noch Schreie hörte. Die Explosion hatte in einem anderen Treppenhaus stattgefunden. Spätestens jetzt wusste Kara, dass wir hier waren.
Ich rannte die Stufen hinauf.
16.
17.
18.
19.
Vier Minuten, bis die JTF -Black auf dem Dach landen würde. Wie gut ausgerüstet sie auch sein mochten – gegen Karas upgegradete Special-Forces-Typen hatten sie nicht den Hauch einer Chance. Und noch schlimmer war, dass das bevorstehende Chaos mich aufhalten und Kara die Flucht erleichtern würde.
23.
24.
25.
Ein seltsamer Geruch stieg mir in die Nase.
War das Teer?
26.
Über mir glitzerte etwas im Lichtstrahl. Ich lief langsamer und blieb schließlich auf dem Absatz zwischen der 27. und der 28. Etage stehen.
Hier war der Geruch stärker.
Zwischen den Treppengeländern und vom Boden bis zur Decke war Stacheldraht mit rasiermesserscharfen Schneiden gespannt, wie eine Weihnachtsdekoration aus der Hölle. Soweit ich es erkennen konnte, reichte der Draht bis zum nächsten Stockwerk.
Nun erkannte ich, was ich roch: Keine zwei Meter von mir entfernt stand auf dem Treppenabsatz eine olivgrüne Landmine in einem Haltegestell. An dem Gestell waren Drähte befestigt, die unter der Tür hindurch ins 29. Stockwerk verliefen. Die explosive Seite der ferngesteuerten Mine war mir zugewandt. Sie enthielt ungefähr anderthalb Pfund C-4-Sprengstoff und siebenhundert Stahlkugeln und war mit der Anweisung Vorderseite zum Feind beschriftet.
Ich drehte mich um, rannte los und sprang zum nächsten Treppenabsatz hinunter, von wo ich weiter treppab rannte, bis ich die Tür zum fünfundzwanzigsten Stock erreichte.
Sie war abgeschlossen.
Ich zog einen weiteren Türsprengsatz aus meinem Rucksack, klebte ihn neben den Türgriff, stellte den Timer auf zwanzig Sekunden und rannte weiter hinunter bis zum dreiundzwanzigsten Stock.
Nach der Detonation, deren Druckwelle mir kurzzeitig den Atem raubte, kehrte ich in den fünfundzwanzigsten Stock zurück. Die Tür war fünf Meter weit in den Raum dahinter geschleudert worden. Als ich durch den zertrümmerten Rahmen trat, tränten mir die Augen vom dichten Teer- und Motorölrauch, der nach der Sprengung des C-4 in der Luft hing.
Außerhalb des Treppenhauses konnte ich wieder ohne Taschenlampe sehen. Dieses Stockwerk enthielt größtenteils offene Arbeitskabinen sowie ein paar Büros und Konferenzräume entlang der Außenwände. Ich lief zum nordöstlichen Treppenhaus und öffnete die Tür. Der Strahl der Taschenlampe durchbohrte eine dichte Rauchwolke. In diesem Treppenhaus hing der widerlich süßliche Gestank von verschmortem Fleisch.
Vier Stockwerke über mir sah ich noch mehr Stacheldraht schimmern.
Ich rannte zwischen den Büroverschlägen hindurch.
Im südöstlichen Treppenhaus hing kein Rauch, doch ich hörte Stimmen von unten und ein paar Stockwerke über mir war ebenfalls Stacheldraht gespannt.
Während ich zum letzten Treppenhaus rannte, wunderte ich mich über Karas Planung. Die tödlichen Barrikaden schützten sie zwar vor allen potenziellen Bedrohungen, aber was war mit ihrem Fluchtweg? Um aus dem Gebäude zu gelangen, würde sie sich durch diese Treppenhäuser nach unten kämpfen müssen. Und das Verteidigungsministerium – oder wer auch immer es auf uns abgesehen hatte – würde gewiss auch die Ausgänge bewachen lassen. Und sei es nur von versteckten Scharfschützen.
Dieses Problem betraf auch mich.
Was war Karas alternative Fluchtroute? Ein Aufzugschacht? Irgendeine geheime Treppe, die nicht in den Bauplänen verzeichnet war? Wenn sie sich keinen Ausweg freigelassen hatte oder ich ihn nicht rechtzeitig fand, würde sich dieser Einsatz als Selbstmordmission erweisen.
Zwei Minuten noch – wenn Edwin die Wahrheit gesagt hatte – bis zur Ankunft der JFT -Black.
Ich betrat das südöstliche Treppenhaus.
Kein Rauch, keine Geräusche und ich sah auch keinen Draht über mir.
Ich rannte die Stufen hinauf, am 27. Stock vorbei.
28.
29.
Irgendwo im Gebäude erklangen Schüsse – eine Salve aus einer automatischen Waffe. Und dann eine weitere Explosion, diesmal nicht über oder unter mir, sondern auf meiner Höhe.
Ich stieg weiter hinauf.
30.
31.
Das Labor befand sich nur noch zwei Stockwerke über mir. Ich suchte alles genauestens ab, doch ich konnte keine Drähte oder Sprengsätze erkennen.
