»Wie geht es nun weiter?«
Cally hielt immer noch Clarks Hand in der ihren. Sie war völlig entspannt und trotz ihrer verzweifelten Situation verspürte sie ein seltsames Glücksgefühl, was sie selbst am meisten überraschte. Meine Familie wurde ermordet, ich wurde versklavt und habe mich gegen jede Vernunft in einen der Piraten verliebt. Was ist nur los mit mir , fragte sie sich. Bin ich noch normal?
»Mein Vater wird mir zuliebe versuchen, Solchois Forderung abzulehnen. Er wird stattdessen erneut Geld anbieten. Ich bezweifele aber, ob das diesmal ausreichen wird. Zwei seiner Soldaten wurden getötet und einer seiner Leutnants erneut gedemütigt – von einer alten Frau und einer Sklavin dazu. Es ist für ihn eine Frage der Ehre und so etwas kann nicht mit Geld abgegolten werden. Würde er sich darauf einlassen, wäre sein Ansehen bei seinen Männern gefährdet. Das wird er nicht zulassen. Er will dich!«
»Was will er mit mir machen?«
»Entweder wird er dich Hernandez und seinen Kumpanen überlassen – was dann mit dir geschieht, darüber möchte ich nicht nachdenken. Auf diese Weise würde er sich solidarisch mit seinen Leuten zeigen. Oder er richtet dich öffentlich hin – dadurch könnte er seine Stärke demonstrieren. Beides würde dazu dienen, seine Position zu festigen, und beides werde ich keinesfalls zulassen!«
Cally war klar, in welcher Lage sie sich befand. Ihr Leben war in mehrfacher Hinsicht in Gefahr. Nur Clark konnte sie jetzt noch retten. Dann fiel ihr eine weitere Frage ein.
»Jane! Wieso hat sie das getan? Sie musste doch wissen, was daraus folgen würde. Und wieso konnte sie das überhaupt tun? Sie verwandelte sich plötzlich in eine tödliche Furie. Ich habe so etwas noch nie gesehen, und bei einer Frau ihres Alters hätte ich es schlicht für unmöglich gehalten.«
»Die gute alte Jane«, lachte Clark. »Sie steckt wirklich voller Überraschungen, wenn man sie nicht kennt. Jane liebt mich! Keine Bange«, fügte er lachend hinzu, als er Callys fragenden Gesichtsausdruck bemerkte. »Nicht diese Art von Liebe. Nein, Jane hat mich großgezogen. Meine Mutter habe ich nie kennengelernt und Jane ist für mich das, was einer Mutter am nächsten kommt. Außerdem mag sie dich. Und, was noch viel wichtiger ist, sie weiß, was ich für dich empfinde. Sie liest in mir wie in einem offenen Buch und wusste sofort, was mit mir los ist. Sie würde niemals zulassen, dass man dir – und vor allem mir – ein Leid zufügt.«
»Aber wie sie mit den drei Kerlen fertig geworden ist …« Cally schüttelte fassungslos den Kopf.
»Die wenigsten kennen Janes Vergangenheit. Für die meisten ist sie nur eine alte Frau. Ein Faktotum. Ein Maskottchen meiner Familie. Schon immer da gewesen und immer unauffällig im Hintergrund. Niemand, dem man große Beachtung schenken würde. Genau dies ist ihre Stärke und ihr Geheimnis. Jane ist nicht nur wie eine Mutter für mich, sie war auch schon immer meine Leibwache. In jungen Jahren gehörte sie einem geheimen Elitekommando der Föderation an. Sie beherrscht mehrere Nahkampfarten nahezu perfekt und sie ist eine Meisterschützin. Natürlich haben auch ihr die Jahre zugesetzt, aber um ein paar primitive Dumpfbacken außer Gefecht zu setzen, reicht es immer noch.«
»Was wird mit ihr geschehen?«
»Solchoi weiß, dass wir sie ihm niemals überlassen würden. Dies zu fordern wäre ein Schritt zu viel. Aber er verlangt, dass wir sie aus Freistatt verbannen.«
»Wird dein Vater auf all diese Forderungen eingehen?«, fragte Cally mit banger Miene.
»Was dich betrifft? Ich hoffe nicht, denn dann müsste ich mich gegen ihn stellen. Jane hingegen wird er fortschicken. Es gibt eine andere Gruppe Piraten, die weit entfernt von unserem Raumsektor ihr Revier hat. Wir kommen uns deshalb nicht ins Gehege. Mein Vater kennt deren Kommandeur sehr gut und wird Jane dorthin senden. Er weiß über sie Bescheid und wird froh sein, sie in seine Dienste nehmen zu können.«
»Wie wird Jane dazu stehen?«
»Sie wird alles tun, um die Familie zu beschützen, besonders da sie sehr genau weiß, dass ihre Handlung unüberlegt und gefährlich für uns alle war. Aber ich bin sehr froh, dass sie getan hat, was sie getan hat.«
Clark beugte sich über Cally und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Es geschah zu plötzlich, als dass sich Cally hätte wehren können – falls sie dies überhaupt gewollt hätte.
»Ich würde gerne noch länger bei dir bleiben, aber wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn wir eine Lösung finden wollen, die dich schützt. Ich muss mit meinem Vater darüber reden, welche Möglichkeiten es gibt. Ich werde ihn unmissverständlich wissen lassen, dass ich dich keinesfalls Solchoi überlassen werde. Die Zeit drängt und ich muss leider gehen.«
Widerstrebend nickte Cally, aber sie wusste, dass er recht hatte. Es wäre töricht gewesen, sich ihren erwachenden Gefühlen hinzugeben, so lange diese Drohung über ihrem Kopf schwebte. Wenn jemand einen Ausweg finden konnte, dann war es Clark.
Sie lächelte ihn an.
»Ich mag dich ebenfalls! Mehr als ich unter diesen Umständen sollte«, setzte sie leise hinzu.
»Ich werde zunächst dafür sorgen, dass dir nichts geschieht«, versprach er. »Und dann haben wir alle Zeit der Welt, dort weiterzumachen, wo wir soeben vielleicht begonnen haben.«
Clark drehte sich um und verließ Callys Zimmer. Sie setzte sich auf ihr Bett und überlegte, ob sie gerade dabei war, die größte Dummheit ihres Lebens zu begehen, oder ob sie womöglich mitten im Unheil das große Glück gefunden hatte.