Als das Landungsboot abhob, konnte Cally durch ein kleines Fenster ihr verwüstetes Dorf von oben sehen. Überall stiegen Rauchsäulen auf und kein Stein war auf dem anderen geblieben. Dutzende Leichen lagen zwischen den Trümmern. Sie konnte nur hoffen, dass einige ihrer Freunde es in den nahen Wald geschafft hatten und dem Massaker entgangen waren. Für sie selbst kam jede Hoffnung zu spät, ebenso wie für die drei kleinen Jungs und die beiden Mädchen in ihrem Alter. Die Jungen würde man mit Gewalt zu gefühllosen Schlächtern erziehen. Auf die beiden Mädchen wartete, ebenso wie auf sie selbst, ein Schicksal als Sklavin.
Durch das Geräusch der Triebwerke hindurch hörte sie ein Stöhnen. Ganz in ihrer Nähe war einer der Piraten heftig blutend zusammengebrochen. Eines der Projektilgeschosse hatte ihn am Hals getroffen und er würde verbluten, wenn nicht jemand etwas unternahm. Er war noch sehr jung, nicht viel älter als sie selbst, und er erinnerte Cally an ihren Bruder.
»Ich habe dich aus der Krankenstation kommen sehen«, knurrte ihr Entführer. »Hilf ihm, oder ich bringe dich hier und jetzt um!«
Genau genommen war sie keine richtige Ärztin, sondern nur als Krankenpflegerin in dem kleinen Dorflazarett ausgebildet worden. Ihre Mutter war die einzige Ärztin im Dorf gewesen und hatte sie schon frühzeitig in die Kunst des Heilens eingewiesen. Der Bandit, der immer noch ihren Arm umklammert hielt, stieß sie vorwärts, hin zu dem Verletzten, der ihrem Bruder so verblüffend ähnlich sah.
Cally kniete neben ihm und zog seine Hand von der Wunde. Es war nur ein Streifschuss, der allerdings die Halsschlagader verletzt hatte, was die starke Blutung erklärte. Cally riss sich einen Stoffstreifen vom Saum ihres Kleides und fertigte daraus einen Druckverband. Mit viel Glück gelang es ihr, die Blutung zu stoppen. Der junge Mann sah ihr in die Augen, versuchte zu lächeln und verlor das Bewusstsein.
»Zurück auf deinen Platz!«, herrschte ihr Entführer sie an, zog sie brutal auf die Füße und zwang sie in einer entlegenen Ecke des Beibootes in einen Sitz. »Du wirst mir gehören, Schätzchen«, fuhr er grinsend fort, »und wir werden sicher viel Spaß miteinander haben.«
Cally war den Tränen nahe und verfluchte ihr Schicksal. Fast wünschte sie sich, man hätte sie ebenfalls einfach umgebracht, so wie die älteren Frauen, die für die Piraten nicht mehr von Interesse gewesen waren. Aber sie hatte die Gene ihrer Mutter geerbt, was sie zu einer herausragenden Schönheit machte. Hochgewachsen, schlank, aber kräftig und mit langem, dunklem, seidigem Haar, entsprach sie in den Augen dieser widerwärtigen Banditen dem Idealbild einer Sklavin. Ihr ebenmäßiges Gesicht mit den strahlenden Augen und den vollen Lippen hatte schon so manchen Mann in ihrem Dorf betört. Sie hatte jedoch alle Avancen zurückgewiesen. Cally fühlte sich noch zu jung, um eine Familie zu gründen, und für eine belanglose Liaison war sie sich zu schade. Jetzt war sie in die Hände von Piraten gefallen, die sich um ihre Wünsche und Zukunftspläne nicht scheren würden. Ab sofort war sie nur noch eine Ware, die man verkaufen, gebrauchen und – wenn sie alt und nutzlos geworden war – einfach entsorgen würde. Sie wäre lieber tot gewesen, als diesem Schicksal ausgesetzt zu sein.
Das Beiboot dockte am Sternenschiff der Piraten an und die Gefangenen wurden unter dem Gejohle der Besatzungsmitglieder, die an Bord hatten bleiben müssen, in einen leeren Raum getrieben, bei dem es sich wohl um einen Lagerraum handelte. Es gab keine Liegen oder Stühle, Decken oder Kissen, sondern nur den blanken Metallboden und die nackten Metallwände. In einer Ecke stand ein Eimer, in den man seine Notdurft verrichten konnte, ohne die geringste Chance auf ein bisschen Privatsphäre. Die drei Jungs kauerten verschüchtert in einer Ecke und die drei jungen Frauen ließen sich in einer anderen Ecke nieder, sobald die Wachen die schwere Tür verschlossen und sie alleine gelassen hatten. Cally kannte die beiden Mädchen flüchtig und erinnerte sich an ihre Namen. Cindy, die Tochter des Händlers, hatte leise zu weinen begonnen, während Hanna, die Tochter eines Fischers, nur vor sich hin starrte. Cally nahm Cindy in den Arm und küsste sie auf die Stirn.
»Es wird sicher alles gut«, flüsterte sie wider besseres Wissen. »Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen.«
Das Schluchzen wurde nur noch lauter. Hanna wandte sich zu Cally um.
»Mach ihr doch nichts vor.« Ihre Stimme klang völlig leblos und resignierend. »Sie werden uns meistbietend versteigern und als Leibeigene halten. Es ist besser, wenn sie sich rechtzeitig damit abfindet.«
»Woher willst du das wissen«, fauchte Cally.
»Wir kennen doch alle die Nachrichten, die uns erreichten, bevor das Funkgerät ausfiel. Jeder weiß, was die Piraten mit ihren Gefangenen machen. Wir hatten nur Glück, dass sie unsere Welt bislang verschont haben. Jetzt sind halt wir dran.«
Cally ärgerte sich, dass Hanna ihr Schicksal so widerstandslos hinzunehmen schien.
»Ich werde mich nicht so einfach fügen«, erklärte sie. »Vielleicht bietet sich irgendwann eine Gelegenheit zu fliehen.«
Hannas Lachen war ohne jede Spur von Humor.
»Du träumst, Cally. Wir können uns nur wünschen, nicht an einen allzu widerwärtigen Kerl verkauft zu werden. Das ist in unserer Lage das Beste, auf das wir hoffen dürfen.«
Cindy schluchzte noch lauter und vergrub ihr Gesicht an Callys Schulter. Sie legte ihren Arm noch enger um die Kleine, die erst siebzehn war, soweit sie wusste. Vielleicht war die Hoffnung auf Flucht wirklich ein Hirngespinst, aber sie nahm sich vor, sich nicht ohne Widerstand zu einer willenlosen Sklavin machen zu lassen.