Licht drang durch den Spalt unter der Tür zum 32. Stock. War sie ebenfalls mit einer Sprengfalle versehen? Ich presste die Nase an die Türkanten und schnupperte, konnte aber weder Teer noch Motoröl riechen.
Die JTF -Black würden binnen einer Minute landen.
Ich packte den Türgriff und versuchte, ihn zu drehen.
Abgesperrt.
Einen weiteren Sprengsatz konnte ich nicht verwenden, da ich nicht auf mich aufmerksam machen wollte.
Aber vielleicht war das auch gar nicht nötig. Da dies eine Feuertreppe war, musste die Tür von innen im Notfall problemlos zu öffnen sein. In der Regel sorgten dafür passive Infrarotsensoren, die Temperaturveränderungen in der näheren Umgebung erfassten. Wenn der Sensor eine – mutmaßlich durch eine herannahende Person verursachte – Veränderung erkannte, übermittelte er einen Impuls, der die Tür entriegelte.
Wohlgemerkt ging es nicht zwangsläufig um eine Erhöhung, sondern nur um eine Veränderung der Umgebungstemperatur.
Ich durchwühlte meinen Rucksack und fand die Dose mit Druckluft. Ich riss die Verpackung auf, schob den Plastikstrohhalm in die Düse, kniete mich hin und hoffte, dass der Abstand zwischen der Türschwelle und der Unterkante des Türblatts groß genug war.
Nach kurzem Suchen entdeckte ich eine Scharte in der Schwelle, durch die sich der Strohhalm zwängen ließ.
Ich drückte den Sprühknopf. Während die Dose immer kälter wurde, lauschte ich, wie auf der anderen Seite der Tür eine stark komprimierte Flüssigkeit aus dem Strohhalm entwich und sich zu einem Gas ausdehnte.
Der thermodynamische Prozess der adiabatischen Kühlung würde die Umgebungstemperatur auf der anderen Seite der Tür absenken und dem hoffentlich vorhandenen Infrarotsensor vorgaukeln, dass sich jemand von der anderen Seite näherte.
Ich nahm die Nachtsichtbrille ab, stand auf und umfasste ein weiteres Mal den Türgriff.
Diesmal ließ er sich drehen.
Mir kam der Gedanke, dass es noch einen zweiten Sensor geben könnte, der einen Alarm auslöste, wenn sich die Tür öffnete – möglicherweise in Form einer Handynachricht an Kara und ihr Sicherheitsteam.
Doch falls dem so war, würde ich nichts dagegen unternehmen können. Ich hatte keine Zeit mehr.
Als ich vorsichtig die Tür aufschob, hörte ich über mir Maschinengewehrfeuer, gefolgt vom tieferen Krachen einer Kettenkanone.
Und dann einen lauten Knall.
Ich rannte mit erhobener Pistole in einen von weißen Neonlampen hell erleuchteten Korridor. Zu meiner Linken erregte etwas meine Aufmerksamkeit.
Ich wandte gerade rechtzeitig den Kopf, um einen brennenden Black Hawk an der Scheibenfront vorbeistürzen zu sehen. Die Rotoren drehten sich noch und zerhäckselten die Fassade des Gebäudes zu einer Wolke aus Glasscherben und zerfetztem Metall. Die Piloten im Cockpit schrien. Dann waren sie verschwunden.
3,8 Sekunden später erschütterte eine Explosion das Gebäude. Der Helikopter war auf der Cedar Street aufgeschlagen.
Ich lief weiter durch den Korridor, an Räumen voller Liegen und medizinischer Ausrüstung vorbei, und fragte mich, ob Karas Testgruppe hier das experimentelle Upgrade verabreicht bekommen hatte.
Auf der anderen Seite der Aufzüge sah ich einen Bioreaktor aus rostfreiem Stahl.
Glasröhrchen.
Zentrifugen.
Ich schlich in das weitläufige Labor, das die gesamte östliche Hälfte des zweiunddreißigsten Stocks einnahm. Es wirkte verlassen. War Kara etwa bereits verschwunden?
An der gegenüberliegenden Wand surrten Serverschränke leise vor sich hin, und hinter einer Metalltür summten die Generatoren, die das alles mit Strom versorgten.
Ich ging an drei Gefrierschränken vorbei.
Neben dem beißenden Lösungsmittelgeruch nahm ich einen vertrauten Duft wahr – er stammte von dem Shampoo, das Kara im Haus unserer Mutter in Colorado benutzt hatte.
Hinter der nächsten Ecke erklang ein leises Klirren. Ich holte einen weiteren Sprengsatz aus dem Rucksack, stellte den Timer auf drei Sekunden und lugte um die Wand herum.
Kara stand mit dem Rücken zu mir an einem Bio-Sicherheitsschrank und stopfte hektisch Autoinjektoren in einen kleinen Rucksack. Neben ihr stand Madeline Ortega. Trotz ihrer Überraschung richtete sie sofort ihre H&K MP 7 auf mich.
