Es klopfte an der Tür. Cally schreckte auf und wusste im ersten Moment nicht, wo sie war. Sie musste eingeschlafen sein und ihr Kopf fühlte sich an, als sei er mit Spinnweben gefüllt. Dann fielen ihr die jüngsten Ereignisse wieder ein. Esteban Hernandez! Erneut lief ihr ein Schauer über den Rücken.
»Herein!«, rief sie und wunderte sich, dass Jane anklopfte, was sie bisher nie für nötig gehalten hatte.
Doch diesmal war es nicht Jane, stattdessen traten Clark und sein Vater ins Zimmer. Cally setzte sich auf und strich unbewusst ihr Kleid glatt.
»Kaum sind Sie ein paar Tage bei uns, schon machen Sie Ärger«, begann ein sichtlich wütender Vincent das Gespräch. »Wissen Sie eigentlich, welche Konsequenzen das haben kann?«
»Ich … ich habe gar nichts … gemacht«, stammelte Cally überrascht. Sie konnte nicht verstehen, was man ihr vorwarf.
»Zwei Tote! Das nennen Sie 'nichts gemacht' ?«, fauchte der ältere Mann. »Zwei tote Soldaten einer anderen Familie, und das nur wegen einer einfachen Sklavin! Es war schon schwierig genug, Anatoly Solchoi davon zu überzeugen, dass es kein Affront gegen ihn sein sollte, als ich seinen ersten Leutnant öffentlich düpiert habe. Er hat es gerade noch akzeptiert, dass ich für meinen Sohn unbedingt die Sklavin kaufen wollte, die ihm das Leben gerettet hat. Aber dieser Zwischenfall ist nicht so einfach aus der Welt zu schaffen.«
»Aber es war Jane …«
Wieder unterbrach er sie.
»Jane hat ihre Strafe bereits erhalten. Ich weiß nicht, welchen Narren sie an Ihnen gefressen hat, aber zwei Soldaten zu töten, um eine Sklavin zu schützen …« Er schüttelte den Kopf. »Sie musste wissen, dass ich das nicht dulden würde. Sie bleiben bis auf Weiteres in Ihrem Zimmer, haben Sie verstanden? Solchoi verlangt Ihren Kopf und ich bin nicht sicher, ob ich dies ablehnen kann.« Dann wandte er sich an seinen Sohn. »Sieh zu, dass sie die Situation versteht, in die sie uns alle gebracht hat. Sie untersteht deiner Verantwortung – bring sie zur Vernunft!«
Dann drehte er sich um und stürmte wütend aus dem Raum. Clark setzte sich an den Tisch und blickte Cally prüfend an.
»Vielleicht ist es meine Schuld. Ich hätte dir rechtzeitig die Spielregeln bei uns erklären müssen. Wir sind eine von drei Familien, die diese Station und die Flotte befehligen. Es ist eine fragile Allianz, und sie wurde nur geschlossen, um nicht von anderen Piratengruppen überrannt zu werden. Jede der drei Parteien befürchtet, dass sich die anderen beiden zusammenschließen könnten, um sie auszuschalten. Es ist ein ständiger Tanz auf der Rasierklinge.«
Clark stand auf und ging auf und ab, während er weitersprach.
»Es war schon riskant genug für meinen Vater, dich Esteban Hernandez wegzuschnappen. Er hat sich damit öffentlich gegen eine Führungspersönlichkeit des Solchoi-Clans gestellt. Anatoly Solchoi war zwar aufgebracht, hat aber grollend akzeptiert, dass es mein Wunsch war, die Frau, die mein Leben gerettet hat, zu besitzen. Dies hat mich, nebenbei bemerkt, nochmals fünfzehntausend Credits gekostet, die direkt an ihn geflossen sind. Aber die Geschichte von heute …« Er schüttelte den Kopf. »Jane hat zwei von Solchois Leuten umgebracht. Wegen dir! Wegen einer Sklavin! Das wird Solchoi nicht so einfach hinnehmen.«
»Was hätte ich … was hätte sie tun sollen?«, unterbrach Cally ihn.