Ich riss gerade noch rechtzeitig den Kopf zurück, ehe eine Salve panzerbrechender 4,6x30 mm-Geschosse die Wand zerfetzte. Da ich Madeline auf mich hatte zukommen sehen, stellte ich den Timer scharf und ließ den Sprengsatz fallen. Dann rannte ich ebenfalls los.
Drei.
Zwei.
Kurz vor den Aufzügen warf ich einen Blick zurück.
Eins.
Ortega bog um die Ecke und hob die Mündung der H&K.
Sie verschwand in einem gleißenden Lichtblitz.
Während ich zu den Aufzügen lief, rannte Kara den Korridor auf der Nordostseite des Stockwerks entlang.
Wohin wollte sie?
Im nordöstlichen Treppenhaus konnte sie nicht bis ins Erdgeschoss gelangen. Genauso wenig im südwestlichen oder nordwestlichen. Sie waren alle zwischen dem neunundzwanzigsten und dem einunddreißigsten Stockwerk verbarrikadiert. Kara blieb nur, das südöstliche Treppenhaus bis in den fünfundzwanzigsten Stock und dann das nordöstliche bis zum fünften zu nehmen. Dort angekommen, musste sie zum südöstlichen Treppenhaus laufen, dem einzigen, in dem das SWAT -Team in den ersten sechs Stockwerken weder Stacheldrähte noch Landminen gesichtet hatte.
Wenn sie nach unten wollte, würde ich am besten im südöstlichen Treppenhaus auf sie warten. Doch ich glaubte nicht, dass sie das wirklich vorhatte. Schließlich wusste sie, dass die vier Ausgänge von Soldaten bewacht wurden.
Doch wenn sie nach oben lief, würde sie sich nur in eine Sackgasse manövrieren …
Nein. Verdammt . Natürlich. Sie war tatsächlich nach oben unterwegs. Mit einem Mal wusste ich, wohin sie wollte und was sie vorhatte. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, um ihren Plan zu vereiteln.
Ich drehte mich um, sprang über Madeline Ortegas sterbliche Überreste und rannte zur Südwestecke des Gebäudes.
Als ich noch rund zehn Sekunden vom Treppenhaus entfernt war, explodierte die Tür.
Während um mich herum alles langsamer wurde, trat Noyes aus der Rauchwolke und riss die Augen auf.
Brandes hob sein Sturmgewehr.
Ortegas Blut lief an den Wänden herab.
Ich hätte die beiden in weniger als einer Sekunde ausschalten können, doch ich wollte sie nicht töten. Sie waren Cops, die mitten in der Nacht aus ihren Betten gerissen worden waren und keine Ahnung gehabt hatten, in was sie hineingeraten würden.
Ich rannte noch immer auf die Tür zu. Seit die Explosion sie aus den Angeln gerissen hatte, war eine halbe Sekunde vergangen. Vor meinem geistigen Auge tauchte der Grundriss des dreiunddreißigsten Stockwerks auf. Vor mir musste ein Gang liegen, der die Etage in der Mitte teilte.
Brandes legte an, zögerte kurz und zielte auf meine Beine. Noyes zog eine X-30 aus seinem Hüftholster – eine nicht tödliche Waffe mit Taser-Geschossen.
Ich täuschte eine Bewegung nach links an und sah, wie Brandes und Noyes überreagierten. Das Mündungsfeuer des Sturmgewehrs entfaltete sich wie eine Blume aus Flammen, die Geschosse harkten die Wand. Während die beiden Männer wegen des Rückstoßes ein wenig aus dem Gleichgewicht gerieten, stürmte ich nach rechts in den anderen Gang.
Das war knapp gewesen.
Die Neonröhren flackerten.
Vier Türen auf der linken, vier auf der rechten Seite.
Die ersten beiden führten in ein Büro beziehungsweise in eine Abstellkammer. Ich rannte durch die dritte in einen Pausenraum und verharrte unmittelbar hinter der Türschwelle.
Zwei runde Tische. Eine kleine Küche. Ein Wasserkühler. Der Geruch von altem, verbranntem Kaffee und etwas, das in einem Mülleimer vergammelte.
Ich hörte Schritte.
Eine Tür wurde aufgemacht und wieder geschlossen.
Dann eine weitere.
»Wir haben Logan im dreiunddreißigsten Stock gesichtet«, sagte Noyes. »Kommen Sie rauf, wenn Sie können. Wir halten ihn so lange hin.«
Ihre Tyvek-Anzüge knisterten.
Sie waren inzwischen in unmittelbarer Nähe.
»Ziel auf diese Tür, ich mache sie auf«, sagte Brandes. Dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, checkten sie einen Raum auf der anderen Seite des Gangs, was bedeutete, dass sie mit dem Rücken zu mir standen.
Ich rannte aus dem Pausenraum.
Mein Bewusstsein spaltete sich auf.
Ich hatte sie auf dem falschen Fuß erwischt. Noyes drehte sich unendlich langsam zu mir um. Ich streckte den Arm nach ihm aus, griff aber nicht nach der Waffe, sondern seinem Abzugsfinger und brach ihn, während er mich anvisierte. Brandes, der weit hinter den Geschehnissen her hinkte, riss entsetzt die Augen auf. Noyes kreischte, als ich die X-30 packte, mich unter seinem Schwinger wegduckte und ihm aus nächster Nähe in eines seiner ungeschützten Beine schoss. Während er sich zusammenkrümmte, wich ich Brandes hektisch abgefeuertem Schuss aus und schoss ihm ebenfalls ins Bein. Die elektrischen Geschosse verursachten eine Art Kurzschluss in den Körpern der beiden Männer, sodass sie heftig zuckend zu Boden fielen. Ich zog ein paar Kabelbinder aus dem Bündel an Noyes’ Hüfte, fesselte die beiden damit an Händen und Füßen und hoffte, dass ich noch genügend Zeit hatte, um Kara abzufangen.
Im südöstlichen Treppenhaus hing dichter Rauch.
Ich schaltete die Taschenlampe ein und rannte die Stufen hinauf.
Als ich den Absatz zwischen der fünfunddreißigsten und der sechsunddreißigsten Etage erreichte, flog anderthalb Stockwerke über mir die Tür zur achtunddreißigsten auf. Ich verbarg mein Licht und sah, wie ein zweiter Taschenlampenstrahl die Wände bestrich, während meine Schwester schnell wie der Blitz nach oben rannte.
Ich folgte ihr vorsichtig und hörte, wie quietschend eine Tür aufging.
Ihr Licht verschwand.
Ich war mir sicher, dass sie das Treppenhaus im vierzigsten Stock verlassen hatte. Als ich ebenfalls hinaustrat, schlug gerade die Tür zum nordwestlichen Treppenhaus zu.
Schwitzend rannte ich quer durch die Etage, vorbei an leeren Büros, einem Kopierraum und den Toiletten.
Als ich die Tür zum nordwestlichen Treppenhaus aufzog, hörte ich Kara über mir die Stufen hochhasten. Der Strahl ihrer Taschenlampe tanzte über die Wände. Diesmal lief ich ihr nicht hinterher. Stattdessen lauschte ich ihren Schritten und zählte die Stockwerke, die sie passierte.
41.
42.
43.
Ich hörte eine Tür aufschwingen und wieder zufallen. Sie hatte das Treppenhaus im dreiundvierzigsten Stock verlassen und damit ihr Ziel erreicht.
Ich rannte an der Glasfassade entlang zum nordöstlichen Treppenhaus. Während ich zum dreiundvierzigsten Stock hinaufstieg, vernahm ich über mir Stiefelschritte und zwei Stimmen.
Waren das Mitglieder des JTF -Black-Teams, die sich rechtzeitig aus dem Helikopter hatten retten können? Ich hoffte es, denn an Karas Leute wollte ich auf keinen Fall geraten …
Ich hörte genauer hin.
Zwei Männer, die ein bisschen zu schnell sprachen.
Einer sagte: »… auf euch auf. Wir treffen euch dort. Ja, uns wird nichts passieren.«
Ich kannte diese Stimme. Ich hatte sie ein paar Stunden zuvor in einem Videoclip in den sozialen Medien gehört, in dem Deshawn Brown den Geburtstag seiner jüngsten Tochter gefeiert hatte. Dann musste die andere Stimme Rodney Viana gehören, dem glücklich verheirateten Cop aus Ohio.
Ich dachte darüber nach, ob ich sie ausschalten konnte. Wahrscheinlich würde ich bestenfalls einen von ihnen töten können, bevor der andere mich kaltmachte. Mit ihrer Ausbildung waren sie mir gegenüber klar im Vorteil.
Ich beschloss, es nicht zu versuchen.
Ich schaltete die Taschenlampe aus und verlangsamte meine Zeitwahrnehmung.
Erneute Stiefelschritte, zwei verschiedene Kadenzen, der leichtere, kleinere Mann hatte die Führung übernommen.
Ihr Geruch eilte ihnen voraus – Salz und der Hauch irgendeines Rasierwassers (war das Old Spice?), unterlegt mit dem beißenden Gestank von Schießpulver von einem nicht lange zurückliegenden Schusswechsel.
Die Strahlen ihrer Taschenlampen strichen über die Wände.
Ich stand auf dem Absatz unter dem zweiundvierzigsten Stock und ließ vor meinem inneren Auge ein perfektes Bild der näheren Umgebung entstehen.
Sie waren fünfzehn Sekunden von mir entfernt.
Ich stieg in der Finsternis die Stufen zum zweiundvierzigsten Stock hinauf, schwang mich über das Geländer und ließ mich von der zweitobersten Stufe baumeln, wo mich die beiden beim Hinuntergehen nicht sehen konnten.
Sie befanden sich zwei Stockwerke über mir. Einen Moment später passierten sie den Absatz zwischen der dreiundvierzigsten und der zweiundvierzigsten Etage.
Dann waren sie im zweiundvierzigsten Stock. Einer ihrer Stiefel setzte nur wenige Millimeter neben meinen Fingern auf, die sich am Rand der Stufe festklammerten. Sie gingen zum Absatz zwischen dem zweiundvierzigsten und dem einundvierzigsten Stock hinunter. Als sie beide Taschenlampen einen Moment lang auf den Boden richteten, zog ich mich hoch und schwang die Beine über das Treppengeländer, sodass ich außer Sicht war, als sie unter den Stufen hindurchgingen.