»Du willst eine ehrliche Antwort? Nach Ansicht von Solchoi – die mein Vater in diesem Punkt übrigens teilt – hättest du die Augen schließen und alles über dich ergehen lassen müssen. Es wäre in zwei Minuten vorüber gewesen, Hernandez hätte seine Genugtuung gehabt und der Friede zwischen den Clans wäre gewahrt worden. In deren Augen bist du nur eine Sklavin, und auch wenn du mir gehörst, so würde mein Vater wegen der Vergewaltigung einer meiner Sklavinnen keinen Krieg vom Zaun brechen. Schon gar nicht, nachdem ich selbst kein Interesse an ihr gezeigt habe.«
Cally war schockiert. Erst jetzt begriff sie wirklich, wie gering der Wert einer Sklavin hier bemessen wurde. Sie genossen keinen Schutz und keine Wertschätzung. Sie war nicht mehr als ein sexuelles Spielzeug, das sich ein anderer ungestraft nehmen konnte, wenn der eigentliche Besitzer kein Interesse zeigte.
»Ist das auch deine Ansicht? Hätte ich …«, flüsterte sie.
Clark sah sie lange an. Dann setzte er sich neben sie auf das Bett und nahm ihre Hand.
»Nein, Cally! Von dem Moment an, als ich dein Gesicht über mir sah, während du meine Wunde verbunden hast, wusste ich, dass du etwas Besonderes bist. Nein, ich hätte nicht gewollt, dass du dich Hernandez einfach hingibst!«
»Aber«, flüsterte sie irritiert, »du wolltest mich nicht als … als deine …«
»Ich wollte dich nicht als meine Sklavin im Bett! Ich hoffte, du würdest eines Tages freiwillig zu mir kommen. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, gehst du mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich weiß, wie schwierig es für dich sein muss, Vertrauen zu jemandem zu gewinnen, der dabei war, als dein Dorf überfallen wurde. Aber glaube mir, ich war weder freiwillig dort noch bin ich ein Freund dieser Methoden. Ich verabscheue sie sogar! Ich war dabei, weil immer alle drei Familien einen vertrauenswürdigen Repräsentanten mitschicken, aus Angst, beim Verteilen der Beute übervorteilt zu werden. So war es schon immer. Mein Vater zwang mich, bei diesem Überfall mitzumachen. Es war das erste Mal, dass ich es miterleben musste. Zuvor hatte ich es immer abgelehnt. Es war abscheulich und widerlich.«
Cally war hin- und hergerissen. Einerseits konnte sie die Bilder ihres brennenden Dorfes und die Schreie ihrer Mutter nicht vergessen, andererseits wurde ihr bewusst, dass auch sie sich vom ersten Moment an zu diesem Mann hingezogen gefühlt hatte. Aber konnte sie ihm vertrauen? Konnte es stimmen, dass er nur widerwillig dabei gewesen war und solche barbarischen Akte verurteilte? War es möglich, dass er die Methoden der Piraten verabscheute und tatsächlich gegen seinen Willen an Bord dieses Schiffes gewesen war?
Seine Hand brannte in der ihren. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte dergleichen noch nie gefühlt und ihr schwirrten wirre Gedanken durch den Kopf. Sie sah ihm in die Augen. Er schaute sie ruhig an und wandte den Blick nicht ab.
»Was … was soll jetzt mit mir geschehen?«, flüsterte sie.
» Solchoi verlangt, dich zum Ausgleich für erlittenes Unrecht und den Verlust seiner beiden Männer an Hernandez zu übergeben«, erklärte er ihr. »Er verlangt dies als Entschädigung und zur Wiedergutmachung. Damit will er in erster Linie mich treffen. Ich werde es nicht zulassen. Das verspreche ich dir!«
Immer noch sahen sich die beiden in die Augen. Keiner konnte oder wollte den Blick abwenden. Clark nahm eine Hand und strich Cally liebevoll über die Wange. Mit der anderen hielt er nach wie vor ihre Hand umfangen. Cally war verwirrt und verärgert zugleich. Sie durfte sich nicht in jemanden verlieben, der zumindest eine Mitschuld am Überfall auf ihr Dorf trug. Und somit auch am Tod ihrer Familie und all ihrer Freunde. Und doch – ihr Herz schlug schneller, wenn sie Clark in die Augen sah. Insgeheim verfluchte sie sich für ihre erwachenden Gefühle. Doch sie konnte sie nicht leugnen oder gar verdrängen.
»Ich habe mich Hals über Kopf in dich verliebt, Cally!«, sagte er. »Ich wusste es in dem Moment, als ich dich zum ersten Mal sah. Ich werde niemandem erlauben, dich mir wegzunehmen. Solchoi nicht, Hernandez nicht und auch nicht meinem Vater. Ich werde dich mit allen Mitteln beschützen, die mir zur Verfügung stehen!«