Während ich mich vom Geländer auf die Treppe sinken ließ, zuckte ein Taschenlampenstrahl auf mich zu. Hatte einer von ihnen mich gehört?
Ich glitt geräuschlos die Stufen hinab und sah zu, wie das Licht über die Stelle strich, an der ich mich gerade eben noch befunden hatte. Ich presste mich so flach wie möglich an die Wand und hielt den Atem an.
Ihre Schritte entfernten sich weiter treppab, einen Moment später waren ihre Lichter nicht mehr zu sehen.
Ich wartete zur Sicherheit noch einen Augenblick ab und malte mir aus, wie sie die Stufen hinabstiegen …
Plötzlich brach Geschrei aus. Acht Stockwerke unter mir erhellte Mündungsfeuer das Treppenhaus. Sie waren auf irgendjemanden gestoßen. Ich sprang auf und rannte zum dreiundvierzigsten Stock hoch. Die Tür war abgesperrt. Ich holte einen Sprengsatz heraus, stellte den Timer auf zehn Sekunden und rannte zum zweiundvierzigsten Stock zurück.
Die Tür explodierte.
Ich eilte wieder in den dreiundvierzigsten Stock und durch den nun offenen Ausgang.
Die Etage war abgesehen von den Aufzügen und den Treppenhäusern komplett leer. Offenbar war sie während der Überflutung gerade renoviert worden. Die Wasserrohre waren freigelegt, und von der Decke hingen Stromkabel.
Auf der anderen Seite kauerte eine Gestalt.
Ich blickte zum aufgesprengten Eingang des nordöstlichen Treppenhauses zurück. Niemand war mir gefolgt.
Elf Sekunden bis zu Kara.
Sie machte irgendetwas an ihrem Rücken fest. Als sie mich bemerkte, sprang sie aus ihrer geduckten Haltung auf und rannte auf ein zehn Meter entferntes Fenster zu, in dem die Scheibe fehlte.
Ich blieb dreißig Meter weit weg an den Aufzügen stehen und teilte mein Bewusstsein auf. Als sich meine Zeitwahrnehmung verlangsamte, nahm ich die Schmerzen in meinen Fingern wahr, hörte die Schüsse, die ein paar Stockwerke unter uns noch immer von den Wänden widerhallten, spürte den Wind, der durch das offene Fenster vom New York Harbor hereinwehte, sah in der Ferne die Lichter von Jersey City und war einen Moment lang schrecklich traurig über das, was ich nun tun würde.
Ich spaltete dieses Gefühl ab, hob meine Pistole und richtete sie auf Karas rechtes Bein. So langsam, wie sie sich bewegte, würde ich es auf keinen Fall verfehlen.
Ich schoss. Sie fiel und schlitterte über den Boden auf das offene Fenster zu. Als ich zu ihr sprintete, wälzte sie sich auf den Rücken und zielte ebenfalls mit einer Pistole auf mich. Ihr Finger bewegte sich Richtung Abzug.
Ich feuerte erneut, traf Kara in die Brust und sah zu, wie sie zurückgeschleudert wurde. Die Pistole fiel ihr klappernd aus der linken Hand.
Als ich Kara erreichte, griff sie gerade danach. Ich trat die Pistole von ihr weg. Sie schlitterte über den Betonboden und aus dem offenen Fenster hinaus.
Karas Bein blutete. Außerdem war offenbar ihr rechter Lungenflügel durchbohrt. Bei jedem keuchenden Atemzug bildete sich blutiger Schaum in ihren Mundwinkeln. Ich bog die Finger ihrer rechten Hand auf. Sie umklammerten ein schwarzes Stoffbündel, das mit einer in Schlingen zusammengelegten Schnur an ihrem Rucksack befestigt war.
Sie sah mich an. Ich durfte den Schmerz, der in ihrem Blick lag, nicht an mich herankommen lassen.
»Lagern in deinem Labor noch Reste des viralen Upgrades?«, fragte ich sie. »Irgendetwas, das die Behörden an sich bringen und …?«
»Ja, aber das Labor wird nicht mehr lange existieren.«
»Wie lange noch?«
Sie sah ihre Armbanduhr an. »Noch zweiundneunzig Sekunden.«
Ich löste die Bein- und Brustriemen. Kara wimmerte, als ich sie herumwälzte und die Schultergurte abstreifte. Vorsichtig zog ich ihr das gesamte Gurtzeug an den Beinen herab. Den Rucksack, den sie im Labor gepackt hatte, trug sie vor der Brust. Ich streifte ihn ihr von den Schultern und machte ihn auf. Er enthielt ungefähr hundert Autoinjektoren.
Anschließend untersuchte ich das Gurtzeug und den Fallschirmrucksack auf Beschädigungen, fand aber keine. Die Kugel steckte in Karas Oberkörper. Ich stieg in die Gurte und streifte mir den Fallschirm über. Dann zog ich die Beinriemen straff und schloss die Brustgurte. Die Schnur, die den Hilfsschirm mit dem Hauptschirm verband, hatte sich verheddert. Ich trat von Kara weg und entwirrte sie.
»Das wär’s dann also?«, stieß sie mühsam hervor. »Du lässt zu, dass wir uns weiter selbst zerstören?«
Ich legte den Hilfsschirm und die Verbindungsschnur neu zusammen. Wie das Ergebnis aussehen sollte, wusste ich, weil ich es vorhin kurz in Karas Hand und viele Jahre zuvor in einem mäßig interessanten Video über BASE -Jumper gesehen hatte.
Anschließend hob ich den Rucksack mit den Autoinjektoren auf und schnallte ihn mir vor die Brust. »Du kannst keine Menschen töten, um die Menschheit zu retten. Sie sind nicht nur Mittel zum Zweck.«
Kara sog scharf die Luft ein. »Logan.«
»Was?«
»Ich kann nichts sehen.«
Aus dem nordöstlichen Treppenhaus drangen Stimmen. Obwohl ich wusste, dass ich dringend losmusste, setzte ich mich hinter meine Schwester und schlang die Arme um sie.
»Behalte mich nicht so in Erinnerung«, sagte Kara. Sie zitterte heftig, und ich spürte, wie ihr warmes, nach Kupfer riechendes Blut mein Hosenbein durchtränkte. »Wir waren mehr als das.«
»Ich sehe dich nicht nur in diesem Augenblick, sondern in all unseren Momenten vor mir. Wir hatten ein paar sehr gute.«
»Achtzehn«, sagte sie.
»Was?«
Sie hustete Blut. »Wir hatten achtzehn perfekte gemeinsame Momente.«
Ich dachte darüber nach. »Neunzehn.«
»Wie kommst du auf neunzehn?«
»Dieser gehört dazu, auch wenn es mir leidtut, dass wir ihn erleben müssen.«
Kara weinte.
Ich wollte etwas sagen. Irgendwas Bedeutsames. Doch Kara kam mir zuvor. Sie langte hinter sich und berührte mein Gesicht. »Du kannst nicht nichts tun, Logan.«
Ich wollte ihr sagen, wie sehr ich sie vermissen würde. Wie leid mir all die Male taten, als ich den Hörer in die Hand genommen und sie dann doch nicht angerufen hatte. Dass ich nicht tiefer in ihr Leben involviert gewesen war. Doch die Worte blieben mir im Hals stecken.
Ihre Finger glitten von meiner Wange.
»Kara?«
Ich spürte, wie etwas aus ihr entwich.
Der Körper, den ich in den Armen hielt, war nicht mehr meine Schwester.
Ich ließ ihre Leiche auf den Betonboden sinken und schloss ihr die Augen. Ich sah Kara nicht als diese leere Hülle, sondern in einer perfekten Erinnerung vor mir. Sie war zwölf Jahre alt und fuhr mit ihrem Fahrrad auf einem Schotterweg vor dem Haus unserer Großeltern vor Max und mir her. Es war später Nachmittag, und sie rief im goldenen Sonnenlicht lachend zu uns zurück: Fangt mich doch! Schneller!
Ich stand mit der Pistole in der einen und dem Hilfsschirm in der anderen Hand auf und ging zu dem leeren Fensterrahmen. An der Kante blieb ich stehen und blickte nach unten.
Kara hatte diese Seite des Gebäudes ausgewählt, da der nächste Wolkenkratzer ein gutes Stück entfernt war. Ich ließ den Blick über den Vorplatz, den Broadway und den Zuccotti Park gleiten, der früher eine dreitausend Quadratmeter große Oase mitten im Financial District gewesen war. Heute ragten an dieser Stelle nur noch tote Bäume aus dem Wasser.
Vom Hafen wehte nach wie vor ein starker Wind heran. Ich würde mit hoher Geschwindigkeit abspringen müssen, um mich weit genug vom Gebäude zu lösen.
Ich nahm fünfzehn Meter Anlauf. Als ich mich wieder zum Fenster umdrehte und losrannte, zischte etwas an meinem Ohr vorbei.
Mehrere Leute in Schutzanzügen strömten aus dem nordöstlichen Treppenhaus. Ein Projektil schlug in meinen Rucksack ein, ein Betäubungspfeil. Ich trieb die Neuankömmlinge mit einer kurzen Salve auseinander.
Noch zehn Meter bis zum Fenster.
Vier.
Zwei weitere Pfeile bohrten sich in den Fallschirmrucksack.
Drei Meter.
Als ich an Kara vorbeirannte, wurde mir bewusst, dass ich sie nach diesem Moment nie mehr sehen würde.
Nur noch ein knapper Meter bis zur Fensterkante. Ich sprang ab und spaltete mein Bewusstsein auf …
Es war die eigenartigste Erfahrung meines bisherigen Lebens, mit einem gefühlten Viertel der normalen Geschwindigkeit zu fallen. Mein Magen hob sich, der Boden kam auf mich zu, der Wind peitschte mir ins Gesicht, und aus dem rechten Augenwinkel sah ich Mündungsfeuer auf dem Dach von One Liberty Plaza aufblitzen. Ein Scharfschütze.
Nachdem ich zwei der 6,18 Sekunden bis zum Straßenpflaster gefallen war, warf ich den Hilfsschirm vor mich. Er verschwand über mir. Ich raste weiterhin ungebremst auf die Plaza zu und fragte mich panisch, ob der Hauptschirm auslösen würde oder von den Pfeilen beschädigt worden war.
Mit einem Ruck wurde ich nach oben gerissen. Es ging noch immer abwärts, doch nach dem freien Fall, den ich gerade erlebt hatte, kam es mir vor, als würde ich horizontal gleiten. Hinter mir fielen Schüsse. Während ich über den Broadway und die aus dem Wasser ragenden Bäume des Zuccotti Park flog, sah ich erneut das Mündungsfeuer des Scharfschützengewehrs.
Ich hob die Hände und packte die beiden Griffe des Fallschirms. Ein Zug am linken bewirkte eine Linkskurve. Ich korrigierte mit dem rechten und schwebte in einer geraden Linie über die Mitte des Parks hinweg.
Hinter mir detonierten mehrere große Sprengsätze. Ich warf einen Blick zurück und sah eine Feuerwalze aus den Fenstern des dreiunddreißigsten Stocks schießen.
Trotz der Entfernung konnte ich die Hitze im Gesicht spüren. Glasscherben gingen auf die überflutete Plaza vor dem Gebäude nieder. Ich hoffte, dass niemand sonst bei den Explosionen umgekommen war, aber zumindest würden die offiziellen Stellen keine von Karas Entwicklungen in die Finger bekommen.
Gut gemacht, Schwesterherz.
Direkt vor mir war ein Gebäude. Ich vollführte eine leichte Linkskurve und glitt, mittlerweile in hundertzwanzig Metern Höhe, zwischen Wolkenkratzern über die Cedar Street. Der starke Wind riss am Stoff des Fallschirms.
Ich schwebte über eine weitere Freifläche. In der Ferne erblickte ich die Kuppel einer Kirche, die Lichtmasten und abgestorbenen Bäume des Liberty Park und dahinter den gewaltigen schwarzen Schatten des One World Trade Center.
Drei Meter über der überfluteten Straße holte ich tief Luft und zog am Trenngriff des Schirms.
Ich stürzte ins eiskalte Salzwasser und begann instinktiv sofort mit Schwimmbewegungen. Doch meine Ausrüstung war zu schwer, und ich versank wie ein Stein.
Nach wenigen Augenblicken berührten meine Absätze den Asphalt, und ich war komplett unter Wasser.
Obwohl es mir gelang, meine Panik zu unterdrücken, brauchte ich eine volle Minute, um mich aus den Schultergurten zu befreien. In völliger Finsternis schob ich die Riemen und Schnallen zu meinen Beinen. Während ich die Stiefel aus dem Gewirr zu ziehen versuchte, zuckten die ersten von Sauerstoffmangel verursachten Lichtblitze vor meinen Augen. Als ich es endlich geschafft hatte, riss ich mir noch die Jacke mitsamt der Panzerweste vom Leib, beugte die Knie und stieß mich von der Straße ab.
Einen Moment später durchbrach ich keuchend die Oberfläche.
Ein kurzer Rundumblick verriet mir, dass ich mich in der West Street befand. Vor mir ragte die Fassade eines Marriott-Hotels auf.
Ich schwamm in die Lobby zu einer geschwungenen Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Als ich sie erreichte, zog ich mich aus dem Wasser und legte mich schlotternd auf den Treppenabsatz.
Alles tat mir weh.
Ich habe meine Schwester getötet.
Immer wieder schossen mir diese Worte durch den Kopf. Ich versuchte, sie zu ignorieren, doch in meiner Brust baute sich ein unerträglicher Druck auf. Ich war mir nicht sicher, wie lange ich mich noch vor der Erkenntnis abschotten konnte, dass Kara tot war.
Ein Schrei entrang sich meiner Kehle.
Im Morgengrauen wachte ich auf.
Ich lag zusammengerollt an der Wand, hatte etwas mehr als eine Stunde geschlafen und befand mich am Rand einer Unterkühlung.
Ich setzte mich auf und schaltete mein Handy ein – achtzehn verpasste Anrufe von Edwin.
Er antwortete beim ersten Läuten. »Sie leben.«
»Gerade mal so.« Ich war nicht sicher, wer das Gespräch belauschte und ob bereits eine Fangschaltung aktiviert war.
»Ein Fluchtversuch bringt nichts«, sagte Edwin. Seine Stimme klang gepresst. Er zog eine Show ab, aber nicht für mich. »Wir haben Aufnahmen von Ihrem Gesicht. Sämtliche Strafverfolgungsbehörden fahnden nach Ihnen. Sie kommen niemals aus der Stadt raus.«
Ich verstand, worauf er hinauswollte. Er wusste, dass unser Telefonat abgehört wurde und er nicht den Anschein erwecken dufte, er würde mir helfen. Aber er warnte mich auch. Seien Sie vorsichtig. Die suchen nach Ihnen.
»Am besten treffen wir uns irgendwo, und ich nehme Sie fest.«
»Ich muss Ihnen zwei Dinge sagen«, erwiderte ich. »Danach werde ich auflegen. Erstens – behandeln Sie Nadine gut und seien Sie fair zu ihr. Zweitens – das Zeug, das ich Ihnen injiziert habe …«
»Ja?«
»Das war nur Kochsalzlösung.«
Bibbernd watete ich ins Wasser zurück und schwamm aus dem Hotel hinaus. Draußen kletterte ich auf einen toten Baum und suchte mir einen bequemen Platz in den Ästen, um mich von der Morgensonne aufwärmen zu lassen.
Ein Stück die West Street hinauf erklangen Stimmen.
Einen Moment lang dachte ich, es könnte sich um einen Suchtrupp handeln, aber dann sah ich die klapprigen Boote, die in der Nähe des One World Trade Center zusammengekommen waren. Einige waren mit frischem Obst beladen, andere mit Büchern, Zeitschriften und allerlei anderem Krimskrams. Auf einem Boot konnte man Bier und Zigaretten kaufen. Von einem weiteren stiegen Rauchschwaden auf. Die alte Frau, die darin saß, grillte Kebab. Irgendjemand spielte Gitarre. Gesprächsfetzen und Gelächter drangen an meine Ohren.
Die Versuchung, hinüberzuschwimmen und irgendetwas von meinen wenigen verbliebenen Habseligkeiten gegen ein Frühstück einzutauschen, war groß. Vielleicht könnte ich von diesen Leuten sogar ein Boot bekommen. Doch der Tumult, der in der Nacht zuvor im Gebäude am Broadway Nummer 140 geherrscht hatte, musste wie das Jüngste Gericht geklungen haben. Sicher hatten diese Leute etwas davon mitbekommen und wären misstrauisch, wenn ich nun in ihrer Mitte auftauchen würde. Also entschied ich mich, aus der Ferne zuzusehen, wie dieser vergessene Teil der Menschheit an einem der unwirtlichsten Orte der Welt zusammenlebte.
Sie wirkten aufrichtig glücklich, und es machte mich froh, all die kleinen Gefälligkeiten zwischen diesen Leuten zu beobachten, die eigentlich nichts zu geben hatten.
Ich verbrachte den ganzen Tag im Wasser und arbeitete mich zur Südspitze von Manhattan vor, wobei ich mich bewusst vom Broadway fernhielt.
Ich kam nur langsam voran.
Vorsichtig hangelte ich mich von Block zu Block.
Als ich den FDR Drive Richtung Nordosten schwamm, flammten die ersten abendlichen Feuer in den Hochhäusern auf.
Schließlich stieg ich aus dem Wasser und ging die trockene Auffahrtsrampe zur Brooklyn Bridge hinauf.
Es war unheimlich still.
Niemand befand sich im Freien.
Ich lief über die leeren Fahrspuren. Am höchsten Punkt der Brücke – vierzig Meter über dem Wasser – erhaschte ich einen Blick auf den Umriss der Freiheitsstatue, der bedrohlich vor dem blutroten Abendhimmel aufragte.
Ich öffnete Karas Rucksack und zog einen Autoinjektor heraus. Er schien kaum etwas zu wiegen und machte auch sonst nicht viel her. Seltsam, dass so wenige von ihnen gereicht hätten, um die Evolution einer ganzen Spezies zu verändern.
Während ich das Werk meiner Schwester eine Ampulle nach der anderen in die dunklen Fluten des East River warf, kehrte dieser schreckliche Druck in meiner Brust zurück – der Klageschrei, der laut in die Welt hinausgebrüllt werden wollte.
War das der letzte Rest meiner Menschlichkeit, der verzweifelt ein Gefühl in mir zu wecken versuchte?
Ich hätte diese Emotion unterdrücken können, doch ich tat es nicht. Den Tod meiner Schwester nicht zu betrauern war eine Grenze, die ich auf keinen Fall überschreiten wollte.
Mir kamen die Tränen.
In Strömen.
Und ich ließ sie fließen.
Ich dachte an unsere achtzehn perfekten gemeinsamen Momente – und an unseren letzten, als sie vor ihrem Tod mein Gesicht berührt hatte.
Einen Moment lang fühlte ich mich wie der alte Logan und fragte mich, ob ich ihn irgendwie in den Mann integrieren könnte, zu dem ich geworden war.
Ich blickte zurück zum dunklen Südteil von Manhattan und dann zur funkelnden Skyline im Norden.
Als ich mich wieder in Bewegung setzte und auf die Lichter von Brooklyn zuging, rasten meine Gedanken. Und mit einem Mal kam mir ein kühner Einfall, der mich mit neuer Hoffnung erfüllte.
Wir waren eine monströse, umsichtige, egoistische, sensible, ehrgeizige, liebevolle, hasserfüllte und hoffnungsvolle Spezies. Wir waren beides: abgrundtief böse und unfassbar gutherzig. Und wir hatten unser Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft.
In einer Hinsicht hatte meine Schwester recht gehabt: Ich konnte nicht nichts tun.